SS-Oberscharführer Broad Pery

Am 13. Juli 1945 überreichte er den Briten diese lange «Denkschrift» über Auschwitz, die er am 14. Dezember desselben Jahres in einer eidesstattlichen Erklärung bekräftigte.

Das Konzentrationslager Auschwitz, das in Polen als das »Lager des Todes« bekannt ist, lag in der Nähe der gleichnamigen Stadt in dem sumpfigen Gelände zwischen der Weichsel und einem Nebenfluß, der Sola. Es ist im Jahre 1940 entstanden. Alte Kasernenbauten und ehemalige Fabrikgebäude dienten als Ausgangspunkt zu den später sehr umfangreichen baulichen Anlagen. Anfänglich existierte nur das sogenannte Stammlager Auschwitz, das an einer der Sola entlangführenden Straße lag, die das Dorf Rajsko mit Auschwitz verband. Von der Straße aus sah man neben dem Haupteingang die luxuriöse Villa des Kommandanten, SS-Obersturmbannführer Höß. Die Einfahrt versperrte ein Schlagbaum, an dem mehrere SS-Posten jeden ein und aus gehenden Soldaten und Zivilisten scharf kontrollierten. Rechts hinter dem Eingang befand sich die Hauptwache und schräg gegenüber die Kommandantur. Den Einblick in das Schutzhaftlager versperrte eine lange Betonmauer, die von den Postentürmen und den Giebeln der trostlosen, roten Backsteinbauten überragt wurde. Die 28 zweistöckigen Blöcke des Lagers dienten zum größten Teil als Häftlingsunterkünfte. Einige waren für Kranke, für die Schreibstube, für die Effektenkammer und andere Zwecke bestimmt. Außerdem lag die Häftlingsküche im Lager. Die Sicherung bestand aus zwei übermannshohen Stacheldrahtzäunen, die elektrisch geladen waren und nachts durch eine enge Kette von Lampen hell erleuchtet wurden. Außerdem befanden sich auf den Türmen große Scheinwerfer, mit denen das Lager abgeleuchtet werden konnte. Hinter dem inneren Drahtzaun zog sich ein drei Meter breiter Kiesstreifen entlang, die sogenannte neutrale Zone, bei deren Betreten bereits geschossen wurde. Im Stammlager wurden 20000 bis 25000 Menschen gefangen gehalten.

Fünf bis sechs Kilometer vom Stammlager entfernt entstand 1941/1942 das berüchtigte Nebenlager Birkenau, in dem sich später 30000 weibliche und 50000 bis 60000 männliche Insassen befanden. Wenn man abends mit dem Zug von Bielitz nach Auschwitz fuhr, dann sah man auf der linken Seite die unendlich lange Perlenschnur von grellen Lampen und die Reihe weißgetünchter Betonpfosten des Zaunes vom Birkenauer Lager. Hunderte von fensterlosen Pferdestallbaracken und primitive Steinhäuser waren die Häftlingsunterkünfte. Drei Bauabschnitte bildeten das Lager. Der zuerst fertiggestellte Bauabschnitt 1 stellte das Frauenlager dar. Der Bauabschnitt 2 war in 6 Lager unterteilt, die für verschiedene Zwecke verwendet wurden. Ein Lager dieses Abschnitts war beispielsweise Krankensammellager, ein anderes das Zigeunerlager und ein Zugangsquarantänelager.


Der Bauabschnitt 3 war noch im Bau, als am 17. Januar 1945 Auschwitz und Birkenau in überstürzter Flucht geräumt wurden. Die bereits fertigen Baracken dienten teilweise als Weberei und waren zeitweilig auch mit Häftlingen belegt. Die Verhältnisse in Birkenau waren noch bei weitem unerträglicher, als es schon in Auschwitz der Fall war. Mit jedem Schritt sank man tief in den zähen Morast ein. Es gab so gut wie kein Waschwasser. Die Häftlinge schliefen auf Holzpritschen in drei Etagen, je sechs auf einer Pritsche und zum großen Teil ohne Strohsäcke. Der täglich zweimal durchgeführte Zählappell bedeutete für die Gefangenen stundenlanges Stehen in Nässe, Kälte und Sumpf. Hatte es tagsüber geregnet, dann mußten die Häftlinge in den nassen Kleidungsstücken auf den Pritschen liegen. Es war kein Wunder, daß täglich viele hunderte starben. Die Wachtürme, die das Stammlager und das Lager Birkenau umgaben, bildeten die sogenannte »kleine Postenkette«. Tagsüber wurde sie eingezogen, dafür stand in einem gewaltigen Umkreis die »große Postenkette«, in deren Bereich der größte Teil der Häftlinge von Capos und Vorarbeitern beaufsichtigt in Fabrikbetrieben und auf Feldern arbeiten mußte. Der großen Postenkette entlang waren Schilder aufgestellt mit einem drohenden Totenkopf und der Aufschrift »Interessengebiet des KL-Auschwitz – Weitergehen verboten – Es wird ohne Anruf scharf geschossen!«

Aber auch ohne diese Tafeln vermieden es alle Zivilisten tunlichst, sich diesem unheimlichen Gelände zu nähern, denn nur allzu leicht konnte man in den Verdacht geraten, irgendwie mit Häftlingen in Verbindung treten gewollt zu haben oder ein Spion zu sein und selbst im Lager verschwinden. Die außerhalb der großen Postenkette arbeitenden Außenkommandos wurden von einer der Häftlingszahl entsprechenden Anzahl von Posten begleitet. Waren abends alle im Bereich der großen Postenkette eingesetzten Arbeitskommandos vollzählig eingerückt, so verließen die Posten die Türme der großen Kette und die kleine Postenkette zog auf. Die Zählung der ins Lager zurückkehrenden Häftlinge wurde von den Blockführern an der Blockführerstube vor jedem Lagereingang vorgenommen. Stellte es sich heraus, daß ein Häftling fehlte, dann blieb die große Postenkette stehen und eine Suchaktion wurde mit Hunden durchgeführt. Manchmal gelang es jedoch Häftlingen, die sich in dem teilweise sehr unübersichtlichen Gelände innerhalb der großen Postenkette unbemerkt von ihren Arbeitskommandos entfernt und ein Versteck aufgesucht hatten, während der Nacht zwischen den im Abstand von 30 bis 40 Metern von einander entfernt stehenden Posten hindurchzuschleichen und zu entkommen. Zur Strafe mußten dann alle Häftlinge eine Nacht im Freien stehen. Am Morgen nach einer solchen qualvollen Nacht begann dann gleich die Arbeit. Die barbarischen hygienischen Mißstände und die völlig unzureichende Verpflegung bewirkten neben der schweren Arbeit und sonstigen Quälereien, daß die meisten Menschen wenige Wochen oder wenigstens Monate nach ihrer Einlieferung ein elendes Ende fanden. Selbst Frauen mußten, mit Russenkitteln oder Fetzen bekleidet, die schwersten Arbeiten wie Steine tragen und Ausschachtungen ausführen. Nur Häftlinge, denen es gelang, eine Funktionsstellung oder Beschäftigung in einem der wenigen besseren Kommandos zu finden, konnten sich längere Zeit am Leben halten. Auschwitz war ein Vernichtungslager! Das größte, das jemals in der Weltgeschichte existierte. 2 bis 3 Millionen Juden wurden im Laufe der Zeit dort ermordet. Außerdem Tausende von Polen, Russen, Tschechen, Jugoslawen usw.


Schon der Anblick der enggespannten Stacheldrahtsicherung mit den Schildern »Achtung! Lebensgefahr!«, der Turmposten mit ihren Maschinengewehren und Maschinenpistolen und der leblosen kahlen Backsteinhäuser versetzten jeden Neuankömmling in den hoffnungslosen Gemütszustand, daß er aus diesem Lager wohl niemals mehr in die Freiheit zurückkehren werde. Menschen, deren Vitalität diesem lähmenden Eindruck nicht gewachsen war, suchten schon nach wenigen Tagen freiwillig den Tod. Sie liefen auf Außenkommandos durch die Postenkette und ließen sich dabei erschießen oder »sie gingen an den Draht«, wie es in der Lagersprache hieß. Ein Starkstromschlag, eine Maschinengewehrgarbe und der Tod bewahrte sie vor bevorstehenden weiteren Qualen.

Wenn nachts Schüsse fielen, dann wußte jeder, daß die Verzweiflung wieder einen Menschen an den Draht getrieben hatte, der nun als lebloses Bündel regungslos in der neutralen Zone lag. Unzählige, die die brennende Sehnsucht nach der Freiheit und den Angehörigen, Hunger, die Schmerzen einer kaum behandelten Krankheit oder grausame Schläge zu dem Entschluß brachten, diesem menschenunwürdigen Dasein ein freiwilliges Ende zu bereiten, haben im Laufe der Zeit dort gelegen. Andere fand man eines Morgens mit ihrem Gürtel am Bettgestell erhängt auf. Lakonisch meldete dann der Blockälteste bei dem Rapport dem Lagerführer die Anzahl der Selbstmorde. Der Erkennungsdienst stürzte dann zum Tatort, um die Leiche von allen Seiten zu photographieren, umständliche Zeugenvernehmungen wurden getätigt, um festzustellen, ob der betreffende Häftling nicht etwa von anderen Lagerinsassen ermordet wurde. Ein nicht zu überbietender Zynismus sprach aus diesem Theater! Als ob den SS-Dienststellen in einem Lager, in dem täglich Tausende systematisch zu Tode gequält wurden, an dem Schicksal eines Unglücklichen etwas gelegen wäre.

Block 11

Jedem, der das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz kennt, ist der Block 11 ein Begriff. Äußerlich unterschied er sich kaum von den übrigen Blöcken. Zu dem Eingang, der an einer Stirnseite lag, führten ein paar Steinstufen, rechts neben der Türe, durch deren Glasfenster man in einen das Gebäude durchlaufenden Mittelgang sah, hing ein unscheinbares, kleines schwarzes Schild mit der Zahl 11. Im Unterschied zu den anderen Blöcken des Lagers war die Tür von Block 11 stets verschlossen. Wenn man schellte, erschien ein SS-Posten, dessen Schritte in dem ausgestorben wirkenden Bau widerhallten. Durch das Fenster betrachtete er mißtrauisch jeden Ankömmling, um ihn dann durch eine kleine Klappe abzufertigen oder falls unbedingt erforderlich einzulassen. In dem Halbdunkel des Gebäudes erkannte man jetzt ein mächtiges Eisengitter mit einer Gittertüre, das den hinteren Teil des Gebäudes abgrenzte. Schon von außen mag einem als unheimlich aufgefallen sein, daß die Fenster fast ganz vermauert waren und nur durch einen handbreiten Spalt Licht spendeten. Selbst die Kellerfenster waren stark vergittert.14 An einigen Stellen entdeckte man in Höhe der Kellerfenster eigentümliche Blechkästen, deren Bedeutung man sich auch nicht klar zu machen vermochte. Der Platz, der zwischen Block 11 und dem parallel angrenzenden Block 10 lag, war durch beiderseitige, die Stirnseiten der beiden Gebäude verbindende hohe Steinmauern vor den Blicken unerwünschter Neugieriger geschützt. Ein massives Holztor mit einem von innen verschließbaren Guckloch versperrte die Einfahrt zu diesem Hof. Wenn man dann noch sah, daß die Fenster des Nebenblockes durch schräge Bretterverschalungen abgedeckt waren, war man überzeugt, daß es auch mit diesem Hof eine besondere Bewandtnis haben müsse. Aber auch wenn der Ankömmling in dem unmittelbar rechts hinter der Eingangstüre des Blockes eingerichteten Geschäftszimmer seine dienstliche Angelegenheit erledigt hatte und den Block 11 wieder verließ, wußte er eigentlich nur, daß er in dem berüchtigten KA., d.h. Kommandanturarrest war, in dem irgendwo Häftlinge in Zellen eingesperrt wurden, und schöpfte, wenn er die stickige Atmosphäre des Blockes verlassen hatte, unwillkürlich im Freien erst einmal tief Luft.

Im Dienstzimmer des Leiters der Abteilung II der Kommandantur sind alle Sachbearbeiter und Schreiber versammelt. Der Chef, SS-Untersturmführer Max Grabner, hält eine Dienstbesprechung ab. Wichtigtuerisch schwadroniert der mittelgroße Mann hinter seinem Schreibtisch herum. Seine unzusammenhängenden Sätze und sein falsches Deutsch lassen erkennen, daß man trotz der silbernen Schulterstücke vor einem völlig ungebildeten Menschen steht. Eingeweihte wissen, daß er im Zivilberuf auf irgendeiner Alm Kühe hütete. Jetzt trägt er stolz die Uniform des SD und ist seines Zeichens Kriminalsekretär der Geheimen Staatspolizei. Er ist unzufrieden mit der Arbeit der Abteilung. Es werden ihm zu wenig Strafmeldungen gegen Häftlinge und zu wenig Exekutionsanträge unterbreitet. Weichheit wirft er seinen Untergebenen vor, die vor sich hin starren und keine Entgegnung oder gar Rechtfertigung wagen. Sein Befehl, in Zukunft noch mehr Härte walten zu lassen, wird mit einem stummen Hackenzusammenklappen entgegengenommen. Grabner ist wegen seiner skrupellosen Brutalität, seines krankhaften Ehrgeizes und Geltungsbedürfnisses und seiner sprichwörtlichen Falschheit der erste Mann in Auschwitz geworden. Selbst der Kommandant, SS-Sturmbannführer Höß, der Grabner an sich weder an sadistischer Grausamkeit noch an Gewissenlosigkeit nachsteht, vermeidet es möglichst, sich mit diesem gewiegten Stapomann auf Kriegsfuß zu stellen. Die Dienstbesprechung findet wie üblich an einem Sonnabendvormittag statt. Grabner pflegt, wie er sich zynisch ausdrückt, jedes Wochenende zu benutzen, um »den Bunker auszustäuben«. Die gesamte Abteilung hat sich nach der Besprechung ins Lager, Block 11, zu begeben. Eigentlich sind nur drei oder vier Sachbearbeiter erforderlich. Grabner trommelt aber alles zusammen, weil er sich inmitten eines großen Stabes wohl fühlt. Im Block 11 erwartet man im Geschäftszimmer das Erscheinen des Lagerführers, SS-Hauptsturmführer Aumeier. Nach einer seiner Wichtigkeit entsprechenden Wartezeit betritt der kleine Bayer mit wuchtigen Schritten das Zimmer. Seine scharfe, krächzende Stimme verrät, daß man es mit einem Säufer zu tun hat. Die Grausamkeit, die aus seinen Gesichtszügen und Augen spricht, erspart ihm jede Visitenkarte. Er prahlt damit, ein persönlicher Freund Himmlers und Träger des goldenen Parteiabzeichens zu sein. Diensteifrig folgt ihm sein Rapportführer, SS-Unterscharführer Stiwitz. Dann erscheint noch ein SS-Arzt. Die Aufseher des Zellenbaues und einige Blockführer vervollständigen die Kommission, die sich nun in den Keller begibt, um mit dem »Ausstauben« zu beginnen. Von dem breiten Mittelgang, der wie der im oberen Stockwerk durch starke Eisengitter mit Gittertüren unterteilt ist, zweigen kurze, parallele Seitengänge ab. Jeweils drei bis fünf Zellen, deren dicke Eichentüren mit Stahlverschlägen und Gucklöchern versehen sind, liegen an so einem Gang. Die Luft in dem Kellergewölbe ist so stickig, daß man kaum zu atmen vermag. Das unterdrückte Gemurmel hinter den Zellentüren, das grelle Licht der Glühbirnen, das den scharfen Kontrast zwischen dem schwarz gestrichenen Fußboden und den weiß getünchten Wänden hervorhebt, und die an den Mützen der SS-Leute blinkenden Totenköpfe schaffen eine unheilvolle Atmosphäre.

Ein Arrestaufseher öffnet mit einem umfangreichen Schlüsselbund die erste Zellentüre. Außerdem müssen noch zwei Eisenriegel zurückgeschoben werden. Eine Flucht ist aus diesem Gefängnis, das sich außerdem noch innerhalb der das Lager umgebenden Starkstromhindernisse befindet, ausgeschlossen. Aus der überfüllten, engen Zelle strömt einem ein würgender Gestank entgegen. Ein Gefangener ruft »Achtung!« und mit teilnahmsloser Miene nehmen die ausgemergelten Gestalten in ihren schmutzigen blau-weißen Lumpen in einer Reihe in der Zelle Aufstellung. Einigen sieht man an, daß sie sich nur mit Mühe aufrecht halten. Mit der Gleichgültigkeit von Menschen, deren Lebenswille bereits gebrochen ist, lassen sie die folgende Prozedur über sich ergehen, die sie vielleicht schon einige Male glücklich überstanden haben und die über Leben und Tod entscheidet. Aumeier hält eine Liste aller Arrestanten gegen die Tür, über die er nun mit Grabner zusammen hier unten Gericht halten will. Der erste nennt seinen Namen und gibt an, wie lange er schon im Zellenbau sitzt. Der Lagerführer fragt kurz den Rapportführer nach dem Einlieferungsgrund. Falls der Häftling von der Abteilung II eingesperrt wurde, was namentlich bei Fluchtversuchen der Fall war, ist Grabner zuständig. Die beiden Lagergewaltigen entscheiden dann: Strafmeldung 1 oder Strafmeldung 2. Die Häftlinge, die zu diesen beiden Kategorien bestimmt werden, verlassen die Zelle und müssen in zwei Gruppen auf dem Mittelgang antreten. Die übrigen bleiben in »Untersuchungshaft« zurück. Die »Straftaten« derjenigen Häftlinge, für die Strafmeldung 1 verfügt wird, bestanden beispielsweise darin, daß sie sich irgendwo ein paar Kartoffeln genommen hatten, ein Wäschestück zu viel besaßen, während der Arbeitszeit eine Zigarette rauchten und dererlei Bagatellen mehr. Sie haben das Glück, mit einer Prügelstrafe oder einer gewissen Zeit Strafkompanie21, das bedeutet besonders schwere Arbeit, davonzukommen. Anders ergeht es den Unglückseligen, deren weiteres Schicksal durch den Tarnausdruck »Strafmeldung 2« bestimmt wird. Für alle deutlich sichtbar malt Aumeier hinter den betreffenden Namen mit Blaustift ein dickes Kreuz und begrenzt die Ecken sorgfältig mit kleinen Querstrichen. Es war wirklich niemandem mehr ein Geheimnis, was »Strafmeldung 2« bedeutete. Die Gruppe der leichteren Fälle, denen für dies Mal noch das Leben geschenkt wird, bringt man nun ins Lager, um die ihnen zugedachten Strafen zu vollstrecken. Die großen Gemeinschaftszellen, die sich im Erdgeschoß und im ersten Stock des Blockes befinden und in denen oftmals über hundert Menschen in einem Raum zusammengepfercht wurden, entleert man, soweit sie Aussicht auf den Hof gestatten, und führt die Insassen, Häftlinge und von einander getrennt männliche und weibliche Zivilgefangene in Zellen auf der anderen Seite. Die Todeskandidaten werden in einen im Erdgeschoß liegenden Waschraum geführt. Häftlinge, die im Block 11 als Reiniger und Schreiber tätig sind, verhängen mit einer Decke das Fenster und sorgen dafür, daß sich ihre unglücklichen Leidensgenossen ausziehen. Mit Kopierstift malen sie diesen Menschen, die sichtlich mit dem Leben abgeschlossen haben und vielleicht mit einer gewissen Erleichterung wissen, daß sie in wenigen Minuten für immer von ihren Peinigern befreit und von den erduldeten Leiden erlöst sein werden, mit großen Zahlen ihre Häftlingsnummer auf den Oberkörper, um die Registrierung der Leichen in der Leichenhalle oder im Krematorium zu ermöglichen. Unterdessen haben sich Aumeier, Grabner und ein Teil der übrigen SS-Leute auf den Hof begeben. Der größte Teil war jedoch inzwischen gegangen. Die Anwesenheit von Grabner ist niemand angenehm, denn von einem Stapomann dauernd wegen angeblicher Weichheit getadelt zu werden, ist gefährlich. Dabei befanden sich unter seinen Leuten in der Mehrzahl Fanatiker, die alles andere als weichherzig veranlagt waren.

An der einen Steinmauer im Hof des Blockes 11 steht die schwarze Wand. Für Tausende unschuldiger Menschen, Patrioten, die nicht um materieller Vorteile willen ihre Vaterlandsliebe zu verraten bereit waren, für Menschen, denen es geglückt war, aus der Hölle von Auschwitz zu entfliehen und die das bittere Los betraf, wieder ergriffen zu werden, für nationalbewußte Männer und Frauen aus allen einst von den Deutschen besetzten Ländern ist diese Wand aus schwarzen Isolierplatten zum Endmeilenstein ihres Daseins geworden. Der Rapportführer oder ein Arrestaufseher vollzieht die Erschießung. Um nicht die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen, die auf der nicht weit hinter der Steinmauer vorbeiführenden Landstraße entlanggehen, wird ein Kleinkalibergewehr mit einem Magazin für 10 bis 15 Schuß verwendet. Aumeier, Grabner und der jeweilige Henkersknecht der bereits das schußfertige Gewehr hinter dem Rücken verborgen hält, stehen im Vollgenuß ihres Machtbewußtseins in Positur. Im Hintergrund warten verängstigt einige Totenträger mit Bahren auf ihre traurige Beschäftigung. Sie können das Grauen nicht bezähmen, das aus ihrem Gesichtsausdruck spricht. Neben der schwarzen Wand steht ein Häftling mit einer Schaufel. Ein ausgesucht starker Gefangener des Reinigungspersonals bringt im Laufschritt die ersten beiden Opfer. Er hält sie an den Oberarmen fest und drückt sie mit dem Gesicht gegen die Wand. »Proste« (geradeaus), kommandiert jemand, falls sie die Köpfe seitwärts drehen. Obwohl diese wandelnden Skelette, von denen manch einer monatelang in den stinkenden Kellerzellen ein Dasein fristete, wie man es keinem Tier zumuten würde, kaum noch auf den Beinen stehen können, rufen viele von ihnen in dieser letzten Sekunde »Es lebe Polen« oder »Es lebe die Freiheit!« Der Henkersknecht beeilt sich dann jedesmal mit dem Genickschuß oder sucht sie durch brutale Schläge zum Schweigen zu bringen. Die so machtbewußten SS-Leute stoßen dann zwar ein krampfhaftes Lachen aus, hören aber solche Zeugnisse durch keinen Terror zu brechenden Nationalstolzes und unbeugsamer Freiheitsliebe nicht gerne. So starben Polen und Juden, von denen die Nazipropaganda doch immer behauptete, daß sie um Gnade winselnde Sklavenkreaturen seien, denen keine, bezw. keine auch nur im entferntesten den Deutschen entsprechende Lebensberechtigung zukäme! Ob bei Männern oder Frauen, Jugendlichen oder Greisen, fast ausnahmslos mußten sie das gleiche Bild sehen, daß diese Menschen sich mit letzter Kraft zusammenrissen, um aufrecht zu sterben. Kein Winseln um Gnade, oftmals ein letzter Blick abgrundtiefer Verachtung, den diese primitiven Mordgesellen mit sadistischer Wut zu beantworten wußten.

Kaum hörbar fällt Schuß auf Schuß. Röchelnd brechen die Opfer zusammen. Der Henker stellt fest, ob seine Genickschüsse, die er aus wenigen Zentimetern Entfernung abgibt, gut sitzen. Er tritt den am Boden Liegenden auf die Stirne, zieht die Haut zurück, um auf diese Weise festzustellen, ob ihr Blick gebrochen ist. Aumeier und Grabner sehen sachverständig zu. Wenn ein Erschossener noch röchelt, dann befiehlt einer dieser beiden SS-Führer: »Der muß noch einen kriegen!« Ein Schuß in die Schläfe oder ins Auge bereitet dann diesem unglücklichen Leben ein endgültiges Ende. Im Laufschritt eilen die Leichenträger mit den Bahren hin und her, laden die Toten auf und werfen sie am anderen Ende des Hofes auf einen Haufen. Immer mehr blutüberströmte Leiber liegen dort. Noch minutenlang strömt den Erschossenen in einem feinen Strahl das Blut aus der Einschußwunde am Hinterkopf und ergießt sich über den Rücken. Stumm und ohne äußerliches Zeichen einer inneren Bewegung tritt jedesmal, wenn zwei Erschossene abtransportiert werden, der Häftling mit Schaufel heran und bedeckt die schaumigen Blutlachen mit Sand. Mechanisch lädt der Henker jedesmal sein Gewehr durch und führt Exekution auf Exekution durch. Entsteht einmal eine Verzögerung, dann setzt er die Waffe ab, pfeift sich ein Liedchen oder unterhält sich mit den Umstehenden über betont gleichgültige Themen. Er will mit dieser zynischen Haltung zeigen, wie wenig es ihm ausmacht, »dieses Pack umzulegen« und wie »hart« er ist. Er ist stolz darauf, ohne jede Gewissensempfindung diese unschuldigen Menschen umzubringen. Wenn einer nicht den Kopf stillhält, dann preßt er ihm die Gewehrmündung ins Genick und drückt ihn mit dem Gesicht an die Wand. Das geschieht vor allem auch bei patriotischen Rufen, denn die SS- Leute ahnen, welche moralische Stärkung und Aufrichtung des Nationalbewußtseins diejenigen Häftlinge empfangen, die jenseits der Steinmauer diese letzten Kundgebungen fanatischen Glaubens zu Tode gequälter Märtyrer hören. Oft wird die letzte Sekunde der an der schwarzen Wand stehenden Menschen qualvoll verlängert. Sie spüren, wie ihnen die kalte, mit Blut besudelte Gewehrmündung ins Genick gehalten wird, hören das Knacken des Gewehrhahns ... Ladehemmung! Gelangweilt setzt der Henker ab, bastelt umständlich an der Waffe herum, spricht mit den Anwesenden darüber, daß es Zeit sei, ein neues Gewehr zu beschaffen. Um die Todesqualen des an der Wand wartenden Opfers kümmert sich niemand. Ein eiserner Griff umklammert seinen Arm und hält ihn fest. Schließlich wird das Gewehr wieder angesetzt. Diesmal kann es funktionieren, es können sich aber noch weitere Ladehemmungen einstellen. Nach etwa einer Stunde ist dieses unbeschreiblich grauenhafte Schauspiel vorbei. Grabner hat seinen Bunker »ausgestaubt« und sitzt nun bei einem guten Frühstück. Der Hof von Block 11 liegt wieder wie ausgestorben da. Der Sand vor der unbeteiligt dastehenden schwarzen Wand ist frisch geharkt. Über ein paar großen schwarzroten Flecken am anderen Ende des Hofes brummt ein Fliegenschwarm. Durch das Lager führt eine breite, dunkle Spur. Sie kommt von dem massiven Holztor mit dem Guckloch, das die Einfahrt zum Hof des Blockes 11 versperrt und zieht sich zum Lagerausgang hin in Richtung Krematorium. Am Lagertor spielt gerade die Häftlingskapelle einen flotten deutschen Marsch zum Aufbruch der Nachmittagsschicht der Arbeitskommandos. Es ist nicht leicht, mit den unförmigen Holzschuhen und den wundgeriebenen Füßen Gleichschritt zu halten, aber wer auffällt, bekommt einen unbarmherzigen Fußtritt oder einen Faustschlag ins Gesicht. Im Waschraum des Blockes 11 sortieren die Reiniger die armseligen Kleidungsstücke der Ermordeten. Der Henker entfernt in bester Laune einige Blutflecken von seiner Kleidung und macht sich fertig zu einem Truppenbetreuungsvortrag. Thema: »Die europäischen Aufgaben der SS«


Polizeistandgericht

Ein bis zweimal tagte monatlich im KZ-Auschwitz das »Polizei- und Standgericht« der Staatspolizeistelle Kattowitz. Dann erschien der Allgewaltige von Oberschlesien, SS-Obersturmbannführer und Oberregierungsrat Dr. Mildner. Dieser Mann war einer der blutrünstigsten Schlächter, die im dritten Reich existierten. Er stellte schon rein äußerlich die Verkörperung eines Despoten dar. Auffallend war besonders sein wuchtiger, stiernackiger Schädel, aus dem einen ein Paar eiskalte, grausame Augen prüfend betrachteten. Er leitete die Staatspolizeistelle Kattowitz und war Vorsitzender des Standgerichts. Die Sitzungen fanden stets im KZ-Auschwitz statt, weil dort auch gleich die Urteilsvollstreckung durchgeführt werden konnte. Es hieß ja in einem an die Gestapo gerichteten Befehl des Reichssicherheitshauptamtes, daß nicht aus abschreckenden Gründen öffentlich durchzuführende Exekutionen innerhalb von Konzentrationslagern vollstreckt werden sollten. Von dem Standgericht wurden Polen und Volksdeutsche verurteilt wegen politischer und krimineller »Verbrechen«. Die politischen Delikte bestanden beispielsweise im Abhören feindlicher Sender und in der Unterhaltung über diese Nachrichten, im Verdacht der Zugehörigkeit zu einer der polnischen Widerstandsorganisationen, Kurierdienste geleistet oder sie durch Geldspenden unterstützt zu haben. Als kriminelle Verbrecher wurden u.a. Menschen abgeurteilt, denen vorgeworfen wurde, daß sie sich mit Schleichhandel befaßt hätten. Die drakonischsten Strafen vermochten jedoch den Schleichhandel nicht einzudämmen, da die Polen nur etwa die Hälfte von den Deutschen zustehenden Lebensmittelrationen erhielten und damit natürlich nicht existieren konnten.

Die organisatorischen Vorbereitungen für eine Standgerichtssitzung führte der Kriminalsekretär Kauz durch, der auch der Gestapo Kattowitz angehörte. Er trug eine SD-Uniform. Man sah dem ziemlich unbedeutend wirkenden Büromenschen mit seinen harmlosen dicken Brillengläsern nicht an, mit was für einer Sonderaufgabe er betraut war. Mit Lastwagen wurden aus den Gefängnissen, in erster Linie aus dem Gerichtsgefängnis Myslowitz, die Opfer des Standgerichts nach Auschwitz transportiert. Ihre abgemagerten, krankhaft bleichen Gesichter berichten von einer langen Haftzeit und den Qualen der Vernehmungstorturen. Sie trugen Zivilkleidung und waren trotz ihres erbärmlichen körperlichen Zustandes alle schwer gefesselt. Bei manchen Transporten wurden die SS-Leute, die die Übernahme und Einlieferung in die Gemeinschaftszellen des Blockes 11 zu vollziehen hatten, vor Ansteckung gewarnt. Unter den Standgerichtsgefangenen befanden sich nämlich häufig Fleckfieberkranke, wie überhaupt Fleckfieber und andere epidemische Krankheiten sowohl in den Gefängnissen als auch im Lager an der Tagesordnung waren. Im allgemeinen waren die gefangenen Männer und Frauen, die dem Standgericht vorgeführt werden sollten, schon vernommen worden und hatten schon ihre »Geständnisse« abgelegt. Von Zeit zu Zeit trafen aber auch in Auschwitz Kommissionen ein, um dort Ermittlungen für die Stapo durchzuführen. Die Personen, die sie vernehmen wollten, waren nach ihrer Festnahme direkt nach Auschwitz gebracht worden und saßen dort als Polizeihäftlinge im Zellenbau. Kauz brachte auch vor jeder Tagung des Standgerichts eine Liste von Leuten, die bereits als Schutzhäftlinge im Lager einsaßen und schon hofften, mit dem Leben davongekommen zu sein. Diese mußten dann von den Arbeitskommandos weggeholt und im Block 11 eingesperrt werden. Jeder Häftling mußte also damit rechnen, plötzlich Grabners Willkür oder dem Standgericht zum Opfer zu fallen. Seine Erwähnung bei einer anderen Einvernahme, irgendein vager Verdacht oder ein sonstiger Zufall konnte sein Schicksal besiegeln.

Mitte 1943 konnte man im KZ-Auschwitz jeden Morgen eine eigenartige Prozession beobachten. Sie bewegte sich vom Lagertor, über dem in großen Buchstaben stand: »Arbeit macht frei«, zu einer für Vernehmungszwecke geräumten ehemaligen Postbaracke. Die Spitze des Zuges bildeten acht Polizeihäftlinge, die zwei rätselhafte Holzgerüste trugen, die mit Hürden eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Dann folgten 60 bis 80 weitere Polizeihäftlinge, die sich nur noch mühsam zu der Vernehmungsstätte zu schleppen vermochten und sich teilweise zur gegenseitigen Unterstützung eingehakt hatten. Eine größere Anzahl von Gestapobeamten in Uniform beendeten den trostlosen Aufzug. Einige trugen am Koppel Reitpeitschen oder die in allen Konzentrationslagern wohlbekannten getrockneten und besonders präparierten Bullenschläuche. Schreibmaschinen und dicke Aktenmappen gehörten außerdem noch zu ihrer Ausrüstung. Posten mit Maschinenpistolen eskortierten die ohnehin zu jeglicher Gegenwehr zu schwachen Gefangenen. Die Stapobeamten verschwanden mit den Holzgerüsten und den Häftlingen, die sie zuerst vernehmen wollten, im Innern der Baracke. Das Gros mußte draußen von den Posten bewacht warten. Es dauerte nicht lange, da hörte man aus der Baracke das Brüllen der vernehmenden Stapoleute, das Gepolter umfallender Stühle und klatschender Schläge. Weithin schallten die furchtbaren Schreie der barbarisch gefolterten Unglücklichen. Jeden, der nicht sogleich bereit war, seine »Schuld« einzugestehen, oder von dem man vermutete, daß er etwas über Waffenverstecke sowie über die Namen von »Bandenmitgliedern« wisse, erwarteten grausame Drangsalierungen. Es gab in Auschwitz nicht allzu viele, die die Bedeutung der Holzgerüste kannten. Eingeweihte wußten, daß es »Schaukeln« waren, wie diese Inquisitionsinstrumente zynisch genannt wurden. Ein Gestapobeamter gab den Anlaß zum Bau der Schaukel in Auschwitz. Er war von einer Stapodienststelle gekommen, um im Lager einen Schutzhäftling zu vernehmen. Man hörte plötzlich aus dem ihm zur Verfügung gestellten Zimmer ein eigentümliches, unterdrücktes Stöhnen. Als man das Zimmer betrat, bot sich ein Bild, das selbst die schon vieles gewöhnten Konzentrationslagerleute überraschte. Zwei Tische standen in 1 Meter Abstand nebeneinander. Das Opfer hatte sich auf den Boden setzen und die Hände vor den angezogenen Knien falten müssen. Mit Handschellen wurden ihm dann die Handgelenke vor den Beinen zusammengeschlossen. Eine massive Stange ist ihm zwischen Ellenbogen und Knie geschoben worden, deren Enden auf den Tischen aufliegen. Er pendelte nun hilflos mit dem Kopf nach unten zwischen den Tischen. Mit einem Ochsenschlauch wurde er nun auf das Gesäß und die nackten Fußsohlen geschlagen. Die Schläge waren so heftig, daß der Gefolterte beinahe ganze Umdrehungen ausführte. Jedesmal, wenn das Gesäß in die entsprechende Stellung pendelte, fiel ein mit aller Kraft niedersausender Schlag. Als seine Schreie zu gellend wurden, setzte ihm der sadistische Stapoteufel eine Gasmaske auf. Nun war nur noch das unterdrückte Stöhnen zu hören. Von Zeit zu Zeit wurde die Maske abgenommen, und er wurde gefragt, ob er endlich gestehen wolle. Ihm wurde vorgeworfen, eine Waffe besessen zu haben. Ein Opfer irgendeines gewissenlosen Denunzianten war er geworden. Nach etwa 15 Minuten erstarben die konvulsivischen Bewegungen des Gequälten. Er vermochte nicht mehr zu sprechen und schüttelte nur noch schwach den Kopf, wenn wieder die Gasmaske entfernt und er zum Geständnis aufgefordert wurde. Seine Hose hatte sich tiefrot gefärbt, und das Blut tropfte auf den Fußboden. Schließlich hing sein Kopf regungslos herab, er war ohnmächtig geworden. Den Stapobeamten erschütterte das jedoch keinesfalls. Mit sachverständigem Grinsen zog er aus der Tasche ein Fläschchen mit einer stechend riechenden Flüssigkeit, das er dem Gefangenen vor die Nase hielt. Nach einigen Minuten kehrte dessen Bewusstsein auch tatsächlich zurück. Da sein Gesäß schon derart zerschlagen war, daß die Schläge kaum noch die Schmerzen gesteigert hätten, dachte sich der Inquisitor etwas Neues aus. Er träufelte seinem Delinquenten heißes Wasser in die Nase. Der brennende Schmerz muß unbeschreiblich gewesen sein. Er hatte sein Ziel erreicht. Auf eine erneute Frage, die mit höhnischer Siegessicherheit gestellt wurde, nickte der so teuflisch Mißhandelte bejahend mit dem Kopf. Nun wurde die Stange von den Tischen heruntergenommen und mit dem einen Ende auf den Boden gestellt, so daß der Gefesselte herunterrutschte, und herausgezogen. Nur mit Schwierigkeiten gelang es, die Handschellen von den violett gefärbten und dick angeschwollenen Handgelenken zu entfernen. Wie leblos lag der Gefangene auf dem Fußboden. Als er auf Zurufe, zur Unterschriftsleistung unter sein »Geständnis« an den Tisch heranzutreten, nicht zu reagieren vermochte, wurde er mit dem Ochsenschlauch wahllos auf den geschorenen Kopf und den Rücken geschlagen und mit Fußtritten traktiert. Schließlich gelang es ihm, sich mühsam aufzurichten und mit Fingern, die kaum schreiben konnten, seine »Aussagen« zu unterzeichnen. Die zittrigen Schriftzüge und die auf dem Protokoll sichtbaren Schweißflecke der Hand verrieten einem Kenner, daß es sich um eine »verschärfte«, »mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln« durchgeführte Vernehmung oder, wie es auch oft in den Vernehmungsersuchen hieß, um eine »eindringliche Befragung« gehandelt hatte. In Auschwitz fand diese Vernehmungsmethode Anklang. Man empfand aber die Anordnung mit den beiden Tischen, auf denen die Stange herumrutschte und auch mit dem in der unglücklichen Stellung Gefesselten auf den Boden fiel, als zu primitiv. Aus diesem Grunde ließ man zwei Holzgestelle von Häftlingen der Bauleitungs-Werkstätten bauen, die mit abnehmbaren Stahlstangen versehen waren. Das bedeutete sogar noch eine Steigerung der Quälerei, weil der Gefolterte nun sogar im Kreis um die Stange geschleudert werden konnte.

Mit solchen Mitteln wurden nun die Vernehmungen in der Postbaracke durchgeführt. Zwei bis drei Wochen lang trieb die Stapokommission ihr Unwesen. Es handelte sich um eine besondere Aktion. 600 Personen, Männer und Frauen, Polen und Volksdeutsche waren wegen »reichsfeindlicher Bestrebungen« oder »politischer Umtriebe zu Ungunsten der Reiches« schlagartig festgenommen und, da das Gerichtsgefängnis Myslowitz wegen Fleckfieberverseuchung und Überfüllung gesperrt war, direkt nach Auschwitz gebracht worden. Der erste Stock des Blockes zwei, der einen einzigen Raum ohne Zwischenwände darstellte, war mit kaum gefüllten Strohsäcken ausgelegt worden und diente als Aufenthaltsort. Man wollte vermeiden, daß die Standgerichtskandidaten mit den übrigen Lagerinsassen in Berührung kamen. Wochenlang mußten alle 600 Personen in diesem Raum auf dem Bauch liegen. Sie hatten auch in dieser Stellung zu essen. Posten mit Maschinenpistolen hatten Befehl, jeden sofort zu erschießen, der zu sprechen oder sich aufzurichten wagen sollte. Die durchstandenen und noch bevorstehenden Leiden und der vielen sichere Tod hatten aber eine regungslose Apathie bei den meisten zur Folge. Selbst schwangere Frauen lagen im Block zwei. Auch die Posten waren recht ungern bei diesen Delinquenten. Abgesehen davon, daß sie sich langweilten, wimmelte der 1. Stock des Blockes von kriechenden und hüpfenden Quälgeistern.


Schließlich kam der Tag, an dem 210 der Polizeihäftlinge dem Standgericht vorgeführt werden sollten. Dem Ergebnis der vorbereitenden Ermittlungen zufolge, war für die übrigen Schutzhaft verhängt worden. Die Standgerichtskandidaten wurden in einen Raum des Blockes 11 geführt. Gegenüber war ein großes Zimmer für das Gericht zurecht gemacht worden. Eine lange Tafel mit Wassergläsern und dahinter eine Stuhlreihe, in deren Mitte ein Präsidialsitz für Mildner vorgesehen war, bildeten die Einrichtung. Von den Wänden sahen wohlgefällig Himmler und Hitler herab. Durch die beiden vergitterten Fenster, die nicht wie die übrigen des Blockes fast zugemauert waren, blickte man unmittelbar auf die hohen Stacheldrahtumzäunungen. Die weitere Aussicht versperrte eine Betonmauer. Endlich fuhr der hellblaue Opel Admiral vor dem Block 11 vor und Mildner stieg aus. Gravitätisch mit erhobener Hand die ehrfurchtsvoll stillstehenden SS-Leute grüßend, ging er die Steinstufen hinauf und betrat den Block. Er begrüßte Grabner und Aumeier, die an der Sitzung teilnehmen durften. Kauz schleppte die Akten hinterher. »Geheime Staatspolizei Kattowitz« stand drohend auf den Deckeln. Mildner nahm auf seinem Sessel Platz. Neben ihm saß Sturmbannführer Dr. Eisenschmidt. Die übrigen Anwesenden tauschten heitere Begrüßungsworte und Erinnerungsanekdoten aus und hatten sich währenddessen auch an den Tisch gesetzt. Man fachsimpelte noch etwas, prahlte von den letzten Erfolgen, kritisierte mißgünstig die Tätigkeit einiger nicht anwesender Berufskollegen und erstarrte dann zu einer möglichst harten und wichtigen Pose, als Mildner die Sitzung eröffnete. Mit selbstzufriedenem Lächeln beglückwünschte er das Standgericht zur seiner zweihundertsten Sitzung. Dann winkte er dem an der Tür stehenden SS-Posten, mit der Vorführung der Angeklagten zu beginnen.

Kauz ruft den ersten Namen auf. Der SS-Posten gibt ihn an einen Schreiber weiter, der in dem anderen Raum bei den Standgerichtshäftlingen steht. Aus der leise murmelnden Menge der Menschen, die nach langen, unsäglichen Qualen nun auf ihr Todesurteil warten, ruft eine schwache Stimme »hier«, und eine der hohläugigen Gestalten kommt hervorgetaumelt. Der Schreiber hilft ihm zur Tür des Verhandlungsraumes. Er ist selbst Häftling, und wer weiß, ob ihm nicht in nächster Zukunft das gleiche Schicksal blüht. Dicht neben der Tür muß der Delinquent sich aufstellen. Mildner verliest die Urteilsbegründung. »Nach dem Ergebnis der staatspolizeilichen Ermittlungen hat sich der Pole ... gegen die Gesetzte des Deutschen Reiches vergangen, indem er ...«, so fing es im allgemeinen an, und der Schluß bestand in dem monoton und empfindungslos heruntergeleierten Satz: »Das Polizei- und Standgericht der Staatspolizeileitstelle Kattowitz verurteilt ihn zum Tode!« Mit einer Miene, die sowieso keine Kritik zuließ, blickte der Despot, der so mutig im Töten war, nach links und rechts und nahm als selbstverständlich das zustimmende Nicken der Beisitzer entgegen. Der Verurteilte kam nicht mehr zu Wort. Kaum eine Minute nimmt jeder Fall in Anspruch. Kauz kann oft nicht so schnell die Akten heraussuchen. Ein mißmutiger Blick von Mildner und ein ungeduldiges Trommeln auf der Tischplatte treibt ihm den Schweiß aus der Stirne. Wenn sich im Warteraum auf den Ruf des Schreibers hin nicht gleich der Betreffende meldet, dann wiederholen andere Häftlinge ungeduldig seinen Namen. Sie haben kein Interesse mehr daran, die letzten Minuten unnötig zu verlängern. Ein sechzehnjähriger Junge wird hereingeführt. Er hat sich aus unerträglichem Hunger aus irgendeinem Laden etwas zu essen gestohlen, gehörte also zu den wenigen »kriminellen« Fällen, die verhandelt werden. Nachdem Mildner ihm sein Todesurteil vorgelesen hat, legt er langsam das Blatt auf den Tisch und richtet seine durchbohrenden Blicke auf die kleine, bleiche Gestalt, die da in dem fadenscheinigen Anzug an der Tür steht. Langsam und jedes Wort betonend sagt er: »Hast Du eine Mutter?« – Der Junge senkt den Blick und antwortet kaum vernehmlich mit tränenerstickter Stimme: »Ja«. »Hast Du Angst vor dem Tod?«, forscht der stiernackige Menschenschlächter und weidet sich mit sadistischem Genuß an seinem Opfer. Der Junge gibt keinen Ton mehr von sich, er zittert nur etwas. »Wir wollen dich heute erschießen«, spricht Mildner und ist bemüht, seiner Stimme einen schicksalsschweren Ausdruck beizulegen, »du wirst sonst doch nur eines Tages aufgehängt. In einer Stunde bist du tot!« – Mildner »unterhält« sich von Zeit zu Zeit in dieser Weise mit den Menschen, die er zum Tode verurteilt. Er kann seine Genugtuung darüber nicht verbergen, daß er die Macht hat, über Leben und Tod zu entscheiden. Namentlich Frauen gegenüber läßt er seiner sadistischen Veranlagung freien Lauf. In drastischer Weise spricht er mit ihnen über die unmittelbar bevorstehende Erschießung.


Erschiessungen im alten Krematorium

Nach knapp zwei Stunden ist die Sitzung beendet. Von den 210 Personen wurden 206 zum Tode verurteilt und für 4 Schutzhaft angeordnet. Mildner beeilt sich, zur Exekutionsstelle zu kommen. Er würde es sich um keinen Preis nehmen lassen, der Urteilsvollstreckung persönlich beizuwohnen. Die Verurteilten haben auf dem Hof des Blockes 11 in Fünferreihen Aufstellung genommen. Die Erschießung soll heute, weil es besonders viele sind, nicht an der schwarzen Wand des Blockes 11, sondern gleich im Krematorium erfolgen. Ein Lastwagen mit Verdeck fährt rückwärts an das Tor, das nun geöffnet wird. Wie ein symbolischer Abschied vom Leben wirken die Medaillons und anderen letzten und teuersten Andenken, die die Verurteilten so kurz vor dem Tode fortgeworfen haben und die jetzt unbeachtet auf dem Hof verstreut umherliegen. An Widerstand denkt niemand mehr. Jetzt, unmittelbar vor dem Tod, beschäftigt sich jeder mit den Gedanken an sein vergangenes Leben und an seine Angehörigen, die er zurückläßt. Der Lastwagen fährt hin und her. Mit aller Gewalt werden jedesmal möglichst viele hineingepreßt. Der große blaue Wagen von Mildner steht schon vor dem Krematorium. Das alte Krematorium in Auschwitz stand in etwa 100 Meter Entfernung vom Lager. Es soll ursprünglich eine Lagerhalle für Rüben gewesen sein. Man hatte das Steinbauwerk auf drei Seiten mit Erdanschüttungen umgeben, die mit Rasen, kleinen Bäumchen und lieblichen Blumen bepflanzt waren. Das Dach war eine ebene Betondecke. Eine hohe Mauer mit einem mächtigen Einfahrts- und einem Ausfahrtstor umschloß einen Platz vor dem eigentlichen Eingang, wo jeden Abend die hochbeladenen Karren, die aus dem Leichenkeller des Blockes 28 die Leichen brachten, von den Blicken unerwünschter Zuschauer ferngehalten, entladen wurden. Ein Fremder konnte so nicht ohne weiteres entdecken, daß dieser rechteckige, bunt bewachsene Hügel ein Krematorium war. Vielleicht wäre ihm das dicke, winkelförmige Metallrohr aufgefallen, das aus dem Dach herausragte und monoton brummte. Er wäre allein aber kaum auf den Gedanken gekommen, daß das der Exhaustor war, der die Luft in der Leichenkammer wenigstens einigermaßen erträglich machen sollte. Auch an dem quadratischen Schornstein, der in einigen Metern Entfernung stand und durch eine unterirdische Zuleitung mit den vier Öfen verbunden war, konnte man normalerweise nichts Außergewöhnliches feststellen. Anders war es jedoch, wenn der Wind den meist in durchsichtigen bläulichen Wölkchen dem Schlot entströmenden Rauch herabdrückte. Der unverkennbare, penetrante Gestank von verbrannten Haaren und verbranntem Fleisch war dann kilometerweit zu spüren. Wenn die Öfen, in denen vier bis sechs Leichen gleichzeitig verbrannt wurden, neu angeheizt worden waren und dicke, pechschwarze Qualmwolken aus dem Schornstein emporstiegen oder wenn er nachts eine weithin sichtbare, mehrere Meter hohe Stichflamme ausstieß, dann wurde jedem die Bedeutung dieses Hügels klar. An der der Straße abgelegenen Seite war die Erdanhäufung unterbrochen, um dem Brennraum durch ein kreuzweise mit Eisenstäben vergittertes Fenster Frischluft zuzuführen. Aus dem dunklen Raum hörte man das unheimliche Rumoren von Stahlstangen und Schippen, mit denen Koks in die Öfen geschippt und die Leichen in die Muffeln geschoben wurden. Das Innere des Krematoriums bestand im wesentlichen aus dem Brennraum, einem Vorraum und der großen Leichenkammer, in deren Decke außer dem Exhaustor sechs mit Deckeln verschlossene Luftlöcher eingebaut waren.

Die Verurteilten standen in dem Hof vor dem Krematorium. Die schmiedeeiserne Lampe über der Türe erinnerte an den Eingang zu einem gemütlichen Häuschen und wirkte wie Ironie an dieser Pforte, die Unzählige durchschritten ohne zurückzukehren und über deren Schwelle täglich Wagenladungen von Leichen hereingezerrt wurden. In Abteilungen von je vierzig Personen werden die Standgerichtshäftlinge in den Vorraum geführt, um sich auszuziehen. Ein SS-Posten steht an der Tür zur Leichenkammer, in der die Exekution stattfindet. Immer zehn führt er zur Richtstätte. Im Vorraum hört man die Schüsse und den Aufschlag der Köpfe auf dem Zementboden. Erschütternde Szenen spielen sich ab. Mütter trennen sich von ihren Töchtern. Männer, an deren Haltung man ehemalige Offiziere erkennt, reichen sich zum letzten Mal die Hände, andere verrichten ein letztes Gebet. Währenddessen vollzieht sich in der Leichenkammer ein Morden, wie es schändlicher nicht sein kann. Die zehn Gefangenen betreten nackend den Raum. Die Wände sind mit Blut besudelt. Im Hintergrund liegen die bereits Erschossenen. Ein breiter Blutstrom zieht sich zu dem Ablauf in der Mitte der Halle. Sie müssen bis dicht an die Leichen herantreten und sich nebeneinander aufstellen. Ihre Füße färben sich rot von dem Blut, in dem sie stehen. Manch einer erkennt mit einem Aufschrei unter den teilweise noch röchelnd Daliegenden einen nahen Verwandten, vielleicht seinen Vater. Die rechte Hand des Lagerführers, SS-Hauptscharführer Palitzsch, vollzieht die Erschießung. Einen nach dem anderen bringt er mit einem geübten Genickschuß ums Leben. Immer voller wird die Leichenhalle. Mit eiskalten Augen sieht Mildner, der mit seinem Stab anwesend ist, dem Vollstrecker seiner Urteile bei der Arbeit zu. Um ihn herum liegen auch schon Leichen. Schließlich ruft der SS-Posten aus dem Vorraum, daß niemand mehr draußen sei. Palitzsch macht sich nun daran, zwischen den Leichen herumzusteigen und denjenigen, die noch stöhnen oder sich, regen, einen Fangschuß zu geben. Dann setzt er das Gewehr ab, wendet sich seinem Meister zu und steht still zum Zeichen, daß er seinen Willen ausgeführt hat. Mildner sieht ihn mit vielsagendem dämonischen Lächeln an, hebt langsam die Hand zum Hitlergruß und verharrt in dieser Stellung mehrere Sekunden. Er zollte auf diese Weise seinem Henkersknecht seine Anerkennung. Schließlich wendet sich Mildner ab und steigt, immer wieder jovial mit erhobener Hand nach rechts und links die SS-Leute zur Verabschiedung grüßend, über die Leichen hinweg dem Ausgang zu.


In der Abteilung II ist man unterdessen emsig dabei, die Exekutionsprotokolle zu schreiben. Todesursache: Mehrere Brustdurchschüsse, darunter ein Herz- und zwei Lungenschüsse ... so heißt es im allgemeinen. Man ist sehr vorsichtig und wird auch in diesen Geheimprotokollen niemals schriftlich festlegen, daß es im nationalsozialistischen Deutschland die von der Propaganda so erfolgreich ausgeschlachteten Genickschüsse gibt.


Auf diese Weise starben die von SS-Obersturmbannführer Dr. Mildner zum Tode Verurteilten. Es gab aber auch viele Exekutionen, die durch den Strang auszuführen waren. Im Hof von Block 11 befanden sich für diese Zwecke 12 versenkbare Galgen. Sie konnten in die Erde geschoben und die Öffnungen mit Holzdeckeln verschlossen werden, wie Reckpfosten in einer Turnhalle. Um Menschen zu vernichten, entwickelte man in Auschwitz viel Erfindungsgeist. Bei einer öffentlichen Erhängung von dreizehn polnischen Ingenieuren, die als »Sühnemaßnahme« für einen Fluchtversuch eines Häftlings der Bauleitung vor den angetretenen Häftlingen im Lager auf dem Platz vor der Häftlingsküche ausgeführt wurde, leistete sich SS-Hauptsturmführer Aumeier einen Beweis seiner beispiellosen Roheit. Eine Eisenbahnschiene lag auf zwei Pfosten. Die Stricke, mit denen die Häftlinge an die Schiene gehängt worden waren, sind zu kurz gewesen, so daß die Fallstrecke nicht ausreichte, um durch den Bruch der Halswirbel einen schnellen Tod herbeizuführen. Die Schemel waren schon vor mehreren Minuten unter den Füßen der Opfer weggezogen worden, und noch immer verkrampften sich ihre Körper in konvulsivischen Bewegungen. Obwohl Aumeier die Meinung vertrat, daß man sie »ruhig eine Weile zappeln lassen« sollte, war das ihm diesmal doch zu lange. Er gab dem Exekutionskommando den Befehl: »Ranhängen!« – Die umstehenden Häftlinge ballten heimlich die Fäuste und der Anblick, wie diese einer »Vergeltungsmaßnahme« zum Opfer gefallenen Menschen zu Tode gemartert wurden, trieb ihnen Tränen der Wut in die Augen.

Nach Erschießungen im Krematorium oder im Block 11 konnte man häufig beobachten, daß selbst den Toten keine Ruhe gelassen wurde. Ein SS-Arzt, meist SS-Hauptsturmführer Kitt oder SS-Obersturmführer Dr. Weber, stürzte sich auf die noch warmen Leichen und schnitt aus den Schenkeln und dem Gesäß Fleisch für die bakteriologischen Kulturen des Hygieneinstitutes. Dieses Institut, das vom Lager abgesetzt an der Straße nach Raiske lag, wurde von SS-Obersturmführer Dr. Weber geleitet. Weber war vor allem Bakteriologe. Im allgemeinen war von diesem Institut nur bekannt, das dort Häftlinge, die zum größten Teil Experten auf dem Gebiet der Chemie und der Bakteriologie waren, in mehreren Laboratorien tätig waren. Zu dem Hygieneinstitut gehörte der Block 10 im Stammlager, in dem mehrere hundert Jüdinnen für Versuchszwecke untergebracht waren. Der Block 10 wurde hermetisch von der Umwelt abgeschlossen. Im Erdgeschoß waren Laboratorien und Krankenzimmer mit Betten. Der erste Stock, der einen durchgehenden großen Raum bildete, war mit dreistöckigen Betten eingerichtet für die nicht fest liegenden »Versuchsobjekte«. Von Zeit zu Zeit wurden die gehfähigen Gefangenen in geschlossener Ordnung unter Bewachung im Lagerbereich spazieren geführt. Sorgfältig wurde darauf geachtet, daß sie nicht mit anderen Häftlingen in Berührung kamen, um das Geheimnis der Dinge, die sich im Block 10 abspielten, möglichst zu wahren. In diesem Block führten Professor Glauberg und der Leutnant Dr. Schumann mit einigen gefangenen jüdischen Spezialwissenschaftlern Forschungen über Fleckfieber, Sterilisation auf dem Strahlenwege und künstliche Befruchtung aus. Namentlich das Sterilisationsverfahren kostete zahlreichen Menschen, an denen es ausprobiert wurde, das Leben. Die Versuche über künstliche Befruchtung waren mit äußerst schmerzhaften operativen Eingriffen verbunden, die bei klarem Bewußtsein der betreffenden Person vorgenommen wurden. Keiner der SS-Ärzte empfand die Experimente im Block 10 als das, was sie darstellten, nämlich als ein bestialisches Verbrechen. Die Versuchsobjekte waren ja Juden, die vogelfrei waren und kein Lebensrecht besaßen.


Revolte in Budy

Budy ist ein kümmerliches kleines Dörfchen, das etwa 4 Kilometer vom KZ-Auschwitz entfernt liegt und aus nur wenigen armseligen Bauernhäusern besteht. Der größte Teil von ihnen ist unbewohnt und verfallen, weil sich die polnische Bevölkerung zum Teil »freiwillig« zum Arbeitseinsatz in Deutschland gemeldet hatte und teilweise in Konzentrationslagern steckte, weil sie irgendwie »den friedlichen Neuaufbau des Ostens« sabotiert haben sollte. Für Arbeiten auf den Feldern, die nun zum Interessengebiet des Lagers gehörten, wurde dort ein Außenlager von Auschwitz errichtet. Das abseits gelegene Schulhaus und eine große Baracke dienten als Häftlingsunterkünfte. Der das Ganze umgebende einfache Stacheldrahtzaun, der weder nachts elektrisch geladen noch ausreichend beleuchtet war, ließ vermuten, daß hier weniger gefährlich scheinende Häftlinge gefangen gehalten wurden. Es handelt sich um ein Frauenlager. Im Erdgeschoß des Schulgebäudes wohnten die Block- und die Lagerälteste, beide Reichsdeutsche und ehemalige Prostituierte. Außerdem war dort die Küche und das Krankenrevier eingerichtet. Oben in dem mit zwei Fenstern versehenen Dachboden befanden sich die Schlafstätten von mehreren deutschen Anweisungshäftlingen und einer größeren Anzahl von Jüdinnen. Die meisten Häftlinge waren in der Baracke untergebracht. Es handelte sich um Jüdinnen, Ukrainerinnen und Polinnen, insgesamt 300 bis 400. Die landschaftliche Umgebung des Lagers mit ihren Wiesen, Wäldern und Seen ist zu schön, als daß man auf den Gedanken kommen könnte, hier Hunger, Grausamkeit und Verzweiflung zu vermuten. Und doch sind diese mit jedem Konzentrationslager unzertrennlich verbundenen Erscheinungen mit dem Außenkommando auch in dieses idyllische Fleckchen Erde eingezogen.

Grabners Vertreter, Kriminalassistent Wesnitza, ein weiterer Vernehmungssachbearbeiter und zwei Schreiber müssen an einem Herbstmorgen des Jahres 1942 sofort Schreibmaschinen und Papier zusammenpacken und in den vor dem Kommandanturgebäude wartenden geräumigen Kübelwagen einsteigen. Es wird nicht gesagt, was eigentlich los ist, aber nach Grabners Miene zu urteilen, muß es etwas Besonderes sein. Der Wagen fährt in schnellem Tempo in Richtung Budy. Einige Meter vor dem Lager versperrt ein Posten den Weg. Als er Grabner erkennt, entschuldigt er sich und erklärt, daß der Kommandant ihm befohlen habe, keine Unbefugten die Straße passieren zu lassen. Der Wagen fährt weiter bis zum Lager, wo Grabner alles aussteigen läßt. Er hatte schon unterwegs beiläufig angedeutet, daß sich in Budy eine Revolte ereignet hätte. Neugierig treten die Angehörigen der Abteilung II durch das Lagertor. Der Posten erweist eine Ehrenbezeugung. Ein undefinierbares Singen und Summen schwingt in der Luft. Da erblicken die Augen etwas so Grauenhaftes, daß es geraume Zeit dauert, ehe das Bewußtsein es aufnehmen kann. Auf dem Platz hinter und neben dem Schulgebäude liegen kreuz und quer Dutzende verstümmelter und blutverkrusteter Frauenkörper. Sie sind alle nur mit Häftlingshemden bekleidet. Zwischen den bereits Toten winden sich Halbtote. Ihr Stöhnen mischt sich mit dem Brummen gewaltiger Fliegenschwärme, die über klebrigen Blutlachen und zerschmetterten Schädeln kreisen, zu jenem eigentümlichen Singen, das sich die Ankömmlinge zuerst nicht zu erklären vermochten. Mehrere Leichen hängen in verkrampften Stellungen in dem Stacheldrahtzaun. Andere sind offensichtlich aus dem noch geöffneten Bodenfenster herausgestürzt worden.

Grabner gibt den Befehl, einige noch einigermaßen Vernehmungsfähige von den am Boden liegenden herauszusuchen und als Zeugen über das Geschehene zu vernehmen. Wesnitza steigt zwischen den Körpern herum und sucht vergeblich nach Opfern dieser Bluttat, die noch zu sprechen vermögen. Er kann aber niemand finden, und so nimmt man als Zeugen einige leichter Verletzte, die gerade am Brunnen ihre Wunden reinigen. Die Ermittlungen ergeben folgendes Bild.

Die für dieses Außenkommando als ständige Wachposten abgestellten SS-Leute pflegten während der Arbeit die reichsdeutschen Anweisungshäftlinge immer wieder dazu aufzustacheln, die Jüdinnen zu schlagen. Den deutschen Häftlingen wurde angedroht, daß sie anderenfalls selber durch die Postenkette gejagt und »auf der Flucht erschossen« würden. Diese vertierten SS-Posten empfanden es als eine angenehme Art des Zeitvertreibs, sich an den Qualen der mißhandelten Juden zu weiden. Die Folge dieses unerträglichen Zustandes war nun, daß die deutschen Anweiserinnen in ständiger Furcht des bösen Gewissens lebten, einmal bei günstiger Gelegenheit der strafenden Rache der Gepeinigten zum Opfer zu fallen, die nur noch ein Schreckensdasein führten. Die Jüdinnen, die zum großen Teil aus gebildeten Kreisen stammten, beispielsweise einst Studentinnen der Sorbonne oder Künstlerinnen waren, dachten jedoch mit keinem Gedanken daran, sich auf das Niveau dieser groben, deutschen Sittendirnen zu stellen und einen Vergeltungsanschlag anzuzetteln, der nur zu verständlich gewesen wäre.

Als am vergangenen Abend eine Jüdin vom Abort in den Schlafraum oben im Schulhaus zurückkehrte, glaubte eine Deutsche, einen Stein in ihrer Hand erkannt zu haben. Natürlich war das eine hysterische Einbildung. Unten am Tor hatte ein Posten Wache, mit dem sie, wie allgemein den anderen Häftlingen bekannt war, ein Liebesverhältnis unterhielt. Sie rief aus dem Fenster um Hilfe, da sie angeblich von einem jüdischen Häftling geschlagen würde. Alle Posten, die als Wache das Lager umstanden, stürzten daraufhin die Treppe herauf und schlugen, gemeinsam mit den entmenschten deutschen Anweiserinnen, wahllos auf die Jüdinnen ein. Sie warfen sie die winkelige Treppe hinunter, so daß eine über die andere fiel. Einige wurden aus dem Fenster geschleudert und blieben leblos draußen liegen. Die Posten trieben auch einen Teil der jüdischen Häftlinge aus der Baracke auf den Hof. Die Anstifterin dieses Gemetzels blieb im Schlafraum alleine mit ihrem Geliebten zurück. Wahrscheinlich war das ihre eigentliche Absicht gewesen. Mit Knüppeln, Gewehrkolben und Schüssen wurde unterdessen auf dem Hof die »Revolte« niedergeschlagen. Sogar eine Axt diente einem der weiblichen Capos als Mordwerkzeug. In ihrer Todesangst versuchten ein paar Jüdinnen durch den Stacheldraht zu kriechen und dem Gemetzel zu entrinnen. Sie blieben jedoch hängen und wurden umgebracht. Als schon alles am Boden lag, hieben die in einen Blutrausch geratenen Teufel immer noch auf die Wehrlosen ein. Sie wollten vor allen Dingen auch alles töten, um zu verhindern, daß ihre Greueltaten später von Zeugen berichtet werden könnten. Gegen fünf Uhr morgens wurde der Kommandant von der angeblichen Meuterei, die erfolgreich erstickt wurde, in Kenntnis gesetzt. Er fuhr nach Budy und besah sich die Spuren der Blutorgie. Ein paar Leichtverletzte, die sich Schutz suchend unter Leichen verkrochen hatten, standen nun auf und wähnten sich gerettet. Nach einem kurzen Umblick verließ SS-Sturmbannführer Höß jedoch wieder diesen Schreckensort. Als er kaum fort war, wurden sie niedergeschossen. In den Vormittagsstunden des folgenden Tages erschien der SS-Erkennungsdienst und SS-Sanitäter, »um sich der Verletzten anzunehmen«. Sie nahmen sich auch der Leichtverletzten an, denen es gelungen war, sich zu Beginn des Dramas irgendwo zu verstecken, und die nicht voreilig wieder zum Vorschein gekommen waren, sobald deren Vernehmung abgeschlossen war. Vom Erkennungsdienst wurde die Szenerie von allen Seiten photografiert. Unter strengster Kontrolle ist später im Entwicklungsraum von jedem Bild nur ein Abzug hergestellt worden. Die Platten mußten in Gegenwart des Kommandanten vernichtet werden. Die Bilder wurden ihm zur Verfügung gestellt.


In einem freigemachten Zimmer walteten die SS-Sanitäter ihres Amtes. Ein Opfer nach dem anderen, in dem noch etwas Leben steckte, wurde hereingezerrt. Ein geübter Griff setzte unter der linken Brust eine Spritze an. In Sekundenschnelle brach die so »behandelte« Patientin tot zusammen. Zwei Kubikzentimeter Phenol, ein billiges Desinfektionsmittel, waren ins Herz gespritzt worden. Draußen auf der Treppe hockte regungslos eine ältere Frau. Seit Jahren war sie schon wegen ihrer religiösen Überzeugung in Konzentrationslagern, um dort im nationalsozialistischen Sinne erzogen und zu der Erkenntnis gebracht zu werden, daß »die Internationale Bibelforscher-Vereinigung eine Irrlehre verbreite«. Sie war unfähig, über das Erlebte hinwegzukommen. Voller Entsetzen sahen die übrigen Häftlinge, wie man auf der einen Seite des Hauses die Halbtoten und auch durchaus Lebensfähige hineinschleifte und auf der anderen Seite Tote heraustrug, die auf einen Holzwagen geworfen wurden.


Sechs deutsche Anweiserinnen, die sich mehr oder weniger an der Untat beteiligt hatten, vor allem die. »Axtkönigin«, die Elfriede Schmidt hieß und eine Schlächtermamsell war, wurden in den Block 11 eingeliefert. Nach ihrem Verhör und dem Schuldbekenntnis lagen sie, für immer zum Schweigen gebracht, in der Leichenhalle des Krematoriums. Kaum sichtbare rote Einstichpunkte unter der linken Brust verrieten, auf welche Weise sie ihr Ende gefunden hatten. Die Eltern bekamen, wie das so üblich war, vom Kommandanten tief empfundene Beileidsschreiben. Ihnen wurde mitgeteilt, daß ihre Tochter am Soundsovielten mit der und der Krankheit in den Häftlingskrankenbau eingeliefert wurde und daß es »trotz bester medikamentöser Pflege und ärztlicher Behandlung nicht gelungen sei, der Krankheit Herr zu werden«. Ein nicht zu überbietender Zynismus sprach aus dem Schluß eines solchen schablonenmäßig hergestellten Briefes, in dem es hieß, daß die Verstorbene keine letzten Wünsche geäußert habe und den Angehörigen das Beileid des Kommandanten zu »diesem schmerzlichen Verlust« ausgesprochen wurde. Sogar die Urne wurde auf Verlangen übersandt. Jeder, der die Verbrennungsmethode in Auschwitz kannte und der wußte, daß stets mehrere Leichen gleichzeitig in einem Ofen eingeäschert wurden, empfand diese Farce als Hohn. Die Personalakten der sechs getöteten Frauen schloßen sich mit einem ärztlichen Bericht über den Verlauf der »Krankheit« und die näheren Umstände, die den Tod herbeiführten. Der SS-Lagerarzt setzte seine Unterschrift unter diese Urkunden. Die Berichte waren von einem medizinisch geschulten Häftling abgefaßt worden, der nichts anderes im Krankenbau zu tun hatte, als für jeden im Lager auf irgendeine Weise verstorbenen Schutzhäftling einen derartigen Text mehr oder weniger zusammenzudichten. Alle die unzähligen Opfer, die mit »Strafmeldung 2« in Block 11 erschossen oder als Kranke mit Phenolspritzen »geimpft« wurden, die verhungerten oder an den Folgen einer bestialischen Vernehmung starben, waren – wie aus den Totenakten hervorging – durch ganz natürliche Krankheiten bedauerlicherweise ums Leben gekommen, für deren tückischen Verlauf natürlich niemand etwas konnte.

Durch den Tod der sechs Anweiserinnen war nach Ansicht der Lagerführung das Verbrechen von Budy in ausreichendem Maße gesühnt. Der Postenführer wurde verwarnt, und die Posten durften in Zukunft das Lager nicht mehr betreten. Der Häftlingsbestand wurde aufgefüllt, es kamen ja täglich Juden!


Das Massaker an den Sowjetischen Kriegsgefangenen

Im Winter 1941/42 wurden etwa 12000 russische Kriegsgefangene nach Auschwitz transportiert. Aus trockenen Ziffern der Registratur ging hervor, daß von diesen kaum ein halbes Jahr später nur noch 150 lebten. Diesen restlichen gelang es allerdings, das Vertrauen der SS-Leute, speziell der Schutzhaftlagerführung, zu erwerben und in Arbeitskommandos unterzukommen, die Lebensmöglichkeiten boten. Mit der Zeit vertraute man ihnen sogar in solchem Maße, daß sie bei Fluchten aus dem Bereich der großen Postenkette als Suchkommando eingesetzt wurden. Daß sie niemals einen Häftling ausfindig zu machen vermochten, der sich versteckt hatte, um dann in der Dunkelheit das Weite zu suchen, ist niemand als eigenartig aufgefallen. Betroffen erhielt die Lagerführung eines Abends die Meldung, daß 90 Russen geschlossen bei einer Suchaktion die Postenkette durchbrochen hätten und entflohen seien. Die sofort mit Spürhunden und der gesamten verfügbaren Truppe durchgeführte Verfolgung brachte keinen nennenswerten Erfolg. Aber wie verschwindend wenigen gelang es, lebend aus dem Lager Birkenau herauszukommen im Vergleich zu den vielen Tausenden, die verhungert sind oder ermordet wurden. Aber um Russen machte man sich ebenso wenig Sorgen wie um Juden. Abgesehen von diesen 12000 Kriegsgefangenen wurden laufend Russen und Ukrainer eingeliefert, die entweder den Kommandanten irgendwelcher Kriegsgefangenenlager als politisch zu aktiv oder widerspenstig erschienen oder sogar von Einheiten überstellt wurden, die aus Russen bestanden und auf deutscher Seite kämpften. Die letzteren kamen wegen »politischer Unzuverlässigkeit« oder weil sie verdächtigt wurden, früher sowjetische Kommissare gewesen zu sein, nach Auschwitz. In der Regel wurden diese, ehe sie recht begriffen hatten, wo sie überhaupt hingekommen waren, schon im Block 11 erschossen. So erging es auch denjenigen Russen, Kosaken und Kaukasiern, die den dem SD unterstehenden, für politischen Einsatz hinter den russischen Linien ausgebildeten Einheiten angehörten. Sobald einer irgendwie unangenehm auffiel, landete er in Auschwitz. Völlig ahnungslos kamen diese Russen oftmals mit einem Wagen angefahren. Sie fielen aus allen Wolken, wenn ihnen der Fahrer, ein deutscher SD-Mann, mitteilte, daß sie da zu bleiben hätten, und er alleine wieder abfuhr. So ging es namentlich vielen Russen des sogenannten Kommandos »Zeppelin«, das dicht bei Auschwitz von einem SS-Untersturmführer ausgebildet wurde für nachrichtendienstliche Verwendung. Niemand, am allerwenigsten ihre ehemaligen Kameraden, wußte etwas von ihrem Verbleib. Russische Zwangsarbeiter, die aus Hunger oder Sehnsucht nach der Heimat ihre Arbeitsstellen verließen, um ostwärts zu wandern, wurden im Ergreifungsfalle auch in Schutzhaft genommen. Der Haftgrund hieß kurz und bündig »Arbeitsvertragsbruch«, und ein quer über die erste Seite ihrer Personalakte gedruckter roter Stempel lautete: »Vereinfachtes Verfahren! Sowjetische Arbeitskraft!« Das hieß, daß auf ihre Entlassung kein Wert gelegt wurde. Auch, ob sie schuldig oder unschuldig, spielte keine Rolle, es waren eben »sowjetische Arbeitskräfte«. Davon waren ja genug da, und es war absolut gleichgültig, ob einige Tausend mehr oder weniger starben.

Die 1941/42 nach Auschwitz eingelieferten Russen kamen in das zu dieser Zeit neu entstehende Nebenlager Birkenau. Ein unglaubliches Elend hat sich dort abgespielt. Der Hunger ließ die Menschen wahnsinnig werden. Über jeden Fraß, jede Runkelrübe stürzten sie sich gierig. Leiterwagenweise wurden jeden Abend die Toten in das Krematorium nach Auschwitz gefahren. Die Halbtoten, die diese unbeschreiblichen Qualen nicht mehr zu ertragen vermochten, krochen freiwillig auf die Wagen und wurden dann wie das Vieh totgeschlagen. Ein Russe lag einmal auf dem Leichenhaufen eines Leiterwagens. Es war kaum noch Leben in ihm. Der Kopf baumelte kraftlos über die eine Seitenstange. Ein SS-Mann griff daraufhin zu einem Knüppel und schlug ihn mit aller Gewalt gegen den Kopf. Der Russe wurde zurückgeworfen, fiel aber wieder nach vorne, und sein Kopf hing nun unter der Stange heraus. Ein zweiter Schlag schleuderte den Kopf des schon Leblosen wieder über die Seitenstange. Dem SS-Mann schien das Spaß zu machen. Obwohl der unglückliche Gefangene tot war, setzte er die Schläge fort, bis der Kopf nur noch eine formlose, blutige Masse war. Ein anderer SS-Mann empfand ein Vergnügen dabei, sich auf den Körper halbtot am Boden Liegender zu stellen und ihnen mit dem Gewehrkolben die Kehle oder das Genick abzuquetschen. Schließlich beschloß die Lagerführung, auf ihre Weise diesem Elend ein Ende zu bereiten. Tausende von Kriegsgefangenen wurden in einem Wäldchen bei Birkenau erschossen und in mehreren Schichten übereinander in großen Massengräbern vergraben. Die Gräber waren etwa 50 bis 60 Meter lang, 4 Meter tief und mochten ebenso breit sein. Die Lagerführung hatte das Russenproblem zu ihrer Zufriedenheit gelöst! Dann kam aber der Zeitpunkt, wo in allen deutschen Zeitungen das Geschrei um Katyn losging. Die Lagerführung erinnerte sich unangenehm berührt ihrer Russengräber. Gleichzeitig beschwerten sich die Fischereien, daß in den großen Fischteichen in der Umgebung von Birkenau, beispielsweise bei Harmense, die Fische eingingen. Sachverständige sahen die Ursache dieser Erscheinung in der Vergiftung des Grundwassers durch Leichengift. Aber damit nicht genug. Die Sommersonne brannte auf den Boden von Birkenau, die nicht verwesten, sondern nur faulenden Leichen begannen sich zu regen, und aus der aufbrechenden Erdkruste brodelte eine schwarzrote Masse, die einen mit Worten nicht zu beschreibenden Gestank verbreitete. Es mußte also beschleunigt etwas geschehen. Angesichts Katyns konnte man sich nicht solche Massengräber gestatten, in denen sich die Leichen offensichtlich nicht zersetzten und darüberhinaus wieder zum Vorschein kamen. Der SS-Hauptscharführer und spätere Obersturmführer Franz Hößler, der in Belsen 1945 dingfest gemacht werden konnte, bekam den Auftrag, unter Aufbietung aller Geheimhaltungsmöglichkeiten die Leichen ausgraben und verbrennen zu lassen. Er suchte sich zur Durchführung dieser Aufgaben etwa 20 bis 30 besonders zuverlässige SS-Leute aus, die eine Erklärung unterschreiben mußten, gemäß welcher sie im Falle der Verletzung ihrer Geheimnispflicht oder irgendwelcher Andeutungen bezüglich der Art ihres Dienstes mit dem Tode bestraft wurden. Natürlich mutete man diesen SS-Männern nicht zu, auch nur einen einzigen Spatenstich zur Beseitigung dieser Schandtaten selbst auszuführen. Dazu hatte man ja genügend Häftlinge. Mit einigen Hundert Menschen jüdischen Glaubens aus allen von den Deutschen besetzten Ländern ging Hößlers Sonderkommando in zwei Schichten an die Arbeit. Viele von den Häftlingen weigerten sich, durch Pistolenschüsse wurden sie liquidiert. Die SS-Männer, unter deren Aufsicht die Ausgrabung und Verbrennung der faulenden, aber noch einigermaßen erhaltenen Kadaver durchgeführt wurde, konnten sich jeden Abend in der SS-Küche eine Sonderverpflegung abholen: 1 Liter Milch, Wurst, Zigaretten und natürlich auch Schnaps. Die Häftlinge des Sonderkommandos wohnten im Birkenauer Lager in durch Bretterzäune von den übrigen Häftlingsunterkünften getrennten Blöcken. Wochenlang sah man aus dem vom Lager etwas entfernter liegenden Gelände, das nicht mehr so sumpfig, sondern landschaftlich sehr reizvoll war, an mehreren Stellen dicke, weißliche Qualmwolken zum Himmel emporsteigen. Obwohl niemand ohne besonderen Ausweis auch nur in die Nähe dieser Stellen kommen durfte, verriet doch der Geruch, daß die die weißen Wolken über Birkenau umgebenden Gerüchte zu Recht bestanden. Schwere Strafen hatten die SS-Leute zu erwarten, falls Häftlinge dieses blutigen Kommandos entfliehen sollten. In einer Nacht trieb der Wind den unerträglichen Qualm dicht über der Erde hin. Auf der betreffenden Seite hielt es kein Posten aus. Diesen Umstand hatten sich zwei Häftlinge zu Nutze gemacht, die wußten, daß sie nur noch etwas zu gewinnen, aber nichts mehr zu verlieren hatten, und waren im Schutze des Qualms von der Brandstelle in den dicht angrenzenden Wald gesprungen. Ihr Fehlen fiel erst anläßlich einer zwei Stunden später durchgeführten Zählung auf. Mehrere Häftlinge wurden als Zeugen vernommen, eine großangelegte Suchaktion wurde gestartet, aber umsonst, die Häftlinge waren entkommen. Der Kommandant tobte. Wie sollte man das dem Reichsführer48 beibringen? Was könnte geschehen, wenn die beiden Häftlinge, ein französischer und ein griechischer Jude, ins Ausland gelangten oder auch der deutschen Bevölkerung von diesen Vorgängen in Birkenau etwas erzählen würden? Es war nicht auszudenken! Die Posten, die man für die Flucht verantwortlich machte, wanderten für viele Monate nach Matzkau, dem Straflager für Angehörige der Waffen-SS bei Danzig. Ein anderes Mal rannten in einem Moment, wo ein Posten durch die Mittagshitze und den betäubenden Qualm schläfrig geworden war, von einer anderen Brandstelle zwei Häftlinge in verschiedenen Richtungen davon. Der Posten, SS-Schütze Strutz, war so verblüfft, daß er nicht wußte, auf welchen er schießen sollte. Ehe er sich besonnen hatte, waren die beiden Flüchtlinge im Unterholz verschwunden. Er wäre rettungslos auch für längere Zeit nach Matzkau gekommen und saß schon mit bangem Gesicht bei der Abteilung II zur Vernehmung, als eine ihn rettende Meldung eintraf. Die beiden armen Teufel hatten sich in dem dichten Wald verlaufen, einen Kreis beschrieben und waren in der Nähe von Auschwitz in einer Scheune überrascht worden, wo sie vor Hunger und Erschöpfung eingeschlafen waren. Nach eingehenden Verhören, die in erster Linie klären sollten, ob noch weitere Häftlinge des Sonderkommandos zu fliehen beabsichtigten und ein erschütterndes Bild menschlicher Verzweiflung ergaben, wurden sie beide in den Block 11 gebracht, aus dem es für sie keine Rückkehr mehr gab. Der SS-Schütze Strutz nahm mit leichtem Herzen wieder seinen Dienst auf und nahm sich vor, künftig besser aufzupassen.


Hössler stand bei seinen Aufgaben in Birkenau auch ein sehr eifriger Gehilfe zur Seite, der SS-Hauptscharführer Moll. Moll und Palitzsch dürften wohl zu den größten Schlächtern dieses vergangenen Krieges gehören. Palitzsch's Karriere endete in Matzkau. Seine natürlich nur zum Wohle Großdeutschlands und aus tiefempfundener weltanschaulicher und rassischer Überzeugung begangenen Massenmorde hinderten ihn nicht daran, ruhig mit verschiedenen – unter anderen auch jüdischen – Staatsfeinden intime Beziehungen anzuknüpfen, soweit sie weiblich, jung und hübsch waren. Die nachher ausgestoßenen Drohungen, daß er sie im Falle, daß sie »undicht« würden, umlegen werde, vermochten sein Schicksal nicht aufzuhalten. Sein Verhältnis mit einer Jüdin kam zu seinem Glück nicht heraus. Statt dessen brachte ihm ein Liebesverhältnis mit dem lettischen Schutzhäftling Vera Lukans und die in Auschwitz sehr verbreitete Sitte, sich von den Häftlingen bei ihrer Einlieferung abgenommenen Wertsachen einige zur Sicherung des Lebensabends beiseite zu legen, eine mehrjährige Freiheitsstrafe ein. SS-Hauptscharführer Moll bekam für seine aufopfernde Tätigkeit in Birkenau das Kriegsverdienstkreuz erster Klasse. Auch Hößlers Brust zierte das KVK. Grabner und der Kommandant überlegten ernsthaft, ob sie nach den Fluchtfällen beim Sonderkommando nicht alle dazugehörenden Häftlinge »sonderbehandeln« – wie man sich offiziell auszudrücken pflegte, wenn Mord gemeint war – sollten. Es erschien ihnen dann aber doch fürs erste noch nicht erforderlich, das Kommando war auch gut eingearbeitet! Außerdem starben ja durch Infektion mit Leichengift sowieso dauernd welche, die dann durch neue Häftlinge, ausschließlich Juden, ersetzt wurden. Nach mehrwöchiger Arbeit waren schließlich die Spuren des Birkenauer Russenschlachtens getilgt. Das Sonderkommando sollte jedoch nicht zur Ruhe kommen!

Im Block 11 gab es neben den Zellen mit einem kleinen Fensterchen, durch das man zwar nicht hinaussehen konnte, weil es tiefer als die Erdoberfläche lag, aber immerhin doch Luft spendete, auch Dunkelzellen. Ein schmaler Luftkanal, der in den an der Außenwand befestigten mysteriösen Blechkästen endete, gewährte kaum die notwendige Atmungsluft. Vierzig Russen erstickten einmal in so einer Zelle, die man mit aller Gewalt hineingepreßt hatte und die sich buchstäblich nicht zu rühren vermochten. Außer diesen Dunkelzellen, die immerhin etwa acht Quadratmeter Grundfläche aufwiesen, vervollständigten die menschenquälenden Einrichtungen dieses Gebäudes vier Stehzellen. In einer solchen Kammer, deren Grundfläche etwas über einen halben Quadratmeter betrug und in die natürlich auch kein Lichtstrahl fiel, haben viele Gefangene furchtbare Stunden und sogar Wochen verlebt. Es war unmöglich, sich hinzusetzen. In kauernder Stellung hockten sie in der Finsternis. Wenn im Winter grimmige Kälte herrschte, war dieser Aufenthaltsort, in dem man sich nicht einmal durch Bewegung zu wärmen vermochte, besonders qualvoll. »Stehbunker« gab es für Häftlinge, die man »vernehmungsreif« werden lassen wollte, und – ebenso wie Dunkelzelle – als offizielle Strafvollziehung. Um bei Vernehmungen positive Ergebnisse zu erzielen, bediente man sich auch oft einer mittelalterlichen Folter. Auf dem Dachboden dieses furchtbaren Blockes 11 wurden die Delinquenten an den auf den Rücken zusammengebundenen Handgelenken aufgehängt. An den Füssen wurde ebenfalls ein Strick befestigt, so daß der an den nach hinten verdrehten Armen hängende Körper gestreckt werden konnte. Da jedoch die auf diese Weise an »dem Pfahl« gefolterten Häftlinge nach einer Viertelstunde im allgemeinen ohnmächtig wurden, sind nach der Einführung der »Schaukel« die Einvernahmen nur noch mit ihrer Hilfe durchgeführt worden.


Gas

Eines Tages zerrte man aus einer Dunkelzelle die Leichen russischer Kriegsgefangener. Sie sahen, als sie auf dem Hof lagen, eigentümlich aufgedunsen und bläulich aus, obwohl sie noch verhältnismäßig frisch waren. Einige ältere Häftlinge, die den Weltkrieg mitgemacht hatten, erinnerten sich, schon während des Krieges solche Leichen gesehen zu haben. Plötzlich wurde es ihnen klar, um was es sich hier handelte ... Gas!

Der erste Versuch zu dem größten Verbrechen, das Hitler und seine Helfershelfer vorhatten und auch zu einem erschreckenden und nicht mehr gut zu machenden Teil ausgeführt haben, war zufriedenstellend geglückt. Das größte Drama, dem Millionen glücklicher und unschuldig sich ihres Daseins freuender Menschen zum Opfer fallen sollten, mochte beginnen!

Bei der ersten Kompanie des SS-Totenkopfsturmbannes KL-Auschwitz sucht der Spieß, SS-Hauptscharführer Vaupel, sechs besondere zuverlässige Männer heraus. Er bevorzugt Leute, die schon lange Angehörige der schwarzen Allgemeinen SS waren. Sie müssen sich bei SS-Hauptscharführer Hößler melden. Er empfängt sie und macht sie eindringlich darauf aufmerksam, daß sie gegen jedermann über alles, was sie in den nächsten Minuten zu sehen bekommen werden, strengstes Stillschweigen zu bewahren haben. Andernfalls droht ihnen Todesstrafe.

Die Aufgabe dieser sechs Männer besteht darin, in einem gewissen Umkreis um das Auschwitzer Krematorium alle Wege und Straßen hermetisch abzusperren. Ohne Berücksichtigung des Dienstgrades darf niemand durch. Die Büroräume der Gebäude, von denen man aus das Krematorium sehen kann, müssen geräumt werden. Im SS-Truppenrevier, das im ersten Stock eines dicht beim Krematorium stehenden Hauses eingerichtet ist, darf sich niemand ans Fenster begeben, da man von dort aus sowohl auf das Dach als auch in den Vorhof dieser finsteren Stätte Ausblick hat. Als alle Vorbereitungen getroffen sind und Hößler sich davon überzeugt hat, daß in dem abgesperrten Gebiet keine unbefugten Personen mehr anzutreffen sind, bewegt sich ein trauriger Zug durch die Straßen des Lagerbereiches. Er kommt von der Rampe, die sich zwischen dem Truppenwirtschaftslager und den Deutschen Ausrüstungswerken neben dem ins Lagergebiet führenden Eisenbahngleis entlangzieht. Dort wurden die Menschen, die nun langsam einem unbekannten Ziel entgegen ziehen, aus den Viehwaggons ausgeladen. Alle tragen große gelbe Judensterne an der armseligen Kleidung. Ihren verhärmten Gesichtern sieht man an, daß sie schon vieles durchgemacht haben. Meist sind es Ältere. Aus ihren Gesprächen geht hervor, daß sie bis zu dem überraschenden Abtransport irgendwo in Fabriken an Maschinen gearbeitet haben, daß sie arbeitswillig sind und sich auch weiterhin mit allen Kräften nützlich machen wollen. Von wenigen Posten, die keine Gewehre, sondern nur unauffällig Pistolen in den Taschen tragen, wird der Zug zum Krematorium geleitet. Die SS- Leute versprechen den hoffnungsvoll aufatmenden Menschen, daß sie alle ihrem Beruf entsprechend eingesetzt würden. Sie handeln streng nach den ihnen von Hößler erteilten Instruktionen. Während bisher bei Zugängen, die ins Lager eingeliefert wurden, jeder Wachmann durch rohe Stockschläge dafür sorgte, daß »der Abstand beibehalten wurde«, fiel diesmal nicht ein böses Wort. Umso teuflischer war das Ganze! Die beiden Flügel des großen Einfahrtstores zum Krematorium öffnen sich. Nichts Böses ahnend, geht die Kolonne in Fünferreihen in den Vorhof. Drei- bis vierhundert Menschen waren es. Etwas nervös wartet der am Tor stehende SS-Mann, bis der Letzte eingetreten ist. Hastig schließt er das Tor und schiebt die Riegel vor. Grabner und Hößler stehen auf dem Dach des Krematoriums. Grabner spricht zu den völlig ahnungslos im Hof ihr weiteres Geschick abwartenden Juden. »Ihr werdet jetzt gebadet und desinfiziert, damit wir im Lager keine Seuchen bekommen. Dann kommt ihr in eure Unterkünfte, wo euch eine warme Suppe erwartet, und werdet euren Berufen gemäß zur Arbeit eingesetzt. Zieht euch jetzt hier auf dem Hof aus und legt eure Kleidungsstücke vor euch auf den Boden.« Willig leistet alles dieser in freundlichem, warmherzigem Ton gehaltenen Aufforderung Folge. Einige freuen sich auf die warme Suppe, andere sind froh darüber, daß die nervenzermürbende Ungewißheit über das weitere Schicksal von ihnen genommen ist und daß sich ihre schlimmen Ahnungen nicht erfüllt haben. Alle fühlen sich nach den Sorgen etwas geborgen. Grabner und Hößler geben vom Dach aus beruhigend klingende Ratschläge. »Stellen Sie ihre Schuhe dicht neben das Kleiderbündel, damit Sie sie nach dem Baden wiederfinden können!« – »Ob das Wasser warm ist? Aber natürlich, warme Brausen«. – »Was sind Sie von Beruf? Schuster? Brauchen wir dringend, melden Sie sich nachher mal gleich bei mir!« – Solche und ähnliche Redensarten beseitigen den letzten Zweifel etwa noch Mißtrauischer. Die ersten begeben sich durch den Vorraum in die Leichenhalle. Alles ist peinlichst gesäubert. Nur der eigenartige Geruch wirkt auf einige beklemmend. Vergebens suchen sie an der Decke nach Brausen oder Wasserleitungen. Unterdessen füllt sich die Halle. Scherzend und sich harmlos unterhaltend, kommen einige SS-Leute mit hinein. Unauffällig behalten sie den Eingang im Auge. Als der Letzte hereingekommen ist, setzen sie sich ohne Aufhebens ab. Plötzlich fliegt die mit Gummiabdichtungen und Eisenverschlägen versehene Tür zu, und die Eingeschlossenen hören schwere Riegel fallen. Mit Schraubverschlüssen wird sie luftdicht zugepreßt. Ein bleiernes, lähmendes Entsetzen packt alle. Sie pochen gegen die Türe, hämmern in ohnmächtiger Wut und Verzweiflung mit den Fäusten dagegen. Höhnisches Gelächter ist die Antwort. »Verbrennt euch nicht beim Baden«, ruft irgendeiner durch die Türe. Einige bemerken, daß die Verschlußdeckel von den sechs Löchern an der Decke abgenommen werden. Sie stoßen einen lauten Schrei des Grauens aus, als in dem Ausschnitt ein Kopf mit einer Gasmaske erscheint. Die »Desinfektoren« sind am Werk. Einer ist der bereits mit dem KVK geschmückte SS-Unterscharführer Teuer. Mit einem Ringeisen und einem Hammer öffnen sie ein paar ungefährlich aussehende Blechbüchsen. Die Aufschrift lautet: »Zyklon, zur Schädlingsbekämpfung. Achtung, Gift! Nur von geschultem Personal zu öffnen!« Bis an den Rand sind die Dosen mit blauen, erbsengroßen Körnern gefüllt. Schnell nach dem Öffnen wird der Inhalt der Büchsen in die Löcher gefüllt. Der Verschluß wird jedesmal schnell auf die Öffnung gedeckt. Grabner hat unterdessen einem Lastwagen, der neben dem Krematorium vorgefahren ist, ein Zeichen gegeben. Der Fahrer hat den Motor angeworfen, und ein ohrenbetäubender Lärm übertönt den Todesschrei hunderter den Gastod erleidender Menschen. Grabner betrachtet mit wissenschaftlichem Interesse den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr. Zyklon wirkt schnell. Es besteht aus Zyanwasserstoff in gebundener Form. Wenn man die Büchsen ausschüttet, entweicht den Körnern das Blausäuregas. Einer der Teilnehmer dieses bestialischen Unternehmens läßt es sich nicht nehmen, für Bruchteile einer Sekunde noch einmal den Deckel einer Einfüllöffnung abzunehmen und in die Halle zu spucken. Nach etwa zwei Minuten ebben die Schreie ab und gehen in ein summendes Stöhnen über. Die meisten sind schon ohne Bewußtsein. Nach weiteren zwei Minuten senkt Grabner die Uhr. Alles ist vorbei. Tiefe Stille herrscht. Der Lastwagen ist abgefahren. Die Posten werden eingezogen, und ein Aufräumungskommando sortiert die Anzüge, die säuberlich zusammengelegt im Vorhof des Krematoriums liegen. Geschäftig laufen wieder SS-Leute und im Lagerbereich beschäftigte Zivilarbeiter an dem grün bewachsenen Hügel vorbei, auf dessen künstlichen Hängen sich kleine Bäumchen friedlich im Winde wiegen. Nur verschwindend wenige wissen, welch grauenerregendes Geschehen sich vor Minuten hier abspielte und welches Bild sich hinter der grünen Rasenfläche in der Leichenkammer bietet. Das im Krematorium arbeitende Häftlingskommando öffnet, nachdem einige Zeit später das Gas durch den Exhaustor abgesaugt worden ist, die Türe zur Leichenkammer. Mit weit aufgerissenem Mund lehnen etwas in sich zusammengesackt die Leichen aneinander. An der Türe sind sie besonders eng aneinander gepreßt. Dorthin hatte sich in der Todesangst alles gedrängt, um sie zu sprengen. Die völlig apathisch und empfindungslos gewordenen Häftlinge des Krematoriums verrichten wie Roboter ihre Arbeit. Es ist schwer, die ineinander verkrampften Leichen aus der Kammer zu zerren, weil durch das Gas die Glieder steif geworden sind. Dicke Qualmwolken quellen aus dem Schornstein. So fing es an im Jahre 1942!


Transport auf Transport verschwand im Auschwitzer Krematorium. Jeden Tag! Es kamen immer mehr Opfer, und das Morden mußte in größerem Stil organisiert werden. Die Leichenhalle faßte zu wenig. Die Verbrennung der Leichen dauerte zu lange. Und Hitler wartete ungeduldig auf die Vernichtung von Millionen französischer, belgischer, holländischer, deutscher, polnischer, griechischer, italienischer, slowakischer, tschechischer und ungarischer Juden, die in Viehwagen aus Sammellagern wie zum Beispiel Verne bei Paris, Westerberg in Holland, Theresienstadt in der Tschechoslowakei und aus Antwerpen, Warschau, Saloniki, Krakau, Berlin, später auch Budapest usw. herbeitransportiert wurden. Birkenau war ausbaufähig! Nach einem Jahr sah es schon anders aus.



Zwei kleine Bauernhäuser

In einiger Entfernung von dem sich lawinenartig vergrößernden Birkenauer Lager standen durch ein Wäldchen voneinander getrennt inmitten einer lieblichen Landschaft zwei hübsch und sauber aussehende Bauernhäuser. Sie waren blendend weiß getüncht, mit gemütlichen Strohdächern bedeckt und heimischen Obstbäumen umgeben. So war der erste, flüchtige Eindruck! Daß in diesen unscheinbaren Häuschen so viele Menschen ermordet wurden, wie der Bevölkerungsziffer einer Großstadt entspricht, würde niemand für möglich halten. Dem aufmerksamen Betrachter dieser Häuser würden erst einmal Schilder in verschiedenen Sprachen auffallen, auf denen stand »zur Desinfektion«. Dann würde er bemerken, daß die Häuser keine Fenster und unverhältnismäßig viele und merkwürdig starke Türen mit Gummidichtungen und Schraubverschlüssen besaßen, neben denen kleine Holzklappen angebracht waren, daß in ihrer Nähe und kaum zu ihnen passend mehrere große Pferdestallbaracken errichtet waren, wie sie auch im Birkenauer Lager als Häftlingsunterkünfte dienten und daß die Zufahrtswege offenbar von schwer beladenen Lastautos ausgefahren worden waren. Wenn der Besucher dann noch die Entdeckung machte, daß von den Türen zu irgendwelchen durch Reisigzäune abgedeckten Gruben im Hintergrund eine Lorenbahn führte, dann vermutete er wohl eine besondere Bedeutung dieser Stätte.

Durch die Baracken des Kommandanturstabes des KZ-Auschwitz poltert der U.v.D5. Die Trillerpfeife gellt durch die nächtliche Stille. »Transport ist da!« Müde und fluchend springen die SS-Männer der Fahrbereitschaft, der Aufnahmeabteilung, der Gefangenen- Eigentumsverwaltung, der Schutzhaftlagerführung und die Desinfektoren, die während dieser Nacht Transport-Bereitschaftsdienst haben, aus den Betten, die mit feinsten Daunendecken ausgestattet sind. »Verdammt nochmal! Das geht aber mit den Transporten wie am laufenden Band, keinen Augenblick kommt man mehr zur Ruhe, was ist denn jetzt für einer?« – »Ich glaube Paris. Im Bahnhof steht aber schon der aus Westerbork, den wollen sie in kurzer Zeit auf die Rampe schieben. Für morgen früh ist übrigens ein großer Transport aus Theresienstadt gemeldet.« – »Donnerwetter! Die in Lublin machen wohl überhaupt nichts mehr. Alles kommt jetzt zu uns. Na, hoffentlich haben die Franzosen wenigstens eine Menge Ölsardinen mitgebracht!« – Währenddessen hat man sich angezogen. Vor der Baracke werden Motorräder angetreten und starten in die Nacht. Aus der großen Garage der Fahrbereitschaft rollen sechs große Lastwagen und fahren in Richtung zur Transportrampe in Birkenau davon. Das Sanitätspersonal fährt in einem Sanitätskraftwagen. Durch das Rütteln auf den ausgefahrenen Straßen fallen immer wieder ein paar Blechbüchsen um und kollern durch den Wagen. »Zyklon« steht auf den Etiketten. Schläfrig hocken die Desinfektoren auf den Seitenbänken. Über ihren Köpfen hängen runde Gasmaskenbehälter, die klappernd aneinanderschlagen. Vorne neben dem Fahrer sitzt SS-Oberscharführer Klehr. Sein ständiger Einsatz beim Transportdienst hat ihm das KVK eingebracht. Während der Sanitätswagen gleich zu den harmlos aussehenden Bauernhäusern fährt, den »Bunkern«, wie diese Gaskammern allgemein bezeichnet werden, sind die Lastwagen und die Motorräder an der Rampe angelangt. Auf einem Nebengleis des Rangierbahnhofes steht ein langer Zug geschlossener Güterwagen. Die Schiebetüren sind mit Draht plombiert. Scheinwerfer überfluten den Zug und die Rampe mit grellem Licht. Aus kleinen, mit Stacheldraht vergitterten Luken sehen ängstliche Gesichter aus den Wagen. Die Bereitschaft der Truppe hat um den Zug und die Rampe Aufstellung genommen. Der Führer der Bereitschaft meldet dem für die Abwicklung des ganzen Transportes verantwortlichen SS-Führer, daß die Posten aufgezogen sind. Die Wagen können jetzt entladen werden. Der Führer des Begleitkommandos, das den Zug während der Fahrt zu bewachen hatte, fast immer ein Polizeioffizier, übergibt dem SS-Mann der Aufnahmeabteilung die Transportliste. Auf dieser Liste steht, woher der Transport kommt, die Zugnummer und die Namen, Vornamen und Geburtsdaten aller Juden, die mit ihm nach Auschwitz gebracht wurden. Die SS-Männer der Schutzhaftlagerführung sorgen unterdessen dafür, daß die Gefangenen aussteigen. Ein buntes Durcheinander herrscht auf der Rampe. Elegante Französinnen in Pelzmänteln und mit seidenen Strümpfen, hilflose Greise, Kinder mit Lockenköpfen, alte Mütterchen, Männer in den besten Jahren, teilweise in eleganten Gesellschaftsanzügen und teilweise in Arbeiterkleidung. Mütter mit Säuglingen auf dem Arm und Kranke, die von hilfsbereiten Menschen getragen werden, verlassen den Zug. Als erstes werden Männer von Frauen getrennt. Herzzerreißende Abschiedsszenen spielen sich dabei ab. Ehegatten trennen sich, Mütter winken ihren Söhnen zum letzten Male zu. Die beiden Kolonnen stehen in Fünferreihen mehrere Meter voneinander entfernt auf der Rampe. Wen der Abschiedsschmerz überwältigt und wer noch einmal hinüberstürzt, um dem geliebten Menschen die Hand zu geben, ihm noch ein paar trost spendende Worte zu sagen, den schleudert der Schlag eines der SS-Männer zurück. Nun beginnt der SS-Arzt, die Arbeitsfähigen von den seiner Meinung nach Arbeitsunfähigen zu trennen. Mütter mit kleinen Kindern sind prinzipiell auch arbeitsunfähig, ebenso alle Menschen, die auf ihn einen schwächlichen oder kränklichen Eindruck machen. Transportable Holztreppen werden hinten an die Lastwagen geschoben, und die von dem SS-Arzt als arbeitsunfähig aussortierten Leute müssen einsteigen. Die SS-Männer der Aufnahmeabteilung zählen jeden einzelnen, der über diese Treppe geht. Ebenso zählen sie dann alle Arbeitsfähigen, die zum Marsch in das Männer- bzw. in das Frauenlager antreten müssen. Das gesamte Gepäck muß auf der Rampe zurückgelassen werden. Den Gefangenen wird erklärt, es würde mit Autos nachgefahren. Das stimmt schon, aber die Gefangenen sehen von ihrem Eigentum nichts wieder, sondern ihr gesamter Besitz wandert in die Tresore, Magazine und Küchen der SS-Verwaltung. Kleinere Beutel mit dem Notwendigsten und das, was sie auf dem Leibe tragen, verlieren sie dann noch bei der Aufnahme im Lager. Ein Bild unsäglichen Jammers bieten diese armseligen Opfer eines wahnsinnigen Vernichtungswillens, wenn sie die Aufnahme in der Sauna des Lagers hinter sich haben. Einst elegante, lebenslustige Frauen und junge Mädchen sind nun geschoren, auf dem linken Unterarm mit einer Häftlingsnummer tätowiert und mit einem sackartigen, blau-weiß gestreiften Kittel bekleidet. Die meisten brachen nach kurzer Zeit unter der Schwere dieses Schicksals zusammen.

Unterdessen sind die Lastwagen mit allen denen, die nicht zum Arbeitseinsatz im Lager vorgesehen sind, abgefahren. Die SS-Leute werden gefragt, was die in der Ferne sichtbaren, großen Feuer zu bedeuten hätten. Mürrisch geben sie wenig überzeugende Antworten. Sie geben sich meistens keine große Mühe mehr, die Gefangenen über ihr weiteres Schicksal hinwegzutäuschen. Die ständigen Enthüllungen ausländischer Sender über Deutschland haben bewirkt, daß die Unglücklichen ahnen, was ihnen in Auschwitz bevorsteht. Viele können es jedoch bis zur letzten Sekunde nicht für möglich halten, daß die Deutschen, die sich doch vor der Welt in der Rolle der stets wegen ihrer Humanität zu kurz kommenden Denker und Dichter gefallen, zu solchen barbarischen Taten fähig sind.

Auf der Rampe ist ein Häftlingskommando damit beschäftigt, die herumliegenden Koffer und Kisten auf Wagen zu verladen und fortzuschaffen. Der Lokomotivführer, der den Leerzug schon längst hätte wegziehen können, ist bemüht, sich möglichst lange bei der Rampe aufzuhalten. Er hämmert im Gestänge der Lokomotive herum und paßt eine günstige Gelegenheit ab, um rasch von den auf der Rampe herumliegenden Lebensmitteln oder Wertsachen etwas zu stehlen. Die SS-Leute der Aufnahmeabteilung vergleichen geschäftsmäßig das Ergebnis ihrer Zählungen mit den Zahlen auf der Transportliste. Kleinere Differenzen spielen keine Rolle. Am nächsten Morgen liegt unter der Glasplatte von Grabners Schreibtisch ein kleiner Zettel. Lakonisch steht darauf: Zugänge am ... mit Transport Nr. ... 4722, davon Arbeitsfähige: 612, nicht Arbeitsfähige: 4110. Jeder SS-Mann bekommt dann noch einen Bon für Sonderverpflegung und Schnaps. Ein Fünftelliter für jeden Transport. Kein Wunder, daß Alkohol beim Kommandanturstab in Strömen fließt. Die höheren Persönlichkeiten, also prominente Führer des Lagers, bekommen für jeden Transport automatisch einen Bon, auch wenn sie sich nicht im geringsten darum gekümmert hatten. Die Rampe ist nach kurzer Zeit wieder leer, und es stehen nur noch die Holztreppen herum, über die hunderttausend von Menschen gestiegen sind, deren Leben nur noch nach Minuten befristet war.

Die Lastwagenkolonne ist mehrmals hin und hergefahren, um die zum Sterben verurteilten Menschen alle zu den Bunkern zu fahren. In den Pferdestallbaracken müssen sie sich ausziehen. Dann werden sie in die Gaskammern gepreßt. Oftmals haben die auf eine Desinfektion hindeutenden Beschriftungen, die Redereien der SS-Leute und vor allem das vertraueneinflößende Aussehen der Häuschen bei den Todeskandidaten die Hoffnung und den Glauben erstarken lassen, daß sie tatsächlich auch zur Arbeit, nur eben ihrer körperlichen Verfassung entsprechend leichterer, verwendet werden sollten. Oftmals wußten aber auch ganze Transporte genau, was man mit ihnen vorhatte. In solchen Fällen müssen sich die Mörder vorsehen. Sonst könnte es ihnen so ergehen, wie dem SS-Unterscharführer Schillinger, der mit seiner eigenen Pistole erschossen wurde. Mit dem Moment, wenn alle in den Gaskammern eingesperrt und die Riegel hinter ihnen vorgeschoben sind, ist für die meisten SS-Leute ihr Dienst beendet. Genau wie bei den Vergasungen, die früher im alten Krematorium in Auschwitz vorgenommen wurden, waltet dann der »Desinfektor« seines Amtes. Nur den ratternden Lastwagen glaubt man hier draußen nicht nötigt zu haben. Wahrscheinlich wußten die maßgeblichen SS-Dienststellen nicht, daß die Bewohner des kleinen nicht weit ab liegenden Dörfchens Wohlau, das jenseits der Weichsel liegt, oftmals nachts Zeugen dieser Schreckensszenen waren. Beim hellen Schein der in den Gruben brennenden Leichen vermochten sie den Zug nackter Gestalten zu erkennen, der aus den Auskleidebaracken in die Gaskammern schritt. Sie hörten die Schreie der bestialisch Geschlagenen, die nicht in diese Todesräume hineingehen wollten, hörten die Schüsse, mit denen alles niedergemacht wurde, was aus Platzmangel nicht hineingedrückt werden konnte. Tagsüber sahen polnische Zivilarbeiter, die im Lagerbereich in einigen hundert Metern Entfernung von den als Gaskammern verwendeten Bauernhäusern neue große Krematorien bauten, wie Häftlinge irgend etwas aus den Türen zerrten, auf platte Lorenwagen luden und damit zu den Gruben fuhren, aus denen immer und ewig Rauchwolken emporstiegen. Tausend und mehr Leichen wurden in so einer Grube von Spezialisten aufeinandergeschichtet. Dazwischen kamen Holzschichten. Mit Methanol wurde dann die »Freilichtbühne« in Brand gesetzt. Genauso, wie die SS-Leute von Auschwitz mit System und Freude mordeten, waren sie aber auch eifrig dahinter her, ihre Kassen zu füllen. Wenn eine Gaskammer geöffnet wurde und die Leichen nach Abzug des Gases von den zu dieser furchtbaren Arbeit gezwungenen Häftlingen herausgezogen worden waren, dann begann ein zu dieser schauerlichsten Tätigkeit bestimmter Unglücklicher mit besonderen Instrumenten den Toten die Goldzähne aus dem Mund zu brechen und sie in einem Topf zu sammeln. Selbst die Haare der in der Sauna geschorenen Zugänge wurden in Geld umgesetzt! Fragte man einen SS-Mann angesichts der auf dem Boden umherliegenden Leichen von Männern und Frauen, von Kindern mit schlafenden Mienen, warum denn diese Menschen ausgerottet werden müssen, dann bekam man im allgemeinen die ihm völlig genügende Erklärung zu hören: »Das muß so sein!« Die Propaganda, die bei diesen Menschen auf einen allzu aufnahmebereiten Boden fiel, ihre sadistischen und größenwahnsinnigen Veranlagungen und ihre geistige Beschränktheit hatten bewirkt, daß sich diese nicht die Bezeichnung Mensch verdienenden Kreaturen als Repräsentanten einer höchstentwickelten Rasse fühlten, der das Recht zustand, einer anderen alle Lebensberechtigung abzusprechen und sie sogar mit allen Mitteln auszurotten. Sie sahen in einem Juden einfach keinen Menschen. Vor allem fand das Sprichwort: »Des einen Tod ist des anderen Brot« wohl nirgends eine so zutreffende Anwendung, wie in diesem Vernichtungslager. Die Mordbuben von Auschwitz lebten bis zum 17. Januar 1945, als die vordringende russische Armee diesem Spuk ein Ende bereitete, in Saus und Braus.

Himmler war unzufrieden geworden mit den Auschwitzer Vernichtungsmethoden. Es ging in erster Linie viel zu langsam. Auf der anderen Seite verbreiteten die großen Scheiterhaufen einen solchen Gestank, daß die Gegend im Umkreis von vielen Kilometern verpestet wurde. Nachts sah man meilenweit den über Auschwitz rot gefärbten Himmel. Ohne die riesigen Scheiterhaufen wäre es ja undenkbar gewesen, die Unzahl der Toten, die im Lager verstorben waren, und die Leichen aus den Gaskammern zu beseitigen. Der Schornstein des Auschwitzer Krematoriums hatte sowieso schon durch Überhitzung gefährliche Risse bekommen. Obwohl man geschwätzige Posten drakonisch bestrafte und ihnen die Schuld daran zuschrieb, daß der Schleier des Geheimnisses nicht mehr dicht war, konnte man doch nicht verhindern, daß der eindeutige, süßliche Geruch und der nächtliche Flammenschein die Kunde von den Vorgängen in dem Todeslager Auschwitz zumindest der näheren Umgebung zutrug. Eisenbahner erzählten der Zivilbevölkerung, daß täglich Tausende nach Auschwitz transportiert würden und sich das Lager doch nicht dem entsprechend vergrößerte. Die Transportbegleiter der Polizei bestätigten diese Berichte. Der Erfolg war, daß ein Gauredner in der Stadt Auschwitz vor einem zum größten Teil renitenten Publikum die Segel streichen mußte. Im Lager selbst empfanden viele SS-Leute die Empörung der deutschen Presse über Katyn und die Gegenüberstellungen mit der eigenen Ethik, Moral und sittlich hochstehenden Art der Kriegsführung als eine ausgesprochene Belustigung, über die man ehrlich amüsiert lachte. Die Wachtruppe hatte einen zu tiefen Einblick in die Vergasungsaktionen erhalten, die ja eigentlich nur das Sonderkommando wissen sollte. Der Leiter der Abteilung VI, SS-Oberscharführer Knittel, der für Truppenbetreuung und weltanschauliche Erziehung verantwortlich war und wegen seiner theatralischen Art von der Wachmannschaft ablehnend als Truppenheiland bezeichnet wurde, mußte in Vorträgen mit aller Kraft gegen eine um sich greifende üble Stimmung anrennen. Immer wieder hörte man aus dem Munde einfacher Wachsoldaten, daß sie sich nicht vorstellen könnten, jemals wieder entlassen und freie Menschen zu werden. Um das Geheimnis zu wahren, würden sie wohl als letzte in die Gaskammern marschieren, mutmaßten einige. Es ist bezeichnend, daß jeder es als eine Selbstverständlichkeit ansah, daß Himmler die einem solchen Schritt notwendige Charakterlosigkeit und Brutalität aufbrachte. Die Stimmung wurde dadurch verschärft, daß angeblich wegen der Gefahr der Verbreitung von Seuchen annähernd ein Jahr lang Lagersperre verhängt wurde. Jeder wußte aber, daß der eigentliche Grund darin bestand, nicht so viele Geheimnisträger mit der Zivilbevölkerung in Berührung kommen zu lassen.

Empörung der Ukrainischen SS

In Auschwitz war auch eine Kompanie Ukrainer zum Wachdienst eingesetzt worden. Diese waren besonders empfänglich für die Ansicht, daß die Wachtruppe eines Tages liquidiert würde, zumindestens sie als Ausländer. Zum ersten Mal traten Symptome dieser Einstellung klar zu Tage, als die Ukrainer in die Truppensauna zur Entlausung gehen sollten. Sie weigerten sich und betraten die Sauna erst, nachdem ein reichsdeutscher SS-Unterscharführer vorangegangen war. Das Mißtrauen und die feindselige Gesinnung gegen die Deutschen geriet in Kreisen der ukrainischen Wachkompanie immer mehr in Gärung. Eines Nachts war die Katastrophe da! Etwa 20 Ukrainer waren mit Gewehren, Maschinenpistolen und Munition bewaffnet entflohen. Die verfügbare Truppe wurde mobilisiert und hinterhergejagt. Die Ukrainer hatten sich, als sie von der SS erreicht wurden, in einem Steinbruch verbarrikadiert und lagen in günstigen Stellungen. Der Feuerkampf dauerte einen Tag und endete damit, daß die SS zwei und die Ukrainer sieben Tote hatten. Sechs Ukrainer hatten Selbstmord einer Gefangennahme vorgezogen. Einer wurde leicht verwundet und ergriffen, der Rest entkam. Da man sich aber in Auschwitz auch nach der Hinrichtung des Wiederergriffenen und drei angeblicher Mitwisser vor erneuten Komplotten nicht sicher fühlte, wurden alle ukrainischen Wachleute in das KZ Buchenwald versetzt.

Todesfabrik

Diese ganzen Vorkommnisse deuteten darauf hin, daß es höchste Zeit sei, die öffentlichen Scheiterhaufen verschwinden zu lassen, um die für die Zukunft noch viel umfangreicher geplanten Judenaktionen unter strengerer Geheimhaltung durchzuführen. Der Bau der vier neuen Krematorien in Birkenau wurde mit allen Mitteln forciert. Zwei waren mit unterirdischen Gaskammern ausgestattet, in denen man je ca. 4000 Menschen gleichzeitig töten konnte. An die beiden anderen, etwas kleineren Krematorien waren zwei dreiteilige Gaskammern zu ebener Erde angebaut worden. Außerdem befand sich in jeder dieser Mordfabriken eine gewaltige Halle, wo sich die »Ausgesiedelten« zu entkleiden hatten. Im Krematorium eins und zwei waren diese Hallen ebenfalls unterirdisch. Eine etwa zwei Meter breite Steintreppe führte hinab. Bevor jedoch alle vier Krematorien überhaupt fertiggestellt waren, war bei dem bereits in Betrieb genommenen Krematorium eins der Schornstein wegen Beanspruchung geborsten und reparaturbedürftig. Die Krematorien eins und zwei waren mit je fünfzehn Öfen für je vier bis fünf Leichen ausgestattet. Die Zentral-Bauleitung des KZ Auschwitz war so stolz auf ihre Leistung, daß im Vestibül ihres Hauptgebäudes eine Zusammenstellung von Bildern aus dem Krematorium öffentlich ausgehängt wurde. Man ließ vollkommen außer acht, daß die Zivilisten, die dort aus- und eingingen, durch eine Großaufnahme von fünfzehn säuberlich nebeneinander liegenden Verbrennungsöfen wohl weniger zu Betrachtungen über das technische Können der Bauleitung als vielmehr zum Nachdenken über die doch sehr zweifelhaften Einrichtungen des Dritten Reiches angeregt werden würden. Grabner sorgte zwar sehr bald dafür, daß diese eigenartige Propaganda sofort eingestellt wurde, konnte jedoch nicht verhindern, daß die Bauleitung dieses Bauvorhaben mit zahlreichen Zivilarbeitern durchführte, die natürlich die Anlagen der Krematorien genauestens kannten und draußen von dem Gesehenen berichteten.

Im Frühjahr 1944 erlebte Auschwitz seinen Höhepunkt. Lange Eisenbahnzüge pendelten zwischen dem Nebenlager Birkenau und Ungarn hin und her. Alle ungarischen Juden sollten schlagartig vernichtet werden. Der frühere Kommandant von Auschwitz, SS-Sturmbannführer Höß, der nun Chef der Amtsgruppe DI des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes in Berlin war, leitete als verantwortlicher Mann die Aktion. In Birkenau war zu jener Zeit SS-Hauptsturmführer Kramer Kommandant, der später in Belsen sein Wesen trieb. Eine bis zu den neuen Krematorien führende dreigleisige Eisenbahnanlage ermöglichte es, daß ein Zug entladen wurde und der nächste schon einfuhr. Im Durchschnitt trafen täglich 10000 Menschen in Birkenau ein. Der Prozentsatz der zur »gesonderten Unterbringung« – wie man seit einiger Zeit an Stelle von »Sonderbehandlung« sagte – Bestimmten waren bei diesen Transporten besonders hoch. Viele waren während der Reise vor Durst und seelischen Depressionen wahnsinnig geworden. Zu dieser Zeit war der Ruf von Auschwitz schon weit verbreitet. Wenn die in den Viehwagen eingepferchten Menschen durch die kleine Luke beim Durchfahren des Auschwitzer Bahnhofes das Schild mit dem so berüchtigten Namen dieser Stadt gelesen hatten, dann konnte man ihnen keine Märchen mehr erzählen. Alle vier Krematorien arbeiteten auf Hochdruck. Doch bald waren von der pausenlosen Höchstbeanspruchung wieder die Öfen durchgebrannt, und nur das Krematorium drei rauchte noch. Es half nichts, die Scheiterhaufen mußten wieder errichtet werden, um die sich hinter den Krematorien zu tausenden türmenden Leichen verbrennen zu können. Die Gaskammern wurden zur Entlüftung wieder aufgerissen, wenn kaum das letzte Stöhnen verstummt war. Die Lagerstraßen waren schon wieder verstopft mit unendlichen Kolonnen neuer Opfer. Die Sonderkommandos waren verstärkt worden und arbeiteten fieberhaft daran, die Gaskammern immer wieder zu entleeren. Auch eins der weißen Bauernhäuschen war wieder in Betrieb genommen worden. Es trug die Bezeichnung Bunker 5, und Moll trieb dort sein blutiges Handwerk. Die Krematorien eins und zwei leitete SS-Oberscharführer Hussfeld, der schon in Lublin die notwendigen Erfahrungen im Massenmord gesammelt hatte. SS-Oberscharführer Voss war für die Vergasungen und Verbrennung der Leichen in den Krematorien drei und vier verantwortlich. Es ging pausenlos. Man hatte kaum die letzte Leiche aus den Kammern gezogen und über den mit Kadavern übersäten Platz hinter den Krematorien zur Brandgrube geschleift, als schon in der Halle die nächsten zur Vergasung ausgezogen wurden ... Es war kaum möglich, in der Geschwindigkeit die zahllosen Kleidungsstücke aus den Auskleidungsräumen abzutransportieren. Manchmal krähte noch unter einem Kleiderbündel das Stimmchen eines Kindes, das man vergessen hatte. Es wurde herausgezerrt, hochgehalten und von irgendeinem der völlig vertierten Henkersknechte durch den Kopf geschossen. Höß trieb die meist betrunkenen SS-Leute, die in diesen fünf Vernichtungsstellen Dienst hatten, zu höchster Eile an. Die Russen hatten schon ganz Ostungarn besetzt. Es war keine Zeit zu verlieren. Lublin, das berüchtigte Schwesterunternehmen von Auschwitz, befand sich schon in russischer Hand, fiel also bei dieser Aktion mit seinen Gaskammern aus. Man sprach davon, daß Höß schon das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz winke. Wenn man die Zahl derjenigen, die innerhalb dieser wenigen Wochen ermordet wurden, mit einer halben Million angibt, dann dürfte das eher zu tief als zu hoch gegriffen sein. Dazwischen kamen natürlich immer noch die regulären Transporte aus Polen, Theresienstadt usw. Die Stimmung der Häftlinge aller Nationalitäten im Lager war angesichts dieses Massenmordens völlig niedergeschlagen. Dieses furchtbare Sterben, das selbst Auschwitz in dieser Form noch nicht erlebt hatte, löste bei allen Depressionen aus. Viele verloren ihre letzten Anverwandten, die sich aus der Slowakei oder aus Polen in das bis 1944 verschont gebliebene Ungarn gerettet hatten. Die reichsdeutschen Schutzhäftlinge mußten diesem Verbrechen in ohnmächtiger Wut und Scham zusehen und wußten, daß diese einmalige Kulturschande als unauslöschbares Brandmark in die deutsche Geschichte eingehen werde. Die Wochen der Ungarnaktion waren aber der wahnwitzigste Höhepunkt und zugleich die Wende in der Geschichte dieses Vernichtungslagers. Es dauerte nicht mehr allzu lange, und die Judenvergasungen mußten eingestellt werden. Die Deutschen waren aus allen einst besetzten Gebieten wieder zurückgedrängt worden. Die Zeit, während der die Häftlinge in grauer Trostlosigkeit in die Zukunft blickten, war vorbei. Sie wußten, daß der Tag ihrer Befreiung nicht sehr lange auf sich warten lassen würde, und diese Gewißheit ließ sie mit aller Energie durchhalten. Auch die SS-Leute empfanden teilweise schon manchmal ein leises Unbehagen bei der Mahlzeit von Restbeständen griechischer Feigen oder ungarischer Würste. Sie begannen innerlich die Tätowierung unter dem Arm zu verfluchen und wurden im Umgang mit Häftlingen sanft. Das Geschehene ließ sich jedoch nicht mehr ungeschehen machen. Aus den Personalakten wurden alle Schreiben herausgerissen, die irgend etwas mit »Sonderbehandlung« oder »gesonderter Unterbringung« zu tun hatten. Ebenso wurde auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin mit Schriftstücken verfahren, in denen etwas von Prügelstrafen stand.


Aufstand im Sonderkommando



Im Herbst 1944 ereignete sich in Birkenau noch ein furchtbares Blutbad. Die Sonderkommandos der Krematorien waren nicht mehr zu beschäftigen und sollten verringert werden. Mehrere Hundert waren für einen »Transport nach Gleiwitz« bestimmt. Sie wußten, was das zu bedeuten hatte! Man hätte sie einmal im Lastwagen um das Birkenauer Lager herumgefahren, um den anderen Häftlingen im Lager eine Abfahrt vorzutäuschen, und dann wären sie in die Gaskammern transportiert worden. Es gelang den zum letzten entschlossenen Häftlingen, sich aus den Weichsel- Union-Werken, in denen von Gefangenen Geschoßzünder fabriziert wurden, Sprengstoff zu bekommen, mit dessen Hilfe sie sich primitive Handgranaten anfertigten. Aus allen Krematorien war ein gleichzeitiger Ausbruch geplant. Das Signal sollte der Brand, des Krematoriums drei geben. Diese Verzweiflungstat scheiterte. Das Krematorium drei ging zwar in Flammen auf und es glückte auch etwa 80 Häftlingen, aus dem mit Stacheldraht gesicherten Krematorium eins auszubrechen, aber sowohl diese 80 als auch Hunderte aus den anderen Krematorien, namentlich aus Krematorium drei, tagen am Abend dieses Unglückstages erschossen vor der verkohlten Ruine. Was bei dem Ausbruchsversuch aus dem brennenden Krematorium drei nicht ums Leben gekommen war, wurde in die unbeschädigte Gaskammer getrieben. Je 10 der Unglücklichen ließ man heraus. Sie mußten sich auf dem Vorplatz auf den Bauch legen und bekamen den Genickschuß. Der »Transport nach Gleiwitz« war erledigt. Einige Tage später liefen fünf SS-Männer aufgeblasen mit frisch verliehenen Eisernen Kreuzen umher. In einer Ansprache vor der Truppe wies der Kommandant von Auschwitz, SS-Sturmbannführer Beer darauf hin, daß dies der erste Fall sei, wo KZ-Truppen für »heldenhaftes Verhalten bei der Verhinderung eines Massenausbruches« vom Reichsführer Eiserne Kreuze verliehen bekämen.

Liquidierung der Zigeuner

Auf dem Ausrottungsprogramm des Dritten Reiches standen jedoch nicht nur die Juden und die Völker des Ostens, sondern auch die Zigeuner, die als »minderwertige Rasse aus Europa beseitigt werden müßten«. Im Februar 1943 erhielt der Kommandant des KZ Auschwitz ein Fernschreiben des Amtes V vom Reichssicherheitshauptamt, das den Namen Reichskriminalpolizeiamt trug, in dem die Ankunft von mehreren tausend Zigeunern angekündigt wurde. In dem Fernschreiben wurde betont, daß die Zigeuner »einstweilen nicht wie Juden zu behandeln seien«. Ein buntes Völkchen von französischen, ungarischen, tschechischen, polnischen und deutschen Zigeunern traf im Verlaufe der nächsten Wochen in Auschwitz mit Kindern und ihrem tragbaren Hab und Gut ein. Sie wurden in einem besonderen Abschnitt des Lagers Birkenau, dem Zigeunerlager, untergebracht. In Form rot umrandeter Schnellbriefe kamen dann im März die näheren Befehle. Sie besagten, daß auf Befehl des Reichsführers alle Zigeuner »ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad« zum Arbeitseinsatz in Konzentrationslager einzuliefern seien. Ausgenommen werden sollten Zigeuner und Zigeunermischlinge, die feste Wohnsitze hatten, sozial angepaßt lebten und in festen Arbeitsverhältnissen standen. Diese Klausel stand nur auf dem Papier und wurde nirgends beachtet. Da man gerade dieser Zigeuner am leichtesten habhaft werden konnte, bildeten sie den größten Prozentsatz der Lagerinsassen. Mädchen, die in Wehrmachtsdienststellen als Stenotypistinnen tätig waren, Arbeiter der OT, Schüler von Konservatorien und andere Menschen, die eine solide Existenz besaßen und ihr Leben lang ordentlich gearbeitet hatten, befanden sich plötzlich mit geschorenen Haaren, eintätowierter Häftlingsnummer und blau-weißer Kleidung als Häftlinge in einem Konzentrationslager. Aber damit nicht genug, ging der Wahnsinn noch weiter. Hunderte von Soldaten, die nicht einmal wußten, daß sie Zigeunermischlinge waren, wurden vom Fronteinsatz herausgeholt, mußten ihre Uniform ausziehen und kamen ins Konzentrationslager, nur weil sie zwölf oder noch weniger Prozent Zigeunerblut hatten. Träger des Eisernen Kreuzes und anderer Tapferkeitsauszeichnungen waren von heute auf morgen als Asoziale hinter den Stacheldrähten von Auschwitz eingesperrt worden. Den Geheimbefehlen entsprechend hätte auch das nicht geschehen sollen. Zigeunermischlinge, die in diesem Krieg als Soldaten Verdienste erworben hatten, sollten von der Einweisung verschont bleiben, sofern sie bereit waren, sich sterilisieren zu lassen. Die meisten waren aber gar nicht danach gefragt worden, sondern man hatte sie einfach inhaftiert. Allen war eingeredet worden, sie kämen in ein Zigeunerdorf. Die Schreiben, die in Zigeunerfragen vom Reichskriminalpolizeiamt und von der »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« kamen, waren vom Kriminalrat Otto, Dr. Ritter und Böhlhoff unterzeichnet. Etwa 16000 Zigeuner wurden nach Auschwitz transportiert. Schon nach wenigen Monaten hatte eine Fleckfieberepidemie mehr als ein Drittel dahingerafft. Man wollte die Zigeuner vernichten, hatte aber in Berlin allem Anschein nach Angst vor der eigenen Courage und zögerte lange mit einer endgültigen Entscheidung. Im Juli 1944 fielen die Würfel. Himmler hatte befohlen, daß alte Arbeitsfähigen in Lagern verbleiben und die übrigen vergast werden sollten. Die Familien wurden auseinandergerissen. Von ihren Eltern und Kindern haben die zum Arbeitseinsatz bestimmten Mischlinge niemals mehr etwas gehört oder gesehen. Diese Zigeuneraktion war selbst einigen SS-Leuten von Auschwitz zu viel. Sie trafen Bekannte aus ihren Heimatorten und konnten nicht begreifen, warum man bewährte und ausgezeichnete Soldaten ohne jedes Vergehen, nur wegen ihrer rassischen Beschaffenheit in Schutzhaft nahm. Dazu noch ohne Hoffnung auf Entlassung. In vereinzelten, besonders, harten Fällen, die im Gegensatz zu den Erlassen standen, leitete man Entlassungsgesuche der Betreffenden an die Reichszentrale und wies in schonendster Form in dem Begleitschreiben auf den Widerspruch zwischen den Erlassen und der Ausführung hin. Die Kriminalpolizei war auf jeden Fall bestrebt, daß sie ihre den Verfügungen zuwiderlaufenden Maßnahmen nicht zugeben mußte, und lehnte die Gesuche ab. Die Angaben der Zigeuner seien frei erfunden, und die Ermittlungen hätten eindeutig bewiesen, daß er die ihm angeblich verliehenen Auszeichnungen nie besessen hätte. Allgemeine Phrasen, daß er in seiner Gegend weit und breit als Raufbold bekannt gewesen sei, daß häufig Diebstähle, deren Täter man nie habe feststellen können, nach der Inhaftierung des betreffenden Zigeuners aufgehört hätten, sollten den ablehnenden Bescheid überzeugender färben. Die Reichszentrale wußte, daß es der Wille des allmächtigen Reichsführers war, die Zigeuner vom Erdboden verschwinden zu lassen, soweit man sie erfassen konnte. Man wußte, daß die Ausnahmeklauseln nur papierne Dekorationen dieser Ausrottungserlasse waren und daß man sich wegen Milde sehr leicht in Ungnade setzen könnte. Kriminalrat Otto schrieb dann auch nach Auschwitz, er bäte, »dafür zu sorgen, daß in Zukunft derartige Gesuche unterblieben«. Für einzelne Träger hoher Auszeichnungen bequemte man sich allerdings, die Entlassung zu verfügen, falls sie sich sterilisieren lassen würden. Dazu konnte man aber kaum jemand überreden, weil die Sterilisationsmethoden des Hygieneinstituts allzu bekannt geworden waren. Es war etwas von den zahllosen Todesopfern unter den Versuchsobjekten durchgesickert. Andere verzichteten freiwillig auf ihre Entlassung, weil man ihre Frauen und Kinder in Lagerhaft behalten wollte oder weil kurz nach der Zustellung der Entlassungsverfügung ihre bisher noch in Freiheit lebende Familie im KZ eintraf. Ein drastischer Fall ist das Schicksal der Zigeunerfamilie Tikulitsch-Todorowitsch. Bei der neunköpfigen Familie handelt es sich um kroatische Staatsangehörige. Die kroatische Gesandtschaft hatte beim Reichskriminalpolizeiamt ihre Entlassung bewirkt. Da das gesamte Vermögen der Zigeuner, ebenfalls wie das der Juden, »zu Gunsten des Reiches verfallen war«, mußten erst langwierige Verhandlungen vorausgehen, um die Familie in den Besitz ihres Eigentums zu setzen. Im Sommer 1943 sollten sie endlich nach Kroatien überstellt werden. Grabner glaubte das nicht mit seiner Besorgnis um das Staatswohl vereinbaren zu können. Diese harmlosen Zigeuner würden seiner Meinung nach durch ihre Erzählungen über Zustände in Auschwitz die Deutschfreundlichkeit in Kroatien trüben. Er hintertrieb einfach die Entlassungsverfügung, indem er immer wieder nach Berlin berichtete, daß die Familie wegen angeblicher Fleckfieberepidemie in der Entlassungsquarantäne, diese nicht verlassen dürfte. Ein Mitglied nach dem anderen fiel den schweren Lebensbedingungen des Lagers zum Opfer. Schließlich lebte nur noch ein kleiner vierjähriger Junge, der der Liebling aller Häftlinge war und den alle pflegten. Um seine Freilassung aus dem Lager kümmerte sich jedoch niemand mehr. Bei der Auflösung des Zigeunerlagers, bei der die Arbeitsfähigen in die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau und Ravensbrück überstellt wurden, ist er mit den arbeitsunfähigen Kindern und älteren Menschen in den Gastod getrieben worden.

Lasst alle Hoffnung Fahren!

Oftmals trafen wenige Stunden nach der Abwicklung eines Transportes in Auschwitz Blitz-Fernschreiben vom Reichssicherheitshauptamt oder vom SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt ein, die von SS-Sturmbannführer Eichmann oder SS-Obersturmbannführer Liebehenschel, dem späteren Kommandanten von Auschwitz und schließlich von Berlin, unterzeichnet worden waren. Es handelte sich darum, daß, während der Transport schon von Paris oder einem anderen Ausgangspunkt nach Birkenau rollte, durch Interventionen der Auslandspresse einer befreundeten oder verbündeten Macht oder durch eigene Feststellungen sich ergeben hatte, irgendeine Person sei arisch oder dürfte aus anderen Gründen auf keinen Fall mit dem RSHA-Transport in das Vernichtungslager. Alle Personen standen auf der vom Transportführer der Abteilung Aufnahme übergebenen Liste, die auch in dem Büro der Aufnahme aufbewahrt wurde. Diejenigen, die als Häftlinge ins Lager zum Arbeitseinsatz eingeliefert worden waren, wurden in der Registratur der Abteilung II erfaßt. Für diese Personen wurden Personalbögen oder nur Karteikarten ausgestellt. Hinter der Rubrik »Einweisungsgrund« stand »gemäß Erlaß des RSHA Nr. ...« Die Nummer war abhängig von dem betreffenden Land, aus dem der Transport kam. Außerdem wurden die Neuaufgenommenen in einer Zugangsliste zusammengestellt, die nach Haftnummern geordnet war. Die Personen, nach deren Verbleib in derartigen Blltz-Fernschreiben gefahndet wurde, suchte man zuerst in der Zugangsliste. Wenn sie dort unauffindbar blieb, darin war es schon zu spät. Eine Gegenprobe auf der Transportliste bei der Aufnahmeabteilung bestätigte, daß sie mit dem Transport eingetroffen und als arbeitsunfähig sonderbehandelt wurde. Man darf sich nun nicht etwa unter den Arbeitsunfähigen nur Krüppel, Greise und Schwerkranke vorstellen. Bei dem Gedränge auf der Rampe, wo der diensthabende Arzt die Sondierung vornahm, ging es ziemlich willkürlich zu. Höchstens 10 bis 15 Prozent eines jeden Transportes blieben durchschnittlich als Arbeitsfähige am Leben. Trotz allen Lamentos um die angeblich allen am Herzen liegende Erhaltung der Arbeitskräfte erblickte man doch in erster Linie seine Aufgabe darin, in einem Vernichtungslager möglichst viele »Staatsfeinde« auszumerzen. Sonst würden wohl auch kaum täglich Wagen mit Würsten und Fleisch, die an sich für die ohnehin kläglichen Rationen von Häftlingen bestimmt waren, aus dem von SS-Unterscharführer Egersdörfer verwalteten Magazin der Häftlingsküche zur SS-Küche rollen. Es war direkt eine auffallende Verschlechterung der SS-Kost feststellbar, als sich Egersdörfer mit dem Küchenchef der SS-Küche, SS-Oberscharführer Scheffler, überworfen hatte und aus diesem Grunde die »Sonderzuteilungen« ausblieben. Die Unlogik, daß man auf der einen Seite die Arbeitskraft und die Produktion auf Höchsttouren bringen will und andererseits die Lebensbedingungen der Häftlinge in jeder Beziehung unerträglich gestaltet und massenhaft gesunde Menschenleben vernichtet, ist bezeichnend für die Zustände in Konzentrationslagern gewesen.

Wenn Anfragen des Reichssicherheitshauptamtes eintrafen, die längere Zeit zurückliegende Transporte betrafen, dann war in der Regel gar nichts mehr festzustellen. Ältere Transportlisten wurden nämlich vernichtet. Über das Schicksal der betreffenden Person war dann in Auschwitz nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Der Nachgefragte »sitzt nicht ein und hat auch nicht eingesessen« oder »ist nicht karteimäßig erfaßt«, wie es in der Antwort allgemein formuliert wurde. Jetzt, nach der Räumung von Auschwitz und der Verbrennung aller Schriftstücke und Akten, ist über den Verbleib von Millionen Menschen undurchdringliches Dunkel gebreitet. Es existieren keine Transport- oder Zugangslisten mehr.

Während die RSHA-Transporte einzig und allein der Ausrottung von Juden in allen von Deutschland einstmals [besetzten] europäischen Ländern dienten, wurde in allen anderen Fällen aus politischen Gründen gegen irgendwelche Personen Schutzhaft, bezw. aus kriminellen [Gründen] Vorbeugungshaft von der geheimen Staatspolizei oder der Kriminalpolizei verfügt. Das ganze System war eine Schöpfung des nationalsozialistischen Regims und hatte den Sinn, unliebsame Volksgenossen und aus irgend einem Grunde verdächtig oder gefährlich scheinende Ausländer ohne viel Aufhebens und ohne gerichtliche Verhandlungen auf beliebig lange Zeit oder für immer verschwinden lassen zu können. Für keinen KZ-Insassen, abgesehen von einem verschwindend kleinen Prozentsatz krimineller Häftlinge, hatte nach den Paragraphen des Deutschen Rechts die Rechtfertigung einer Inhaftierung vorgelegen. Reine Willkür konnte hier unkontrollierbar schalten und walten. In zahllosen Fällen wußte der Schutzhäftling gar nicht, weshalb er überhaupt eingesperrt worden war. Namentlich bei den Terrormaßnahmen im besetzten Ausland war es an der Tagesordnung, daß haltlose Verdächtigungen und persönliche Mißgunst der Stapobeamten Menschen in Konzentrationslager brachte, die sich keiner Schuld bewußt waren. Für die oftmals aus privaten Interessen höherer Stapo- und SS-Führer erfolgte Einlieferung in Schutzhaftlager sei der Fall Koch erwähnt. Der Ingenieur Georg Koch aus Breslau war als angeblicher Kriegsgewinnler nach Auschwitz überführt worden. Zu einer ordentlichen Gerichtsverhandlung hatte das gegen ihn vorliegende Material natürlich nicht gereicht, und daher war »bis auf weiteres« Schutzhaft über ihn verhängt worden. Nach einigen Monaten wurde von der Gestapo Breslau, die für ihn die einweisende Dienststelle war, bei der Kommandantur in Auschwitz die Ankunft eines Gerichtsreferendars namens Horawa angekündigt, dem eine Unterredung mit Koch zu ermöglichen sei. Der Häftling wurde in ein Zimmer der Kommandantur geholt, wo ihm Horawa erklärte, daß ein SS-Brigadeführer sein einen Wert von rund einer Million Reichsmark repräsentierendes Gut zu kaufen wünsche. Koch weigerte sich und entgegnete, daß er das Gut für seinen kriegsbeschädigten Sohn erworben hatte, der als Landwirt umgeschult werden solle. Eindringlich und in unmißverständlich drohendem Tone wies Horawa darauf hin, daß eine Weigerung den sehr einflußreichen Brigadeführer verstimmen und für einen Schutzhäftling wenig erfreuliche Folgen haben könne. Koch wußte, daß er auf Gnade und Ungnade dieser Willkür ausgeliefert war und daß er sich gegen diese gemeine Erpressung in keiner Weise zu schützen vermochte. Er [er]klärte sich schließlich in seiner hilflosen Situation zu dem Verkauf bereit, falls sein Sohn ebenfalls damit einverstanden sei. Siegessicher zog Horawa ab. Er wußte, daß die Zustimmung des Sohnes, der in Sorge war um das Leben seines Vaters, mit einem geschickten Hinweis auf dessen abhängige Lage von der SS ohne Schwierigkeiten zu erhalten sein werde.

Hin und wieder hatte die einweisende Dienststelle einen Haftprüfungstermin festgestellt, der aber fast ebensowenig beachtet wurde, wie eine eventuell angeordnete Behandlung der Gefangenen entsprechend der Lagerstufe 1, 2 oder 3. Diese unterschiedliche Einstufung existierte nur auf dem Papier. In der Wirklichkeit war es so, daß es den Unschuldigen am schlechtesten ging und sie die härtesten Arbeiten zu verrichten hatten, während die Aufsichtshäftlinge, Capos genannt, meist mehrfach vorbestraft, brutale Individuen waren. Wenn dann die einweisende Dienststelle doch einmal auf die Idee kam, einen Häftling zu entlassen, dann forderte sie von der Kommandantur des Konzentrationslagers einen Führungsbericht an, der über seine Arbeitsleistung, seine Führung im Lager und seine politische Einstellung Auskunft geben sollte. Die Anforderung des Führungsberichtes kam zuerst zu Grabner. Der ließ sich die Akte kommen und gab erst einmal sein staatspolizeiliches Urteil ab. Handelte es sich um einen Häftling, der der Intelligenzschicht angehörte, dann hatte er von vornherein kaum noch Hoffnung auf einen günstigen Bericht. War er auch noch Ausländer, dann war es umso aussichtsloser. Grabners Haß gegen die Intelligenz – ihn konnte man ja beim besten Willen nicht dazu rechnen – war grenzenlos. Im übrigen interessierten ihn dann der Einweisungsgrund und die Lagerstrafen. Ja nachdem malte er mit Rotstift eine 1, eine 1/2 oder eine 2 auf das Schreiben und zeichnete es möglichst groß mit seinem geschnörkelten »Gr« ab. 1 bedeutete: positiven Führungsbericht erteilen. Das kam vor allem bei Capos der Lederfabrik, der Ausrüstungswerke, des Schlachthauses, der Molkerei und der Gärtnerei vor, die Grabner hinten herum mit Möbeln, Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln versorgten. Eine 1/2 hieß: diesmal noch negativ, aber die nächste Frage positiv beantworten. Die 2 besagte, daß der Bericht schlecht abzufassen sei. Dann ging die Anforderung, auf diese Weise vorbehandelt, zur Schutzhaftlagerführung. Grabners Wille wurde in jedem Fall respektiert. Wenn auf dem Papier eine 2 stand, dann mochte der Häftling sich noch so große Mühe geben, seine Vorgesetzten zufrieden zu stellen, der Bericht teilte der einweisenden Dienststelle mit, daß er faul, aufsässig und politisch noch sehr undurchsichtig sei. Die Führungsberichte endeten oft ... die bisherige Aufenthaltszeit im Lager hat ihn noch nicht zu einem für die Gemeinschaft wertvollen, anständigen Menschen erzogen. Seine Entlassung lehne ich daher ab. Der Kommandant«. Und Grabner schrieb fast nur Zweier. Traf eine Anfrage der einweisenden Dienststelle ein und waren die KZ-Dienststellen,– in erster Linie also Grabner – dem Häftling günstig gesonnen, dann hatte er Aussicht, nach einiger Zeit entlassen zu werden. Aber bei welch verschwindend kleinem Prozentsatz waren diese beiden Faktoren positiv! Die einweisende Dienststelle mochte noch so oft anfragen, wenn die Führungsberichte schlecht waren, dann konnte man beim Reichssicherheitshauptamt seine Entlassung nicht beantragen. Aber ebenso oft blieben die Anfragen aus. Man sah in Auschwitz eine kleine Anzahl Polen mit auffallend niedrigen Häftlingsnummern. Das waren die wenigen Übriggebliebenen von Transporten, die schon während der Anfangszeit des Lagers von der Gestapo in Krakau und deren Nebenstellen eingeliefert worden waren. Es handelte sich durchweg um Menschen, die nichts verbrochen hatten. Als Geiseln, Opfer von Straßenrazzien oder weil sie angeblich ein Flugblatt einer polnischen Widerstandsbewegung gelesen und nicht abgegeben hatten, waren sie in Schutzhaft genommen worden. Die meisten waren schon dem Lager zum Opfer gefallen. Nicht ein einziger von diesen Transporten ist entlassen worden. Keine Anfrage regte sich, und auf kein Gesuch kam eine Antwort. Es war in Auschwitz bekannt, daß die Gestapo Krakau die Akten dieser Unglücklichen einfach verloren hatte, das nicht zugeben wollte und nun einfach wartete, bis der letzte als verstorben gemeldet würde.

Grabner litt an der an Verfolgungswahn grenzenden Vorstellung, daß von der polnischen Intelligenz im Lager Widerstandsorganisationen und bewaffnete Anschläge vorbereitet würden. In jeder Bagatelle sah er einen staatsgefährlichen Sabotageakt. Da brütete er in seinem größenwahnsinnigen Hirn eine Idee aus, deren ungeheuerliches Ausmaß er überhaupt nicht zu begreifen vermochte. Er ließ alle Personalakten von Polen prüfen, um festzustellen, wer irgendwie zur Intelligenz gerechnet werden könnte. Auf den Umschlag dieser Akten wurde »S« geschrieben, das hieß »Sonderpole«. Insgesamt waren es ungefähr 5000. Diese Häftlinge wollte er nach und nach im Block 11 erschießen lassen. Er sollte jedoch nicht mehr dazu kommen, diesen Plan auszuführen. Ein gerechtes, Sühne vollziehendes Geschick brachte ihn in eine ähnliche Lage, die er tausende von Häftlingen erleiden ließ, nämlich die, ein Todesurteil zu erwarten.


Ehre« eines SS-Mannes

Hitlers Wille, die Juden auszurotten, erstrebte nicht nur das »ideelle, weltanschauliche« Ziel der »Reinigung Europas«, sondern diente auch in gewaltigem Maße der Finanzierung und Unterstützung der Deutschen Kriegswirtschaft. Millionen und abermals Millionen in- und ausländischer Zahlungsmittel wurden allein in Auschwitz im Laufe der Zeit den Zugängen abgenommen. Brillanten, tausende von goldenen Ringen, Ketten und Uhren, Berge von Pelzen, Kleidern und Gegenständen jeglicher Art konnte man in der Geld Verwaltung, der Wertsachenabteilung und in den großen Sortier- und Lagerbaracken der SS-Standortsverwaltung Auschwitz sehen. Die Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände wurden zugweise zur Volksdeutschen Mittelstelle transportiert. Da man organisatorisch nicht mit dem Massenanfall fertig zu werden vermochte, gingen haushohe Stapel von kostbarer Wäsche zu Grunde, da sie wochenlang im Freien lagerten. Kofferweise wurden Schmucksachen, Papier- und Hartgeld in die Keller der Verwaltung geschleppt, weil man mit der Sichtung und Zählung nicht mitkam. Ein ganzer Stab war nur damit beschäftigt, Tag für Tag Unsummen zu zählen. Posten mit Maschinenpistolen bewachten dann die Lastwagen, die mit diesen Schätzen nach Berlin fuhren. So mancher wird sich darüber gewundert haben, daß die SS, die doch zu Beginn des Krieges kaum die notwendigsten Ausrüstungsgegenstände zu kaufen vermochte, wenige Jahre später ganze Straßenzüge mit Repräsentations- und Verwaltungsgebäuden zu kaufen in der Lage war. In Birkenau lagen Zehntausende buchstäblich auf der Straße herum, die von Gefangenen auf dem Marsch von der Rampe zum Lager oder von den Lastwagen während der Fahrt zu den Gaskammern achtlos fortgeworfen worden waren. Die meisten Posten, die auf solche Funde stießen, waren der allzu verlockenden Versuchung nicht gewachsen und gaben trotz der Gefahr, drakonisch bestraft zu werden, nicht alles oder gar nichts bei der Geldverwaltung ab. Am Bahnhof konnte man von obskuren Eisenbahnern und Schwarzhändlern jede beliebige Menge Schnaps kaufen. Die Händler erzielten Riesengewinne. Sie konnten ihre Ware für Golddollar, Rubel oder Reichsmark loswerden, die Kunden verfügten in ausreichendem Maße über alle Zahlungsmittel. Diese Zustände wurden in Berlin bekannt, und man entrüstete sich über diese Korruption und Unmoral. Himmler entsandte eine Sonderkommission, die scharf durchgreifen und vor allem dieses unerwünschte Defizit abstellen sollte. Der Chef dieser Kommission war Dr. Morgan. In Auschwitz amtierten in erster Linie Obersturmführer Reimers, Hauptsturmführer Barth und Hauptsturmführer Dr. Dreher. Alle waren Angehörige der Gestapo. Die Mißstände in Auschwitz hatten bereits solche Formen angenommen, daß in einen Geldbunker der Geldverwaltung eingebrochen worden war. Bei der beängstigenden Menge von Koffern, die noch ungezählte Beträge enthielten, war es jedoch nicht einmal möglich, festzustellen, wie viele Koffer, geschweige denn welchen Betrag der Dieb gestohlen hatte.

Die polnische Widerstandsbewegung war unterdessen unermüdlich tätig, das Geheimnis um Auschwitz zu lichten und der Welt Kunde von dem sich dort abspielenden Verbrechen zu vermitteln. Geflohene Häftlinge und durch im Lagerbereich beschäftigte Zivilarbeiter übermittelte Kassiber brachten viel Material. Es wurde eine Schrift verfaßt, die »Das Todeslager« hieß. Während wahrscheinlich die meisten Außenstehenden diese Schilderung als übertriebene Greuelpropaganda auffaßten, enthielt sie doch nur einen Bruchteil des wirklichen Geschehens. Mit der »Bitte um Stellungnahme« wurde der Kommandantur von Auschwitz vom Reichssicherheitshauptamt ein Exemplar dieser Aufklärungsschrift übersandt. Man war in Berlin wütend und wollte wissen, wie soviel herauskommen konnte. Auch über die Morde im Block 11 waren die Polen orientiert! Einige Zeit später sollten wegen dieser Kriegsverbrechen, denen außer Deutschen französische, polnische und russische Staatsangehörige zum Opfer gefallen waren, über den Sender Daventry Todesurteile gegen einige namhafte SS-Führer von Auschwitz bekannt gegeben worden sein. Nun platzte Himmler die Geduld. Er beauftragte die Sonderkommission, sich in erster Linie um diese Dinge zu kümmern und Ermittlungsverfahren gegen alle Verantwortlichen einzuleiten. Er konnte ja schließlich nichts dafür, wenn »ohne sein Wissen und ohne seinen Befehl« in irgend einem Konzentrationslager »über Leben und Tod von Staatsfeinden« entschieden wird. Das war sein Privileg, und niemand außer ihm hatte das Recht, über Schutzhäftlinge, besonders über Nichtjuden, den Stab zu brechen. Die Köpfe dieser übereifrigen Henkersknechte sollten fallen, und sie sollten alle Schuld an diesem Morden auf sich nehmen, damit er und seine Spießgesellen wieder im Lichte der Makellosigkeit und der Rechtsliebe dastehen konnten. Grabner wurde in Haft genommen. Es nützte ihm gar nichts, daß er sich darauf berief, daß der Kommandant und Mildner von diesen Erschießungen gewußt und sie gutgeheißen hatten. Mildner war unterdessen Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Dänemark geworden und befand sich in unerreichbarer Ferne.

Der Kommandant zog sich durch einen Meineid aus der Affaire. Ebenso verhielten sich Aumeier und alle an den Bunkeraktionen im Block 11 maßgeblich beteiligt gewesenen SS-Führer, wie beispielsweise SS-Hauptsturmführer Schwarz, der spätere Kommandant des Auschwitz angeschlossenen Lagers Monowitz, oder SS-Obersturmführer Hofmann, der ebenfalls eine Zeitlang Schutzhaftlagerführer von Auschwitz geworden war. Da man aber über die bekanntgewordene feige Haltung dieser SS-Führer in breiten Kreisen der SS in Empörung geraten war, konnte das geplante Todesurteil nicht so ohne weiteres gegen Grabner ausgesprochen werden. Die Verhandlungen wurden immer wieder vertagt. Er war an Leib und Seele gebrochen und völlig zermürbt, als nach endlosen Monaten Gestapohaft zwölf Jahre Zuchthaus beantragt wurden. Schließlich machte die vordringende russische Armee dem Treiben dieses Theaterprozesses ein Ende. Das Treiben, »das der Reichsführer aufs schärfste mißbilligte«, fand auf eine andere Weise sein Ende, als es ihm lieb war!


Mitte Januar 1945 wurde Auschwitz in wilder Flucht geräumt. Alle gehfähigen Häftlinge wurden in weiter im Innern Deutschlands befindliche Konzentrationslager geschleppt, wo sie zum großen Teil ein Dritteljahr später befreit wurden. Die Kranken blieben sich selbst überlassen in Auschwitz und seinen Nebenlagern zurück. Man hätte sie gerne in letzter Minute erschossen, aber die Angst steckte schon allen SS-Führern in den Knien, und keiner wagte, diesen Befehl zu geben. Vor den Gebäuden aller Auschwitzer Dienststellen loderten die Brände von Aktenunterlagen, und die Bauwerke, die zur Durchführung des größten Massenmordes der Menschheitsgeschichte gedient hatten, wurden gesprengt. Irgendwo in den Trümmern lag ein verbeulter Blechnapf, aus dem wohl einstmals ein Häftling seine Wassersuppe verzehrte. Mit ungelenker Hand war auf ihm ein auf tobender See tanzender Kahn eingeritzt. Darüber stand: »Don't forget the forlorn man!« Die Rückseite zeigte ein Flugzeug, auf dessen Tragflächen man den amerikanischen Stern erkannte und das gerade eine Bombe ausklinkte. Die Beschriftung dieses Bildes hieß: »Vox Dei«.