Allgemeine Strafzumessungserwägungen

Den Angeklagten ist nicht anzulasten, dass sie Mitglied der NSDAP, der Allgemeinen SS, der Waffen-SS oder einer anderen nationalsozialistischen Organisation waren.

Den Vorspiegelungen des Nationalsozialismus erlagen nämlich seinerzeit selbst ältere, reifere und akademisch gebildete Menschen, die einen weiteren Überblick hatten als die Angeklagten mit ihrem nur begrenzten politischen Urteilsvermögen. Zudem waren die meisten der Angeklagten der Partei oder einer ihrer Gliederungen nicht aus weltanschaulicher Überzeugung, sondern aus Gründen der Nützlichkeit im Hinblick auf ihr berufliches Fortkommen beigetreten.

Bei den Mordgehilfen unter den Angeklagten ist strafmildernd zu werten, dass sie sämtlich nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgrund von Befehlen handelten und diese Befehle mit Ausnahme des Angeklagten Ru. in einer Weise überbewerteten, die durchweg den Vorstellungen der damaligen Zeit entsprach.
Damit gerieten sie abgesehen von Ru. zugleich in einen, wenn auch nicht entschuldbaren Verbotsirrtum. Sie waren mehr oder weniger untergeordnete Dienstgrade, und die meisten von ihnen waren es nach ihrem bisherigen Werdegang gewohnt, Befehle zu empfangen und auszuführen, gleichgültig, welchen Inhalt sie hatten.

Seit der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahre 1933 unterlagen sie zudem der Einwirkung einer unaufhörlichen massiven Propaganda, die den Willen des Führers als oberstes Gesetz proklamierte und unbedingten Gehorsam bei der Erfüllung auch unangenehmer und schwieriger Aufgaben forderte.
Dies galt in besonderem Masse zur Kriegszeit, denn die Kriegsraison verlangt von jeher vieles von einem Untergebenen, was in Zeiten des Friedens nur schlecht vorstellbar ist. Unter diesen Umständen war das Kritikvermögen der Angeklagten Mentz, Münzberger, Stadie, Suchomel und Lambert gegenüber den Zielen der nationalsozialistischen Machthaber angesichts ihrer meist nur durchschnittlichen Intelligenz und Bildung ohnehin gering und überdies dadurch beeinträchtigt, dass das Gefühl für Recht und Unrecht unter der starken propagandistischen Einwirkung in der Allgemeinheit vielfach verlorengegangen war.

Die Mordgehilfen unter den Angeklagten sahen sich nach ihrer Abkommandierung zum Vernichtungslager Treblinka unvermittelt in eine Situation verstrickt, die sie leicht zu der Annahme verleiten konnte, dass alle Befehle verbindlich seien und ausgeführt werden müssten.
Hierin wurden sie vor allen Dingen durch das Verhalten ihrer Vorgesetzten bestärkt, die sich, obwohl sie eher die Möglichkeit eines Ausweges hatten, den Anweisungen der höheren und höchsten Dienststellen ebenfalls fügten und nichts unternahmen, um ihre Untergebenen aus dem anbefohlenen verbrecherischen Einsatz zu entlassen.
Im Gegenteil, ihre unmittelbaren Vorgesetzten, so in geringerem Umfange der Kommandant Stangl, in größerem Ausmaße der Angeklagte Franz als sein Stellvertreter und Nachfolger sowie insbesondere der Inspekteur Christian Wirth, ermunterten sie ständig zu noch aktiverem Einsatz.
In gleichem Sinne wirkten auch die Besichtigungen des Lagers durch den SS- und Polizeiführer in Lublin Globocnik und durch den SA-Standartenführer Blankenburg auf die Angeklagten ein, für die diese beiden Männer hohe Tiere waren.

Unter diesen Umständen ist es als eine beachtliche intellektuelle Leistung des Angeklagten Ru. anzusehen, wenn er trotz dieser Einflüsse im Gegensatz zu den meisten seiner Kameraden einen kühlen Kopf behielt und auf derartige unsinnige Befehle, wie es in seinen Augen die Anordnungen zur Vernichtung von Juden und Zigeunern waren, nichts gab. Dazu war Ru. auch nur deshalb in der Lage, weil er mehrere Jahre im Ausland verbracht und überdies in Berlin als Kellner verschiedentlich Parteigrößen bedient hatte, die auf ihn in menschlicher und geistiger Hinsicht keinen günstigen Eindruck gemacht hatten.

Ferner trug auch die nationalsozialistische Rassenideologie, mit der sich die Mordgehilfen unter den Angeklagten zwar sämtlich nicht haben voll identifizieren wollen, deren Einflüssen sie aber jahrelang ausgesetzt gewesen waren, dazu bei, dass sie sich leichter zu ihrer verderblichen Tätigkeit missbrauchen ließen, an deren verbrecherischen Charakter sie sich im übrigen im Laufe der Zeit mehr oder weniger gewöhnten und der gegenüber sie folglich immer weniger kritische Überlegungen anstellten.

Schließlich spricht zugunsten der Angeklagten Mentz, Münzberger, Stadie, Suchomel, Lambert und Ru., dass sie sich vor und nach ihrem Einsatz in Treblinka straffrei führten und in geordneten Verhältnissen lebten. Sie empfinden erkennbar echte Reue und sühnen ihr Fehlverhalten seit Jahren durch eine starke seelische Belastung.
Auf der anderen Seite ist das ungeheuerliche Ausmaß der Vernichtungsaktion zu berücksichtigen, der mindestens 700000 Menschen zum Opfer fielen. Die Angeklagten Matthes und Ru. waren an der Tötung von mindestens 100000 Personen und die Angeklagten Franz, Miete, Mentz, Münzberger, Stadie, Suchomel und Lambert an der Tötung von mindestens 300000 Personen beteiligt. Hinzu kommen dann noch die Exzesstaten der Angeklagten Franz, Matthes und Miete sowie die von den Angeklagten Mentz und Stadie geleistete Beihilfe zu zwei Exzesstaten.
Straferschwerend ist weiter, dass die Angeklagten - mit Ausnahme des Angeklagten Ru. bei den Tötungen einen beachtlichen Eifer zeigten und dass sie sich mit Ausnahme des Angeklagten Suchomel und in geringerem Masse auch des Angeklagten Stadie gegenüber ihren Opfern vollkommen gleichgültig und mitleidlos verhielten, obwohl es in ihrer Macht stand, in einzelnen Fällen Gutes zu tun oder Barmherzigkeit zu üben.

Die Abwägung aller dieser für und gegen die Angeklagten sprechenden Umstände hat die insbesondere für die Gehilfen unter den Angeklagten wichtige Überlegung nach dem Strafzweck einzuschließen. Dabei ist nicht zu verkennen, dass nach der Überwindung des damaligen Ungeistes der nationalsozialistischen Diktatur dem Abschreckungs- und Besserungsgedanken kein allzu großes Gewicht mehr beizumessen ist, sondern der Strafzweck der Sühne hier im Vordergrund stehen muss. Andererseits kann der Tatsache, dass zwischen Tat und Verurteilung ein langer Zeitraum vergangen ist, ein allzu entscheidendes Gewicht nicht beigemessen werden.
Die Ströme von Blut und Tränen, die in und wegen Treblinka geflossen sind, können und dürfen trotz des inzwischen eingetretenen Zeitablaufs nicht übersehen werden.

Die Angeklagten Franz, Matthes, Miete, Mentz, Münzberger, Stadie, Suchomel, Lambert und Ru. handelten bezüglich der Massenvernichtung aufgrund eines Befehls, die Angeklagten Franz, Matthes, Miete, Mentz und Stadie auch hinsichtlich einiger Exzesstaten.

In allen diesen Fällen eröffnet 47 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuches die Möglichkeit, dann von Strafe abzusehen, wenn die Schuld des Untergebenen gering ist.
Das Schwurgericht kann sich jedoch nicht dazu entschließen, hiervon auch nur bei einem der Angeklagten Gebrauch zu machen, denn angesichts des ungeheuren Ausmaßes der Tötungen, an denen sie mitwirkten, kann selbst dann nicht von einer geringen Schuld im Sinne des 47 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuches die Rede sein, wenn die strafmildernden Umstände weitgehend berücksichtigt werden.