Aussage des Häftlings Langbein Hermann Häftlingsnummer 60 355
Es ist der
29. August 1942, wir sind erst ein paar Tage in Auschwitz. Ich bin auf den obersten Stock der dreifach übereinandergestellten Pritschen hinaufgeturnt und habe die Flöhe von meinen Beinen gestreift. Ich bin noch nicht richtig eingeschlafen, da weckt mich ein Geräusch auf. Einer brüllt: »Warum machst du denn die Fenster zu? Es ist doch so heiß.«
»Muß zumachen. Befehl«, antwortet ein junger polnischer Pfleger. Da sehe ich, daß sich draußen vor unserem Fenster der Hof füllt.
Und jetzt bemerke ich auch, daß die Menschen, die in den Hof gehen, aus dem benachbarten Block 20 herausgetrieben werden, dem Infektionsblock des Krankenbaus. Sie haben nur Hemden an und tragen Decken um die Hüften gewickelt. Jeder hat seine Fieberkurve in der Hand. Ausgezehrte Gesichter, übergroße Augenhöhlen, wankende Schritte. Alle Fenster auf dem Hof sind geschlossen, die Tore bewacht. Da legt sich einer hin, daneben noch einer, bald liegen die meisten auf dem Boden. Man sieht es ihren Beinen an, daß sie selbst die kleinste Last nicht mehr tragen können.
Noch immer kommen Kranke aus dem Tor von
Block 20. Jetzt werden auch einige herausgetragen. Einen schüttelt es in der Augustsonne; er muß hohes Fieber haben. Hier ruft einer nach Wasser, dort wollen einige in den Block zurück, aber sie werden nicht hineingelassen. Sie dürfen nicht einmal aufs Klosett gehen. So verrichten sie ihre Notdurft im Hof. Plötzlich kommt Bewegung in die Menge: SS ist da. Ich erkenne den Lagerarzt, SS-Obersturmführer Dr. Friedrich Entress. Er ist mager und blaß, trägt Brille, hat eine betont gerade, steife Haltung. Hinter ihm sehe ich den Sanitäter Josef Klehr. Über sein Gesicht läuft immer wieder ein Zucken. Befehle werden gegeben. Alle Kranken werden auf eine Seite des Hofes getrieben. Mit der Fieberkurve in der Hand müssen sie einzeln an Entress vorbei. Klehr lauert, damit ja keiner entwischen kann. Die meisten haben schon die Kontrolle passiert, einige liegen aber noch auf der anderen Seite des Hofes. Sie können nicht mehr aufstehen. Da winkt Entress ab und verschwindet. Klehr läßt sich einen Stuhl bringen. Seine Augen wandern von einem Tor zum anderen. Stunden vergehen. Ich bin eingeschlafen. Dann weckt mich Motorengeräusch. Die Kranken werden auf Lastwagen verladen. Blockführer sorgen für das nötige Tempo. Häftlingspfleger helfen den Kranken hinauf. Ein Wagen nach dem anderen startet. Der Hof wird leer. Schließlich liegt nur mehr einer da. Mit offenen Augen starrt er zum Himmel, sein Mund ist geöffnet, seine Zähne liegen frei, als ob er lachen würde. Er ist tot. Pfleger kommen in unser Zimmer. Sie sprechen polnisch miteinander. In ihrer Stimme klingt etwas mit, das erschreckt. Mein Bettnachbar - auch ein junger Pole, der mit mir in der Nachtschicht arbeitet - übersetzt mir:
»Der eine hat eben gesagt, daß er jetzt seinem Vater auf den Lastwagen geholfen hat. Sie fahren zur Vergasung.«
An diesem Tag wurden alle Insassen des Infektionsblocks, Kranke und Gesunde, ins Gas geschickt; wie die SS sagt, zur Bekämpfung des Fleckfiebers, das hier herrscht.
Dr. Entress hat die Aktion geleitet. Lastwagen und Begleitposten konnte erallerdings nicht anfordern. Das mußte von seinem Vorgesetzten; der Dienststelle des SS-Standortarztes, geschehen. Standortarzt war an diesem Tag Dr. Kurt Uhlenbrook. Uhlenbrook lebt heute unangefochten in Hamburg. Ein Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.