Mein Westfalen

Mein Westfalen

Es war ein sonniger Spätherbsttag des Jahres 1844 als ein 47- jähriger Mann auf der Reise
von Paris nach Hamburg bei Hagen mit der Postkutsche ins Westfälische kam.
Diesen Moment dichtete er zwei Jahre später in seinem Werk „Deutschland.
Ein Wintermärchen“ nach und schrieb: Gott Grüß Euch, Ihr lieben Westfalen ... und schenk Euren Söhnen ein leichtes Examen, Amen“.

Das war ein Düsseldorfer, der so über die Westfalen schrieb, Heinrich Heine!
Dieses von Heinrich Heine gegebene Bild der Westfalen hatte eine Geschichte,
die in der politischen und kulturellen Historie Westfalens das angeblich
Rückständige oder vielleicht auch zu kurz gekommene durchschimmern
lässt.

Die älteste historische Erinnerung Westfalens finden wir in den fränkischen
Reichsanalen von 775.

Im 9. Jahrhundert begann dann die Bezeichnung Westfalen, sich auch auf das
Gebiet der Engern und Ostfalen auszudehnen. Es umfasste das ganze Land
zwischen Rhein und Weser.

Dann 200 Jahre später kommt in der Spannung der Italien- Politik Friedrich I.,
Barbarossas, für einen Augenblick der Name des Herzogtums Westfalen aus
dem Unbeachtetsein in den Horizont des geschichtlichen Interesses. Dem
geht eine dramatische Situation voraus, die ich für eine der Schlüsselszenen
im politischen Geschick Westfalens halte.

In Chiavenna nördlich des Comer Sees, dort wo die Straßen vom Splügenund
Majolapass zusammenlaufen, hatte Kaiser Friedrich 1174 sein Heer und
die großen des Reiches um sich versammelt. Darunter auch den mächtigen
Herzog von Sachsen und Bayern, Heinrich den Löwen, dessen Hilfe er unbedingt
für den beginnenden Feldzug gegen den Papst und die lombardischen
Städte brauchte, der sich aber verweigerte. Da tat der romantische und emotionale
Staufer einen Kniefalls vor seinem Vasallen, um ihn umzustimmen.

Alles schwieg betreten, bis die Kaiserin zu ihrem Mann ging und ihn ansprach:
„Lieber Herr, steh auf, Gott wird dir helfen, wenn du einst dieses
Tages und dieses Hochmuts gedenken wirst.“ Heinrich der Löwe, der sich
nicht umstimmen ließ, weil der Kaiser seiner Gegenforderung nicht entsprechen
konnte, ritt von dannen und Friedrich der I. verlor die anschließende
Schlacht von Legnano. Aber schon zwei Jahre später 1180 hatte er in
Deutschland aufgeräumt und Heinrich der Löwe musste sich unterwerfen.
Dabei verlor er das Herzogtum Westfalen an den kölnischen Kurfürsten und
das Herzogtum Bayern ging an die Wittelsbacher, die dort ununterbrochen
von 1280 bis 1918 regierten. In Westfalen waren schon vorher die Bistümer
Osnabrück und Münster zu großer politischer Unabhängigkeit erstarkt. Was
der Kölner Kurfürst jetzt bekam, war im wesentlichen das südliche Westfalen
mit den Städten Arnsberg und Soest.

So hat die Geschichte Westfalen schon früh geteilt und als Stiefkind behandelt
und ihm das Glück der politischen Einheit versagt. Aber Stiefkinder
müssen sich wehren und behaupten und entwickeln deshalb oft frühzeitig
eine besondere Vitalität, so auch das Westfalentum. Das westfälische Selbst bewusstsein
erstarkte als bleibende Gemeinsamkeit in einer Fülle regionaler,
politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ereignisse.

Unabhängig von den zerrissenen politischen Herrschaftsverhältnissen, setzte
es sich mit überraschender Zähigkeit immer wieder durch. In allen Quartieren
der Hanse, ob in Brügge, London oder Nowgorod existierten selbstbewusste
westfälische Fraktionen, unabhängig von der heimischen politischen Situation,
ob es sich um eine freie Reichsstadt wie Dortmund handelte oder von den
Fürsten bzw. Bischöfen abhängige Städte oder Bistümer. Dieser Unterschied
störte nicht nur nicht, sondern war zusammen mit der schwachen Reichsgewalt
gerade der Grund, als das Einigende das Westfalentum herauszustellen.
Ähnliches zeigt die Veme, jenes typisch westfälische Freigericht, das unabhängig
von der Territorialgewalt entstand. Die Veme zeigt zweierlei. Einmal
die große Energie, die von den westfälischen Freigrafen und Schöffen Ausging, immer da,
wo das überkommene Recht und seine Durchsetzung im ganzen Reich nicht ausreichte,
für Recht und Ordnung zu sorgen und zwar
zunächst nur auf handfester, handhafter Tat. „Mit blinkendem Scheine“, wie
es in den Quellen heißt. Zum anderen fällt die überhaupt nicht eingrenzte
örtliche Zuständigkeit auf, möglicherweise eine Eigenart des sächsischen
Rechts. Denn auch in Amerika, dessen Recht weitgehend aus dem angelsächsischen
common law kommt, erleben wir, dass plötzlich ein Richter – sagen
wir aus Cincinnatti – über einen Schadensanspruch zu Lasten irgendeines Beklagten
irgendwo in der Welt urteilt.


Die Veme bleibt ein Ausbruch westfälischer Energie, wie sie schon in der
Hanse und ihr vorhergehend und gleichzeitig in der Besiedlung des ostdeutschen
Raumes zu erkennen ist. Die Stadtrechte von Soest und Dortmund
lieferten die früheitliche Verfassung für die Städte am Ostseerand. Im
baltischen Adel wimmelte es von westfälischen Namen. So führte ein Heinrich
von Plettenberg als Hochmeister des preußischen Ordens eine erfolgreiche
Verteidigung Livlands gegen Russen und Polen. Die Dönhoffs in Ostpreußen
sind eines der bekannten westfälischen Geschlechter.

Wenn ich die Frage gestellt habe, wie hat es die Geschichte mit den Westfalen
gemeint, ist das auch die Frage, wie sich das Selbstbewusstsein des Landes
in der Literatur der Zeit widerspiegelt. Selbstlob ist nicht der Westfalen Sache,
aber immer dann, wenn ein als unberechtigt empfundener Angriff deutlich
wurde, gab es eine kräftige Antwort. So auch auf die wenig glanzvolle
Erwähnung Westfalens in den Schriften italienischer Humanisten, vor allem
des Aeneus Silvius, übrigens der spätere Papst Eneo Silvio Piccolomini, der in
einer viel gelesenen Europabeschreibung Westfalen sehr abwertend und als
eine „regio frigido“ also eine ziemlich kalte Gegend schilderte. Panemnigrum,
schwarzes Brot, äßen sie und tränken dabei noch Bier. Dem späteren
Papst hätte also auf einer Reinoldiveranstaltung das dunkle Brot auch an das
gute Bier wohl nicht geschmeckt.


Daraufhin stand 1474 ein wortmächtiger Mann aus Laer im Kreise Steinfurt
auf mit seinem großartigen achtbändigen Werk: „de laude antiquae Saxoniae
nunc Westfaliae dicta„ zum Lobe des alten Sachsenlandes, jetzt Westfalen genannt.
Werner Rolevinck, dieser Bauernsohn des Münsterlandes lebte als
Karthäusermönch in Köln und wollte die Ehre seines Heimatlandes retten. Um
seinen Ruhm der Welt zu künden, ruft er das westfälische Selbstgefühl zu
kraftvoller Sprache auf. Er berichtet von dem Reichtum an Bodenschätzen,
den Erzeugnissen des Ackerbaus, der Viehzucht und des Gewerbefleißes, die
die Grundbelage dafür gegeben hätten, dass sich der westfälische Ausfuhr handel
weit über die Meere ausdehne.

Das war eine Stimme des versinkenden Mittelalters.
50 Jahre später mit dem Beginn der Neuzeit erleben wir eine weitere Renaissance
in der Literatur. Die vom römischen Schriftsteller Tacitus genannten
positiven Eigenschaften der Germanen wurden jetzt von den Humanisten
den Westfalen zugeordnet. Ulrich von Hutten schrieb 1520 an den sächsischen
Kurfürsten Friedrich den Weisen: „Wie es bei Tacitus heiße, hätten die
Westfalen sich schon einmal als Sieger über die Weltmacht Rom mit ihrem
Anführer Arminius gezeigt“.

Sogar bis nach England trug der berühmte Erasmus von Rotterdam in mehreren
Briefen an Thomas Morus 1521 das Lob der Westfalen, „das viele Männer
vom höchsten Geist und keineswegs alltäglicher Gelehrsamkeit hervorgebracht
habe, durch seine Treue und Sittenreinheit, durch seine schlichte
Klugheit und wohlbedachte Einfachheit hervorsteche“.

Das war für 150 Jahre das letzte Lob aus berufenem Munde. Mit dem Untergang
der Hanse gingen auch die Blüte des Landes und der Wohlstand der
westfälischen Städte dahin. Der Handel stockte, der Verkehr erlahmte und auf
allen Gebieten des materiellen und geistigen Lebens trat ein Stillstand ein.
Reisende durch das Land schilderten Westfalen als das Boötien Deutschlands.
Das war bei den alten Griechen die rückständigste Provinz.

Noch Voltaire teilte dieses Westfalenbild. Der große französische Philosoph
folgte 1744 einer Einladung des Preußen- Königs Friedrich II. und reiste von
Compiégne nach Potsdam. Wie es das Unglück wollte, saß er in Brackwede
bei Bielefeld fest. Ob die Kutsche umgefallen oder ähnliches passiert war,
jedenfalls zogen ihn die westfälischen Bauern aus dem Dreck und konnten sich
vor Lachen nicht halten, als sie den überaus eleganten Franzosen mit
Spitzenjabos an den Ärmeln und seidenen Pluderhosen über den Knien, mit
verrutschter Perücke auf seinen Schnallenschuhen schimpfend herum
springen sahen. Das hat ihnen der eitle Voltaire nie vergessen. Sein Bericht
bei seinem Gönner Friedrich II. und vor allem sein in Europa viel gelesener
Roman mit dem Titel „Candide“ zeigt in der Hauptfigur einen Westfalen, der
zwar eine Fülle fantastischer Abenteuer in der ganzen Welt zu bestehen hat,
der sich aber durch großes Ungeschick und Tölpelhaftigkeit auszeichnet und
nur durch unvorstellbares Glück immer wieder weiter kommt. Dazu kam
dann noch Voltaires Reiseschilderung, dass die Menschen in Westfalen mit
den Tieren unter einem Dach lebten und wie er schreibt: „Schwarz glänzende
Steine als Nahrung zu sich nähmen“. Sein Bericht von den Pumpernickelessern
hat bei Friedrich II. einen verheerenden Einfluss auf dessen und
auch der nachfolgenden preußischen Könige Vorstellung von den Westfalen
gehabt. Da half es auch nicht, dass in Osnabrück mit Justus Möser ein glänzender
Staatsmann und Historiker aufstand und Westfalen verteidigte. Das
Stift Osnabrück, das er als Kern Westfalens ansah, habe mehr Einwohner pro
qm als Frankreich und nütze sein Ackerland viel ertragreicher und er
schildert die Lebensweise der Westfalen als arbeitsam, wahrhaftig, gesund,
unverdorben und vernünftig.


So gut wie gar keine Beiträge lieferte der westfälische Adel. Er blieb
traditions- und standesgemäß am Liebsten unter sich und die Bewahrung

seiner Privilegien war sein Hauptanliegen. Annette von Droste- Hülshoff war
die leuchtende Ausnahme und gleichzeitig vermitteln ihre hinterlassenen

Briefe bleibende Eindrücke vom geringen literarischen Bildungsstand des
Adels. Die eigene Familie nahm kritischen Einfluss auf ihr Schaffen und ihr
Bruder als Familienhaupt entschied mit darüber, ob und wo die Droste publizieren durfte.
Wie Annette selbst berichtet, erklärte ihr eigener Vetter
Ferdinand von Galen ihre erste Gedichtsausgabe für reinen Plunder, für
Unverständlich und konfus und er könne nicht begreifen, wie eine scheinbar
Vernünftige Person, solches Zeug habe schreiben können.
Allgemein blieb so das schöngeistige Leben in der westfälischen Metropole
Münster hinter dem anderen deutschen Städte zurück. Die einzige bedeutende
Zeitung in Westfalen war der Westfälische Merkur, der 1821 von den
Buchhändlern Coppenrath in Münster gegründet worden war. Aber während
es die Kölnische Zeitung 1837 auf eine Auflage von 9.000 Exemplaren brachte,
kam der Westfälische Merkur gerade auf 1.600 Exemplare. Die mangelnde
Einheit des Landes und die Zerrissenheit in Konfessionsfragen verhinderte bis
zum Ausgang des 18. Jahrhunderts das Entstehen einer kräftigen Publizitätswelt,
die das ganze Land umfasst hätte.

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erschütterten dann die
Französischen Revolutionsheere und Napoleon die bestehende Ordnung in Europa
und in Deutschland und darin auch Westfalen. Der Reichsdeputationshauptschluss
von 1803 löste Westfalen noch weiter auseinanderstrebend auf. Das
säkularisierte Bistum Münster kam an Preußen, Osnabrück nach Hannover,
Dortmund verlor die Reichsfreiheit und wanderte zu Hessen- Nassau und der
Rest des Herzogtums Westfalen, das Sauerland kam an die Herzöge von
Hessen- Darmstadt.

Wie ein historisches Irrlicht erschien dann plötzlich von 1807 bis 1814 ein
Königreich Westfalen auf der Landkarte, das der Bruder Napoleons, Jerome
Bonaparte, von Kassel aus regierte, nur dass dieses Königreich mit Westfalen
kaum etwas zu tun hatte. Es bestand zu 90 % aus hessischen, hannoverschen
und braunschweigischen Gebieten. Nur eins zeigte das Auftauchen dieses
merkwürdigen Königreichs. Der Begriff Westfalen hatte im Bewusstsein der
Zeitgenossen so viel Gewicht, dass er als Grundlage und Name für ein Königreich
tragfähig erschien.

Der Untergang Napoleons und der Wiener- Kongress brachte den Preußen
dann die beiden Westprovinzen Rheinland und Westfalen. Hier haben wir zum
ersten Mal die Zusammenfassung des größten Teils des alten westfälischen
Stammesraums, aber ohne Osnabrück dessen führende Männer sich doch
stets als Westfalen artikuliert hatten und auch ohne das immer als westfälisch
angesehene Niederstift Münster mit den Ämtern Vechta und Cloppenburg.

Essen wurde der Rheinprovinz zugesprochen, obwohl es auch zum
westfälischen Stammesgebiet gehörte. Die Essener sprachen ein westfälisches
Platt und erst westlich von Essen halbwegs nach Mühlheim schwingt
das Westfälische in den rheinischen Dialekt über.

Doch das Herz der preußischen Könige schlug nicht für die neu erworbene
Provinz. Schon 100 Jahre früher hatte der Vorgänger Friedrichs des Großen,
Friedrich Wilhelm der I., in seinem politischen Testament dem westfälischen
Adel jegliche Begabung abgesprochen. Er schreibt: „Was Kleve und Grafschaft
Mark ist, sein die Vasallen dumme Ochsen und malliceus wie der Teufel. Die
Nation (damit meint er die Westfalen) ist sehr intrigrant und sehr falsch dabei
und saufen wie die Bester, mehr wissen sie nicht.“

Ähnliches finden wir bei Friedrich dem Großen. Das von seiner aufgeklärten
und zynischen Geisteswelt keine Brücke zu den schwerblütigen, frommen
Westfalen bestehen konnte, möchte ich Ihnen an zwei Positionen deutlich
machen:

Einmal die wie immer mit einem Hauch von Melancholie dichtende Westfälin
Annette mit ihrem „Schaurig ist es über das Moor zu gehen, wenn das Röhricht
knistert im Rauche“ oder:

„Kennst du die Blassen im Heideland,
mit blonden flächsenen Haaren,
mit Augen so hell wie am Weiersrand,
die Blitze der Wellen fahren“

Und dagegen Friedrich II. mit seinem Zynismus der in seinen Marginalien auf
dem Rand der Akten landete. Als ihm sein Wiener Gesandter nach der Teilung Polens
zwischen Russland, Preußen und Österreich vom schlechten Gewissen
der frommen Maria Theresia berichtete, schrieb er auf den Rand: „sie weint
aber sie nimmt“

Als ihm eine protestantische Gemeinde schrieb, sie möchte einen anderen
Pfarrer haben, denn der jetzige glaube nicht an die Auferstehung des
Fleisches am jüngsten Tage, schrieb der König nur an den Rand:

1) Der Pfarrer bleibt.

2) Wenn er am jüngsten Tage nicht aufstehen will, kann er ruhig liegen bleiben.

Als ihm ein Westfale zu einer Ratsstelle empfohlen wurde, schrieb er nur an
den Rand: „dieser kann es nicht werden, denn die Westfalen haben kein
Genie“.

Dieses negative Image änderte sich erst, als der Freiherr Ludwig Vincke, der
zurückgezogen auf seinem Gut in Ickern bei Hamm lebte, zunächst zum
Generalkommissar für die gesamten neuen Westgebiete und später zum
Oberpräsidenten für die neue Provinz Westfalen bestellt wurde. Er hatte eine
Riesenaufgabe, hier eine geordnete Verwaltung aufzuziehen und tat dies mit
größtem Erfolg.

Dabei waren die regionalen Vorstellungen für eine einheitliche Provinz
Westfalen bei Ludwig Vincke wesentlich umfassender. Zwar gewann er 1817
das Siegener Gebiet, das vorher nassauisch-oranisch war, hinzu, aber um das
große reiche Osnabrück kämpfte er vergebens. Die Stadt ging endgültig an
Hannover. Hier haben wir es wieder einmal mit einer historischen Weggabelung
zu tun, in dem das Westfalentum den Kürzeren zog. Mit Osnabrück und
dem Niederstift Münster, mit Vechta und Cloppenburg, wäre Westfalen Kraft
seiner schieren Größe sicher ein selbständiges Land geblieben und nicht wie
heute in Nordrhein Westfalen hinter dem Bindestrich gelandet. Dasselbe gilt
für das eigentlich westfälische Essen.

Die Einstellung Preußens zur neuen Provinz gibt eine Verordnung zur Personalpolitik
von 1815 zu erkennen. Darin heißt es, „Das neben kundigen Offizianten– also
alten preußischen Beamten – vorzüglich auch „Eingeborene“
angestellt werden sollten, welche geeignet seien, die preußische Regierung
beliebt zu machen. Das Wort Eingeborene hatte damals durchaus den gleichen
kolonial- verfremdenden Akzent wie heute und man bedenke, bei aller
Integration der Provinz in den preußischen Staat waren von den neun
Oberpräsidenten der Provinz von 1815 bis 1919 nur zwei aus Westfalen
stammend.

So sehr die in der Industrialisierung aufblühende Provinz zum Steueraufkommen
Gesamt- Preußens beitrug, so wenig wurde davon die Kultuspolitik
Preußens beeinflusst. Die katholischen Universitäten in Münster und
Paderborn und die protestantische hohe Schule in Burgsteinfurt wurden von
den Preußen aufgehoben.

Der Kaiser Wilhelm zugeschriebene Satz: „Im Ruhrgebiet - und das war ja
zum erheblichen Teil westfälisch – keine Kasernen und keine Universitäten“,
ist zwar historisch nie nachgewiesen worden. Er spiegelt aber die kulturelle
Vernachlässigung Westfalens wieder. Die 1898 einsetzenden und in den
20er Jahren noch einmal wiederholten Bemühungen der Industrie- und
Handelskammer zu Dortmund, um eine technische Hochschule, wurde auch
1922 noch einmal im Hinblick auf Aachen abgelehnt, weil nach dem verlorenen
Krieg der Aachener Raum als Grenzraum anzusehen und zu schützen
sei.

Ähnliches galt für die Verkehrspolitik. Beim Aufkommen der Eisenbahnen in
Westfalen kamen die Anregungen und auch die Finanzierungen für die Köln
Mindener und für die Märkische Eisenbahn aus dem Raum selbst. Preußens
Hauptstadt Berlin, gleichzeitig Reichshauptstadt, hatte schon vor dem 1.
Weltkrieg ein hochmodernes S- und U- Bahn- Netz, während im Ruhrgebiet,
eigentlich ein ähnlich geballtes Siedlungsgebiet wie Berlin, und wo das Geld
verdient wurde, nichts ähnliches geschah.

Wenig im Sinn mit den Westfalen hatte der letzte preußische König und
Kaiser Wilhelm II. Die Hast mit der er den Besuch 1899 bei der Hafeneröffnung
in Dortmund absolvierte war fast eine Beleidigung für die Honorationen
und die Bürger der Stadt, die ihm einen solch begeisterten Empfang geboten
hatten. Schroff und nicht mit einem Hauch von fürsorglichem Empfinden, so
auch 1899 der Empfang der Delegation der westfälischen streikenden Bergleute
durch den Kaiser, der ihre Anliegen ungeduldig anhörte und denen er
mit Armee und Polizei drohte, wenn sie ihre Arbeit nicht wieder aufnähmen.
Da war es ein Balsam für die Seelen der 3.000 zu Bismarcks 85. Geburtstag
erschienenen gratulierenden Westfalen, als ihnen der alte Kanzler ein großes
Kompliment machte. „Er sei überzeugt davon, dass Hermann der Cherusker,
der Retter Germaniens, den Dialekt Ihrer Heimat gesprochen hätte.“ Nun,
Arminius im westfälischen Platt seinen Angriff kommandierend, ist zwar ein
nettes Kompliment, aber bei den vielen Stammesverschiebungen in den
folgenden Jahrhunderten doch etwas zweifelhaft.

Bis zum Untergang Preußens 1932 blieb die Provinz gut verwaltet aber weiterhin
vernachlässigt durch die fehlende Ansiedlung von wissenschaftlichen
Instituten oder gar Universitäten.

Was den Bestand des Westfalentums heute innerhalb des 1946 geschaffenen
Landes Nordrhein- Westfalen angeht, haben wir für ein endgültiges Urteil
noch keine historische Distanz, aber wir haben einige Signale, die unsere
Aufmerksamkeit verlangen.

Obwohl es nach Einwohnerzahl und Fläche größer ist als zwei Drittel unserer
Bundesländer hat es die Geschichte nicht gewollt, dass wir ein selbständiges
Land haben. Wir haben in der früheren Provinzialhauptstadt Münster nur
noch Reste der alten Provinzverwaltung, aber an deren Spitze haben gerade
aus Dortmund kommende Persönlichkeiten, wie der erste Landeshauptmann
Salzmann oder die Landesdirektoren Manfred Scholle und Wolfgang Schäfer,
die eigenständige Kultur unseres Landes mit den zur Verfügung bleibenden

Mitteln zäh verteidigt.
Dazu kommt die sehr aktive von großzügiger privater Hand eingerichtete
Westfalenstiftung.
Gleichwohl hat sich in der Benachteiligung Westfalens gegenüber dem Rheinland
mit seiner Medienkonzentration wenig geändert. Eine von der

IHK Dortmund erbetene Untersuchung der letzten 20 Ausgaben des NRW Teils
in der Welt am Sonntag hat ergeben, dass darin Berichte über Ereignisse
in Westfalen nur halb so oft vorkommen, wie über die des Rheinlandes. Für
die Städte Düsseldorf und Dortmund liegt das Verhältnis der Berichte und
Erwähnungen bei 115 : 21.

Das können wir so nicht resignierend hinnehmen, denn gerade die Medienpräsenz
ist auch gleichzeitig Wirtschaftsförderung. Eine bei dem Marketing-
Papst Prof. Meffert in Münster vorgelegte Dissertation über „Westfalen als
Marke“ arbeitet heraus, wie positiv die Begriffe: „westfälisch“ und „Westfalen“
besetzt sind, und zwar außerhalb Westfalens noch mehr als im eigenen
Lande. Das ist ein Zeichen für die übertriebene westfälische Bescheidenheit.
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie das Westfalenlied beginnt? Es beginnt:
“Ihr mögt den Rhein den stolzen preisen, der in dem Schoß der Reben liegt“,
und kommt dann erst später umständlich und fas entschuldigend auf
Westfalen zu sprechen.

So geht es nicht! Mit dem zweiten Platz kann man keine Werbung machen.
Weil er eine Anregung geben wollte, hat auch Wolfgang Clement noch vor
einigen Jahren erklärt: „Westfalen habe im Gegensatz zum Rheinland keine
Leuchttürme“.

Nun Leuchttürme: Der Prinzipalmarkt in Münster bringt die dichteste Atmosphäre
mittelalterlicher Stadtschönheit, wie man sie sich nur
vorstellen kann.
Das Bochumer Schauspielhaus hat internationalen Rang, das Dortmunder
Musiktheater war immer mehr als eine Provinzbühne und mit dem Konzert haus
haben wir einen weitstrahlenden und einladenden Leuchtturm, von dem
wir hoffen, dass es durch den unglücklichen Abgang seines Schöpfers nichts
einbüßt.

Mit unserer IT- Szene, insbesondere mit dem Technologie- Zentrum und dem
Technologie-Park, haben wir eine in Deutschland nicht erreichte Erfolgsstory,
mehr als wir je zu hoffen wagten als wir uns mit ihrer Gründung befassten.

Die Westfalenhalle hat ihren großen, überregionalen Ruf behalten und da in
Dortmund alles – so auch ich – mit Borussia endet, auch dieser Leuchtturm
wird wieder ins Land strahlen, insbesondere nachdem wir die Leuchtturmwärter
ausgewechselt haben.

Das Requiem aus Kohle und Stahl haben wir ausgesungen. Wobei wir wissen,
dass die Dirigenten für die Stahlseite dieser Trauermesse im Rheinland, in
Düsseldorf und Essen saßen.

Letzte Änderung am Samstag, 2. März 2024 um 08:38:56 Uhr.

  • Unbekannter Künstler:
    lied-der-sachsen---gott-sei-mir-dir-mein-sachs.mp3