Die Erschießung einer nicht mehr genau zu ermittelnden Anzahl von Goldjuden

Gegen den Angeklagten Suchomel wird schließlich der Vorwurf erhoben, er habe bei einer anderen Gelegenheit aus dem ihm unterstehenden Kommando der Goldjuden eine nicht mehr genau zu ermittelnde Anzahl von Häftlingen herausgeholt und sie vor den Augen der anderen Häftlinge erschossen.

Die Anklage hat also hier offenbar einen einzigen Vorgang an ein und demselben Tage im Auge, bei dem mehrere Goldjuden von Suchomel getötet worden sein sollen.
Der von der Staatsanwaltschaft zum Beweis der Erschießung mehrerer Goldjuden bei einer einzigen Gelegenheit als Zeuge benannte, jetzt 36 Jahre alte Sp., der stellvertretender Geschäftsführer eines Glasgower Damenkonfektionsgeschäftes ist, hat bei seiner Vernehmung vor dem deutschen Konsulat in Edinburgh hierzu folgendes gesagt. Suchomel hat in meiner Gegenwart eine Reihe von sogenannten Goldjuden erschossen. Wie viele es gewesen sind und aus welchen Gründen sie erschossen wurden, kann ich nicht angeben. Die Goldjuden wurden von Suchomel im Lazarett erschossen, wohin ich mich regelmäßig begeben musste, um gebündelte Kleidung oder Schuhe abzuliefern.

Vor dem Schwurgericht hat der Zeuge Sp. unter Eid folgendes bekundet:
Einmal habe er das Lazarett aufgesucht, um Schuhe zum Verbrennen in die Lazarettgrube zu werfen. Im Lazarett habe er den Kapo Kurland, dessen zwei Helfer, Suchomel und einen Häftling angetroffen, der durch seinen gelben Streifen an seiner Hose als Goldjude zu erkennen gewesen sei. Dieser Jude habe ihm in Jiddisch gesagt, Ich weiß zu viel. Daraufhin habe dieser Mann sich völlig entkleiden und auf den aufgeschütteten Wall am Grubenrand setzen müssen. Suchomel habe ihn sodann durch einen Pistolenschuss ins Genick getötet. Die Leiche sei gleich in die brennende Grube gefallen. Bei diesem Vorgang habe er nur wenige Meter hinter Suchomel gestanden und alles genau beobachtet.

Auf Vorhalt hat Sp. weiter erklärt:
Es sei richtig, dass er bei seiner im Jahre 1961 erfolgten Vernehmung in Edinburgh gesagt habe, Suchomel habe eine Reihe von Goldjuden erschossen. Er habe damit nicht eine einzige Erschießung mehrerer Goldjuden bei ein und derselben Gelegenheit gemeint, sondern jeweils die Erschießung eines Goldjuden im Lazarett in mehreren Fällen und an verschiedenen Tagen. Im Jahre 1961 sei sein Erinnerungsvermögen noch viel besser gewesen als jetzt. Heute dagegen habe er nur noch einen einzigen Fall im Gedächtnis, an den er sich jedoch genau und sicher erinnere. Der Zeuge Sp. hat Suchomel richtig beschrieben und ihn im Schwurgerichtssaal sofort wiedererkannt. Er hat in ruhiger, sachlicher Form viele allgemeine Dinge über das Lagerleben geschildert, die auch von anderen Zeugen bestätigt worden sind. Er ist darum bemüht gewesen, zur Aufhellung der wahren Geschehnisse in Treblinka beizutragen. Für sein Verantwortungsgefühl spricht der Umstand, dass er keineswegs an seiner Aussage aus dem Jahre 1961 festgehalten, sondern von ihr in einem entscheidenden Punkt mit dem Bemerken abgerückt ist, hier an dieser Stelle und zu dieser Zeit könne er sich nur an die Erschießung eines einzigen Goldjuden durch Suchomel erinnern. Ob seine Suchomel betreffende Bekundung aber auch objektiv richtig ist, begegnet indes erhebliche Zweifel. Der am 30.Mrz 1929 geborene Zeuge Sp. befand sich von Anfang Oktober 1942 bis zum 2.August 1943 in Treblinka.
Während seiner Inhaftierung war er also bis zum 30.März 1943 erst 13, nach diesem Tag dann 14 Jahre alt. Das grausame Geschehen in Treblinka im allgemeinen und die zahlreichen Exzesstaten verschiedener SS-Männer im besonderen, die er als Angehöriger des Sortierkommandos oft genug hat mit ansehen müssen, haben, davon ist das Gericht überzeugt, seine Aufnahmefähigkeit und sein Erinnerungsvermögen überfordert. Man kann von ihm nicht erwarten, dass er im Lager die gleichen präzisen Beobachtungen gemacht hat wie ein Häftling im besten Mannesalter. Das gilt auch für die von ihm geschilderte Erschießung eines Goldjuden durch Suchomel im Lazarett.

Suchomel bestreitet, einen oder gar mehrere Goldjuden getötet zu haben. Er weist darauf hin, dass während seines Aufenthaltes in Treblinka von dem kleinen Kommando der Goldjuden nur der Goldjude Stern getötet worden sei, wofür man ihn nicht verantwortlich machen könne (vergleiche dazu Abschnitt
A.VI.15. des Zweiten Teiles der Gründe, wo der Tod des Goldjuden Stern ausführlich beschrieben wird).

Diese Einlassung des Angeklagten Suchomel wird von den Zeugen
Oscar Stra.
Gl.
Tai.
Koh.
Sed.
Lew.
die das Schwurgericht sämtlich als besonders zuverlässig angesehen hat, bestätigt. Allen diesen eidlich vernommenen Zeugen ist von der Tötung eines zweiten Goldjuden nichts bekannt. Da das Kommando der Goldjuden nur 10 bis 12 eingearbeitete Männer umfasste, hätte die Nachricht von der Tötung eines zweiten Goldjuden im Lager weit mehr Aufsehen erregt als die Erschießung eines Juden von den zum Teil mehrere hundert Personen umfassenden großen Arbeitskommandos, z.B. der Kommandos Blau und Rot. Hinzu kommt, dass die Tat dann auf besonderes Interesse unter den Häftlingen gestoßen wäre, wenn sie der sonst als milde bekannte Chef der Gold- und Hofjuden begangen hätte. So wurde z.B. der Lazarettkapo Kurland, der mit dem Zeugen Raj. im Aufstandskomitee eng zusammenarbeitete, diesem auch von der Erschießung eines Goldjuden im Lazarett durch Suchomel sicherlich berichtet haben. Der zuverlässige und glaubwürdige Zeuge Raj. hat aber nichts Derartiges bekundet. Wenn man dies alles und insbesondere den Umstand, dass Sp. im Vorverfahren und in der Hauptverhandlung derart voneinander abweichende Aussagen gemacht hat, berücksichtigt, dann bleiben Zweifel an einer möglichen Täterschaft des Angeklagten Suchomel zurück, die das Schwurgericht nicht zu überwinden vermag.

Mangels Beweises kann Suchomel also
a. wegen der Tötung mehrerer Goldjuden bei einer einzigen Gelegenheit,
b. wegen der Tötung je eines Goldjuden in mehreren Fällen bei verschiedenen Gelegenheiten und
c. wegen der Erschießung eines einzigen Goldjuden im Lazarett

nicht zur Rechenschaft gezogen werden, obwohl insbesondere wegen des unter c. genannten Falles auf ihm nach wie vor ein gewisser Tatverdacht lastet.