Bericht Herta Salomon verheiratete Herschcowitsch

Der Kommandant des Rigaer Gettos, in dem sich die Drensteinfurter Juden
mit Ausnahme des Rudolf Seelig längere Zeit aufhielten, war ab Januar 1942 der SS-Obersturmführer Krause.
Ab Ende 42 war er Leiter des Lagers Salaspils. Krause war bekannt für seine sadistischen Taten, die von Weinberg und Paulinsch eingehend geschildert werden. Die von H. Herschcowitsch beschriebenen Greueltaten im Rigaer Ghetto entsprechen durchaus diesen Darstellungen, auch wenn das Abschießen der Häftlinge vom Dach so nicht berichtet wird.
Das Lager Salaspils, in dem Rudolf Seelig umkam, befand sich in einem schlimmen Zustand, als die Männer des
Transports Münster am 22.12.1941 dorthin geschickt wurden. Da die Baracken für die vielen Neuankömmlinge
noch nicht fertig waren, das Lager befand sich erst im Aufbau fehlte es in den Unterkünften an dem notwendigsten
Schutz gegen Kälte und Nässe. Aufgrund der in jeder Beziehung katastrophalen Verhältnisse kamen viele durch
Krankheit oder Erschöpfung um. Zu Salaspils gehörten drei Kriegsgefangenenlager, in denen bis Frühjahr 1942
30-35000 sowjetische Gefangene umgekommen sind. In einem der Lager gab es keinerlei Essensrationen. Im Arbeitserziehungslager Salaspils, das Ende 1941 auch von jüdischen Männern aus Köln und Westfalen mit aufgebaut wurde, befanden sich bis Sommer 1942 deutsche Juden. Sie arbeiteten beim Torfstechen, im Bergbau, im Steinbruch
und in der Zementfabrik. Nur wenige kamen von dort ins Rigaer Ghetto zurück. So starb Rudolf Seelig an einer Lungenentzündung, wie man H. Herschcowitsch berichtete. Sie selbst wurde nach ihrer Ankunft im Ghetto zu Arbeitseinsätzen eingeteilt, die überwiegend außerhalb des Ghettos an verschiedenen Arbeitsstellen erfolgten. Bei den
von ihr beschriebenen Arbeiten handelte es sich vorwiegend um Dienstleistungen für die Waffen-SS. Damit gehörte H. Herschcowitsch zu der relativ kleinen Gruppe arbeitsfähiger Juden aus den Transporten des Winters 1941/42. Nach dem Bericht Friedrich Jeckelns vom Januar 1942 wurden nur 20 bis 30 Prozent der sog. Reichsjuden als arbeitsfähig
eingestuft. Zudem starben viele von ihnen infolge des überaus harten Winters. Solange H. Herschcowitsch im Ghetto zu Arbeitseinsätzen eingeteilt wurde z. B. beim Schneeschaufeln, unterstand sie lettischen Stellen, die in ihrer Tätigkeit nur von wenigen Deutschen kontrolliert wurden.

Wie aus dem Bericht hervorgeht, lebte sie wohl nur kurze Zeit im Ghetto. Später war sie in verschiedenen von der SS geleiteten Lagern in der Umgebung von Riga und arbeitete tagsüber außerhalb des Lagers. Offensichtlich besserten
sich hier die Lebensbedingungen für H. Herschcowitsch. Sie erhielt gelegentlich zusätzliches Essen und stand unter dem besonderen Schutz des SS-Offiziers, der für sie verantwortlich war. Herta H. berichtet, dass ihre Mutter, die beiden Schwestern, Else Salomon und deren Tochter Irma im Rigaer Ghetto umgekommen sind. In den Todeserklärungen
für Johanna Salomon und ihre beiden Töchter wird hingegen davon ausgegangen, dass alle drei bei der Auflösung des Rigaer Ghettos am 02.11.1943 nach Auschwitz geschickt und dort vergast wurden. S. Goldberg bezeugte den
Abtransport der Frieda und Johanna Salomon am 02.11.1943 nach Auschwitz. Else Salomon und ihre Tochter
Fanny Irma kamen am 01.10.1944 noch nach Stutthof. Diese Unstimmigkeiten sind dadurch zu erklären, dass Herta H.
zu der fraglichen Zeit nicht im Ghetto war und die Erschießungen nach den Berichten anderer Lagerinsassen
beschrieben hat. So hat die Selektion der Familienangehörigen durch Mengele sicher stattgefunden, aber nicht in Riga, sondern in Auschwitz. Das Rigaer Ghetto wurde am 02.11.1943 unter der Leitung des SS-Hauptscharführers Roschmann liquidiert, der mehrere Tausend Menschen, darunter alle arbeitsunfähigen Männer und Frauen, sowie Frauen mit Kindern erschießen ließ. Nach der Liquidation des Lagers verringerte sich die Zahl der überlebenden Juden in
kurzer Zeit. Es gab laufend Selektionen, Verschickungen in nationalsozialistische Vernichtungslager mit Standort in
Polen und Deportationen in Konzentrationslager im Reichsgebiet. Nach Schätzungen hat von den 50 000 Juden, die
Ende 1943 noch in baltischen Arbeitslagern lebten, höchstens ein Fünftel das Kriegsende erlebt.

Vermutlich ist Herta H. Ende 1943 in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig deportiert worden. In der Gegend
um Stutthof wurden im Frühjahr 1944 über 60 neue Arbeitslager eingerichtet. Vom Sommer 1944 an wurden dorthin Gefangene aus Stutthof geschickt. Die Lebensbedingungen in den Lagern waren so schrecklich, dass nur wenige Juden überlebten. In Stutthof selbst waren die Überlebenschancen kaum größer. Von den 52 000 Juden, davon 30 000 Frauen,
die 1944 dorthin gekommen waren, starben 49 000. Viele starben infolge von Krankheiten, verhungerten oder kamen
durch die brutale Behandlung um. Außerdem wurden viele mit Phenolinjektionen getötet. In Stutthof gab es ein Krematorium mit besonderen Hochleistungsöfen, in denen ihre Leichen verbrannt wurden. Herta H. war durch ihre
Arbeit bei der Marine den oben beschriebenen Gefährdungen weit weniger ausgesetzt. Sie wurde besser verpflegt und
auch besser untergebracht. Kurz vor der Eroberung Danzigs durch die Russen wurde sie dann noch auf den
Todesmarsch geschickt. Gilbert begründet die Durchführung der sinnlosen und grausamen Todesmärsche kurz vor Kriegsende mit einem Hinweis auf die widersprüchlichen Tendenzen der damaligen Politik. In dieser Phase waren es
zwei unterschiedliche Aspekte, die die SS dazu veranlassten, die Agonie der Todesmärsche noch weiter zu verlängern:
zum einen der Wunsch zu verhindern, dass die Alliierten irgendjemanden befreiten, der Zeuge von Massenmorden geworden war, zum andern der Wunsch, sich so lange wie möglich ein großes Heer von Zwangsarbeitern zu erhalten.
Herta H. zeigt in der Beschreibung ihres Todesmarschs, wie die Todesmaschinerie des Holocaust in seiner Endphase in Planlosigkeit und Widersprüchlichkeit einmündete und wie sie dieser Entwicklung letztlich ihr Überleben verdankte.

Der Bericht der Herta Herschcowitsch geb. Salomon
Im Dezember vor Weihnachten holte man uns aus den Wohnungen und evakuierte uns in ein Lager. Alles Gepäck
nahm man uns weg, alle Papiere, Gold und Silber. Man schickte uns, meine Mutter, meinen Schwager und meine zwei Geschwister nach Riga in das Ghetto. Kaum angekommen im Ghetto erschoss man ein paar jüdische Männer, um uns abzuschrecken. Es war furchtbar!
Meinen Schwager brachte man mit allen Männern in ein Männerlager. Das Lager hieß
Salaspils. Die ersten drei Tage bekamen sie nichts zu essen. Nach drei Tagen gab man jedem Mann ein Stückchen Zucker. Dann gab man den Befehl,
dass zehn Männer auf ein Dach klettern sollten. Oben angekommen hat man alle heruntergeschossen wie die Vögel.
Mein Schwager starb in dem Lager an einer Lungenentzündung. Das erzählte uns später ein Freund aus dem Lager,
der ins Ghetto gekommen war.
Mich trennte man von meiner Mutter und von meinen Geschwistern, um bei der Waffen-SS zu arbeiten. So hörte ich
lange Zeit nichts von meiner Familie. In Riga waren 40 Grad unter Null.
Wir bekamen im Lager ein Viertel Schwarzbrot und eine Suppe aus schmutzigen Kartoffelschalen. Die Suppe konnte
man vor Schmutz nicht essen. So haben wir gehungert! Ich habe drei Jahre und drei Monate gehungert, bis ich von
den Russen bei Danzig befreit wurde.
In Riga machte man eine Selektion für Mengele. Er suchte aus, wer zum Leben und wer zum Tode bestimmt war. Er
hat meine Mutter für den Tod und meine zwei Schwestern zum Leben bestimmt. Meine Schwestern sind zur Mutter hinübergelaufen. Sie wollten nicht, dass meine Mutter allein gehen sollte. So hat man alle drei noch in Riga erschossen.
Ich musste mit einigen anderen Männern und Frauen die Kleidungsstücke nach Gold, Geld und sonstigen Sachen untersuchen. Das alles mussten wir an den SS-Mann abliefern, der die ganze Zeit neben uns stand. Ein Mann fand die Mäntel seiner Frau und Tochter. Er trennte die Mäntel mit eigenen Händen auf. Es war furchtbar, wie dieser Mensch gelitten hat!
Als wir in Riga im Ghetto angekommen waren, mussten wir als erstes bei 40 bis 45 Grad Kälte den Schnee von der
Straße schaufeln. Meiner Freundin sind damals alle Zehen von den Füßen abgefroren und abgefallen. Meine Füße
haben auch gelitten, das Blut zirkulierte nicht mehr richtig. Darum leide ich noch heute an meinen Füßen. Der Zustand
wird immer schlimmer.
Einmal ist mir meine Nase angefroren. Da habe ich sie gerieben, damit das Blut wieder hineinfloss. So habe ich sie in
letzter Minute gerettet. Mit meinen kranken Füßen muss ich inzwischen immer zu Bett liegen. Aber den Mut zum Leben habe ich nicht verloren. Das ist eine angeborene Sache.
Für die Arbeit bekam ich eine Scheibe Brot. Ich gab sie meiner Mutter zu essen, denn sie hat sehr gehungert. Das alles
war im
Ghetto Riga.
Danach setzte man mich in einem Waffen-SS-Lager zur Arbeit ein. Zuerst nähte ich Säcke zu, die beim Transport kaputtgegangen waren. In den Säcken waren Lebensmittel: Zucker, Haferflocken, Kakao und noch vieles mehr. In
einem Zimmer saßen sechs alte Frauen, die dort leere Säcke nähten. Sie litten sehr unter Hunger. Da bat ich einen
SS-Mann darum, dass ich das, was von den Säcken auf die Erde gefallen war, in eine große Tüte sammeln dürfte. Er erlaubte es mir. So tat ich Haferflocken, Zucker und Kakao hinein. Ich vermischte alles und gab es den sechs
Mütterchen, damit sie sich erquicken und satt essen sollten. Sie haben sich sehr darüber gefreut. Vor meinen Augen
stand immer meine liebe Mutter, die ich sehr geliebt habe.
Immer wieder arbeitete ich dort an einer anderen Stelle. Mehrere Monate lang reinigte ich Gewehre. Später
transportierte ich Sachen in ein anderes Lager. Danach musste ich zurückfahren und die Pferde in den Stall bringen.
Wie ich so in hohem Tempo durch das Tor zurück komme, was sehen meine Augen? 1000 SS-Männer in Uniform und
viele Sturmbannführer! Man hielt mich an und fragte unseren Sturmbannführer, wer ich sei. Dann durfte ich
weiterfahren. Ich brachte die Pferde in den Stall und ging danach zu Fuß in unser Lager, dahin, wo wir im Ghetto
Riga wohnten.
Eines Tages kamen wir von der Arbeit ins Ghetto. Einige SS-Männer warteten auf uns. Sie brachten uns zum Galgen.
Dort hatte man zehn jüdische Männer erhängt. Wir blickten zu Boden. Da schrie uns der SS-Mann an, wir sollten hinaufschauen, wo die Menschen hingen. Sonst würde er uns aufhängen. Vor Angst haben wir hinaufgeschaut. Kein Mensch auf der Welt kann sich vorstellen, wie es bei mir innen aussah, was wir Juden alles mitmachen mussten.
Auch meine Tante Else war mit ihrer Tochter, einem kleinen Mädchen, im Ghetto. Das Kind hungerte sehr. Die Tante arbeitete auch außerhalb des Ghettos. Sie hatte ein kleines Hemdchen bei sich. Das tauschte sie gegen ein Stückchen
Brot für ihr Kind. Mit dem Brot kam sie bis vor das Ghetto. Dort waren viele jüdische Arbeiter. Vor dem Ghetto
standen ein paar SS-Männer und haben alle kontrolliert. Viele Menschen hatten etwas getauscht, um ein paar
Kartoffeln zu bekommen. Andere hatten etwas gegen ein Stückchen Brot eingetauscht. Da fand man auch bei meiner
Tante das Brot. Man wollte alle zur Erschießung führen. Draußen vor dem Haus stand das Kind. Auf einmal sah es, wie man auch seine Mutter wegführte. Da lief es hinterher und schrie: Mutter, Mutter! Wo führt man dich hin? Da drehte
sich der SS-Mann um und sah das weinende Kind. Er sagte: Geh zurück zu deinem Kind! So hat damals das Kind die Mutter gerettet. Alle anderen erschoss man auf dem Friedhof wegen eines Stückchen Brotes oder Kartoffeln. Später,
nach ein paar Tagen, hat man die Tante mit allen Kindern und allen Menschen aus dem Ghetto Riga erschossen.

Eines Tages kam ein SS-Mann. Er nahm mich und meine Freundin mit. Wir mussten mit ihm in eine große Wäscherei fahren und dort die saubere Wäsche der Waffen-SS abholen. Als wir alles auf das Auto gepackt hatten, sagte der
SS-Mann zu uns, wir sollten um das Gebäude herumgehen, eine kleine Treppe hinauf und da an die Tür klopfen.
Wir sollten dort um Essen bitten. Meine Freundin schämte sich zu bitten. Ich habe mich nicht geschämt. Dort war ein Speisesaal für die Arbeiter von der Wäscherei. Eine Frau hat uns geheißen zu warten. Nachher gab sie uns eine große Schüssel mit Suppe und Brot dazu nach draußen. Wir saßen dort im Treppenhaus und haben die Suppe gegessen. Wir
aßen uns gut satt wie schon lange nicht mehr. Und wir nahmen noch Brot mit ins Lager.
Als wir in Riga bei der Waffen-SS waren, lebten wir Juden in einem Lager. Eines Tages kam ein großes Auto
vorgefahren. Man hatte 10 jüdische Familien in einem Versteck gefunden, Männer, Frauen und Kinder. Die Familien blieben noch ein paar Tage zusammen. Dann kam ein großes Auto vorgefahren. Wir mussten uns zum Appell aufstellen.
Die Familien mit den Kindern standen neben dem Auto. Dann rissen die SS-Männer die Kinder von den Müttern weg, fassten sie an Händen und Füßen und warfen sie auf das Auto wie einen Sack Kartoffeln. Die Kinder schrien, es war furchtbar, das anzuhören. Die Mütter wurden alle verrückt, und die Männer mussten sie bei all ihrem eigenen Schmerz trösten. Eine Frau presste die ganze Faust in den Mund. Es war furchtbar, das anzusehen. Es waren alles kleine Kinder
im Alter von zwei bis fünf Jahren.

Danach brachte man uns in ein Konzentrationslager in
Stutthof bei Danzig. Da war ein Krematorium, in dem man
Juden vergaste. Dort hat man uns in eine Baracke mit Doppelstockbetten gelegt. Vier Frauen in einem Bett, so dass
man nur mit angezogenen Knien schlafen konnte. Wie kann man so schlafen? Eine Frau in meinem Bett war schwanger.
Ich gab ihr meinen Platz im Bett, damit sie sich ganz ausstrecken konnte. Und ich schlief auf der Erde, auf dem Holzfußboden, ohne mich zuzudecken. Denn eine Decke haben wir nicht bekommen. Zum Waschen jagte man uns für
eine Minute unter den Wasserkran, dann wurden wir hinausgetrieben und mit einem Gummiknüppel auf den Kopf geschlagen. Eines Tages nahm ich meinen Schlüpfer und legte ihn die eine Minute, so lange ich mich wusch, ins Wasser. Danach mussten wir den ganzen Tag lang draußen stehen. Ich hielt meinen Schlüpfer die ganze Zeit über in der Hand
und habe ihn so getrocknet. Ein normaler Mensch kann so etwas gar nicht glauben!
In der Nacht schlief ich nicht, so sah ich, wie man Frauen aus einer Baracke zum Vergasen trieb. Die Nazi-Aufseher
jagten die Menschen mit Gummiknüppeln. Diese schrien zu Gott: Sch`ma Israel! Das heißt, er soll ihnen helfen. Und so wurden sie alle vergast. Es war schrecklich, so etwas zu hören!
Die Frau in meinem Bett hatte ein Kind geboren. Man ließ es eine Woche lang am Leben. Dann gab man dem Kind
eine Todesspritze.
Eines Morgens in der Frühe standen wir alle beim Appell, und man fragte uns: ”Wer will zur Arbeit gehen? Da habe
ich mich sofort gemeldet. Dann führte man uns in eine Baracke und sagte, dass wir uns ausziehen sollten. Da habe ich
mir gedacht: Jetzt wird man uns vergasen. Dann brachte man uns in eine andere Baracke mit vielen Duschen. Zum
Glück kam Wasser heraus, und wir haben uns gründlich gewaschen. Danach gab man uns saubere Kleidung und
schickte uns zum Arbeiten ans Meer.
Dort lag ein deutsches Schiff mit Marinesoldaten. Wir mussten Loren mit Sand füllen. Vier Frauen mussten sie
schieben. Das war schwere Arbeit. Nicht weit von der Arbeitsstelle stand ein zweistöckiges Haus. Da bekamen wir jeder
ein Bett, zwei Wolldecken, ein Brot mit einem Päckchen Margarine und mittags eine gute Suppe. Wir waren alle so
glücklich darüber! Schon so viele Jahre lang hatten wir kein ganzes Brot oder ein Päckchen Margarine gesehen. Und ein Bett mit zwei warmen Wolldecken. Man konnte sich sogar ausstrecken im Bett. Keiner kann verstehen, wie glücklich wir waren.
Eines Tages arbeiteten wir neben dem Schiff. Auf einmal kam ein Arbeiter vom Schiff und fütterte die Schweine. Er
trug zwei Eimer. Darin schwammen zwei ganze Brote in der Suppe. Da lief ich zu ihm hin und nahm die beiden Brote heraus. Jede von uns Frauen bekam ein Stückchen. Als ich mein Brot gegessen hatte, sagte ich: Das war noch besser
als ein Stückchen von einer Hochzeitstorte. Nach all den Jahren waren wir wie ausgehungert! Ich werde diese
Worte mein Leben lang nicht vergessen.

Inzwischen war zu unserem SS-Mann eine SS-Frau gekommen, um ihm zu helfen. Ein paar Tage später waren wir
alle zum Appell angetreten. Auf einmal zeigte sie auf mich und sagte zu unserem SS-Mann: Die hat Gelbsucht.
Man muss sie ins Krematorium schicken, um sie zu vergasen. Da sagte unser SS-Mann zu ihr: Sie ist noch ein
junges Mädchen. Sie wird schon gesund werden. Der SS-Mann schickte mich nach unten in den Keller. Dort blieb ich
liegen, bis ich gesund war. Jeden Tag kam der SS-Mann und fragte mich, wie es mir ginge und ob ich mich besser fühle. Mein Essen brachte man mir ans Bett. So wurde ich von allein gesund. Danach ging ich weiter zur Arbeit.
Noch im SS-Lager standen wir eines Tages beim Appell. Von weitem sah ich zehn Stühle, und hinter jedem Stuhl stand
ein jüdischer Mann mit einer Schere in der Hand. Man sagte uns, dass uns allen die Haare abgeschnitten würden. Wir hatten wunderschöne Haare. Alle Mädchen weinten, nur ich nicht. Ich habe sie getröstet und gesagt: Was weint ihr?
Haare wachsen nach. Dann hat man uns eine Glatze geschoren. Wir erkannten einer den andern nicht mehr. Einen Tag später bekamen wir einen Scheuerlappen. Den banden wir um den Kopf und sahen wieder schön aus, auch ohne Haare.
Den Männern schnitt man einen zwei Zentimeter breiten Streifen mitten durch die Haare und einen zweiten von einer
Seite des Kopfes zur anderen. So hatten sie Haare an vier Stellen. Das war ein richtiger Zirkus! Nur den Mut haben wir nicht verloren, weil wir leben wollten. Im Herzen war der Schmerz. Aber alles geht vorüber, Gott sei Dank!
Später brachte man uns in ein anderes Sammellager, wo schon viele jüdische Menschen waren. Es war kurz vor Ende
des Krieges, da sagte man uns, dass wir hundert Kilometer weit laufen müssten. Man zwang uns zu gehen. Wer nicht konnte, wurde am Straßenrand erschossen. Es war schon am Spätnachmittag, als wir in ein Dorf kamen. Dort stand
eine große Scheune, in die wir alle hineingehen mussten. Dort fanden wir Futterrüben und aßen sie. Ich hatte ein
bisschen Margarine und Kaffee. Mit dem Finger rührte ich Kaffee und Margarine zusammen und aß das ohne Brot. So hungrig war ich. Ich werde das niemals in meinem Leben vergessen!

Die Nazis hatten Petroleum bereitgestellt. Sie wollten es auf die Scheune schütten und uns darin verbrennen. Bei uns
waren SS-Männer und SS-Frauen. Da sagte eine von ihnen: Bevor wir die Juden verbrennen, nehmen wir uns eine Kuh
und schlachten sie. Dann werden wir gut essen und trinken. Und danach verbrennen wir die Juden.
Inzwischen waren russische Panzer angerollt. Ein russischer Soldat machte die Scheune auf und befreite uns. Draußen waren alle Nazis erschossen worden. Nur zwei SS-Frauen ließen die Russen am Leben und nahmen sie auf den
Panzern mit. Im März 1945 wurde ich von den Russen vor Danzig befreit.

Als ich nach dem Krieg nach Drensteinfurt kam, um nach einem Überlebenden unserer Familie zu suchen, traf ich niemanden an. Da ging ich zu einer deutschen Familie, zu unseren alten Freunden. Ich saß am Tisch und trank Kaffee,
da kam der kleine Sohn hereingestürzt und sagte: Mutter, hier in die Stadt ist ein Jude gekommen. Ich will ihn sehen.
Da sagte die Mutter zu ihm und zeigte mit der Hand auf mich: Das ist der Jude. Das Kind sagte: Das ist kein Jude. Ein Jude, das ist ein Tier. So hatte sich der Junge einen Juden vorgestellt. Das hatten die Kinder in der Schule gelernt. Die Propaganda gegen die Juden hatte gewirkt. Es war traurig aber wahr.

Herta Salomon verheiratete Herschcowitsch
Israel 1987