Pater

Der 29. Juli 1941 im KZ Auschwitz. Die Sirenen heulen schrill. Die hart schuftenden Häftlinge horchen auf. Die Deutschen ordnen einen Sonderappell an. Alle Arbeitskommandos werden akribisch durchgezählt. Fazit: Ein Insasse vom Block 14A fehlt. Flucht aus dem KZ. Für die Lagerordnung ein klarer Fall. Für den Entflohenen müssen als Vergeltungsmaßnahme zehn Häftlinge mit dem Tod büßen.

Die Häftlinge des Blocks 14A stehen aufgereiht den ganzen Tag und die ganze Nacht still. Am darauffolgenden Morgen erscheint vor den wegen der nächtlichen Kälte durchgefrorenen Männern der Lagerführer Karl Fritzsch. Er geht langsam durch die Reihen, fixiert alle mit den Augen, deutet ab und zu mit der Hand auf einen Unglücklichen hin und sagt: »Du!« So sortiert er zehn Häftlinge für den Hungertod im berüchtigten »Hungerbunker« des Blocks 11 aus. Einer von ihnen ist Franciszek Gajowniczek, Sergeant der polnischen Armee, Teilnehmer des Septemberfeldzuges 1939 und aktives Mitglied der polnischen Untergrundbewegung.

Ich war vollkommen fassungslos. Ich brach in lautes Wehklagen um meine Frau und meine Kinder aus, erinnert er sich Jahre danach. Bis zum Kriegsende blieb der 1995 verstorbene Gajowniczek KZ-Insasse, zuletzt im KZ Sachsenhausen, wohin er im Oktober 1944 verlegt worden war.

Plötzlich kommt Bewegung in die Gefangenen. Einer von ihnen verlässt seine Reihe und bahnt sich den Weg nach vorn. Ein unerhörter, sonst von den Deutschen im Lager mit der sofortigen Erschießung bestrafter Frevel. Aber diesmal – wie durch ein Wunder – geschieht nichts. Der Franziskaner Maximilian Kolbe steht nun von Angesicht zu Angesicht
Fritzsch gegenüber und bittet diesen, den Platz von Gajowniczek einnehmen zu dürfen.

Was will dieses polnische Schwein?, fragt der wütende SS-Hauptsturmführer seinen Assistenten.
Ich möchte anstelle dieses Gefangenen sterben, erwidert Kolbe und weist auf Gajowniczek hin.
Wer bist du?
Ein polnischer katholischer Priester.
Warum wollen Sie für ihn sterben?, fragt der Lagerführer nach. Auf einmal siezt er den Häftling, eine in deutschen Konzentrationslagern undenkbare Sache.
Er hat Frau und Kinder.
Bitte gewährt!

Die zehn Männer werden zum »Hungerbunker« abgeführt. Kolbe geht als Letzter und unterstützt dabei einen Leidensgenossen, der schwach auf den Beinen ist. Alle zehn werden nackt in eine kleine Zelle eingepfercht, um dort langsam zu verhungern. Nach einigen Tagen wird die Bunkertür aufgemacht, um die Leichen zu beseitigen. Es stellt sich heraus, dass Pater Kolbe noch am Leben ist. Seinem Leben wird durch eine Phenolspritze, die der Funktionshäftling Hans Bock ihm injiziert, am 14. August 1941 endgültig ein Ende gemacht. Am nächsten Tag wird der Körper im Krematorium verbrannt.

Die Aufopferung des polnischen Priesters zeigt, wie stark Nächstenliebe sein kann – selbst an dem von einer schrecklichen Schändung der menschlichen Würde so geprägten Ort wie Auschwitz. 1971 wurde der Ordensbruder durch Papst Paul VI. seliggesprochen. Bei der Heiligsprechung am 10. Oktober 1982 durch den polnischen Papst Johannes Paul II., bei der auch Franciszek Gajowniczek zugegen war, wurde der Märtyrertod des Franziskaners anerkannt. Der freiwillige Tod von Maximilian Kolbe war ein Siegesakt. Die Menschenliebe errang einen Sieg dort, wo Hass und Menschenverachtung zu triumphieren schienen, hieß es in der Papstpredigt.

Quelle: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen