Die innere Einstellung des Angeklagten Stadie zu seinem Einsatz in Treblinka

Dem Angeklagten Stadie war bekannt, dass die Opfer in den Gaskammern eng zusammengepfercht qualvoll sterben mussten und dass sie vor und während ihrer Erschießung im Lazarett in die Grube mit brennenden Leichen blicken mussten. Schließlich war er sich auch dessen bewusst, dass die Ankömmlinge durch Ansprachen und später durch die am Bahnhof aufgestellten Hinweisschilder über ihr wahres Schicksal getäuscht wurden, damit sie bei ihrer Vernichtung dem deutschen und dem ukrainischen Lagerpersonal keine Schwierigkeiten bereiteten. Er wusste auch, dass er durch seine Tätigkeit in Treblinka einen guten Teil dazu beitrug, die von oben angeordnete Judenvernichtung zu verwirklichen.

Stadie empfand nach seiner glaubhaften Einlassung die Tötung der Juden als ein großes Unrecht, das gegen die Gebote der Menschlichkeit und der Strafgesetze verstieß. Er ging aber davon aus, dass Hitler dieses Unrecht angeordnet hatte, und war deshalb der Meinung, dass der Führerbefehl vollzogen werden müsse. Im Laufe seiner seit 1933 währenden Mitgliedschaft bei der NSDAP und der SA und seiner langjährigen Dienstzeit beim Militär, bei T4 und bei der Organisation Todt hatte er sich daran gewöhnt, stets allen Anordnungen nachzukommen und seinen Dienst an jedem Platz zu verrichten, an den er gestellt wurde, selbst wenn er etwas tun musste, was ihm nicht zusagte. Er glaubte daher, auch in Treblinka alle Befehle ausführen zu müssen, zeigte sich mit seinem Einsatz schnell einverstanden und brachte sein Gewissen zum Schweigen. Willig und eifrig wirkte er an der Erfüllung des dem Sonderkommando Treblinka gestellten Auftrages mit. Seine unbedingte Befehlsergebenheit ließ ihn eine Befehlsverweigerung nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Obwohl er in Berlin zu Hause war, benutzte er seinen häufigen Heimaturlaub nicht dazu, um bei der Dienststelle T4 in Berlin wegen einer anderen Verwendung vorzusprechen.
Zwar ist nach seiner unwiderlegten Einlassung davon auszugehen, dass er im Jahre 1942 einmal den ersten Lagerkommandanten Dr. Eberl und ein zweites Mal im Jahre 1943 Wirth um seine Versetzung zu einer anderen Einheit gebeten hat. Als seinem Wünsche in beiden Fällen unter Hinweis darauf, man müsse dort bleiben, wo einen der Führer hingestellt habe, nicht entsprochen wurde, gab er sich damit zufrieden. Er unternahm im Jahre 1942 und in der ersten Hälfte des Jahres 1943 keine weiteren Versuche, eine Ablösung zu erreichen. Erst im Juli 1943, als die Aktion Reinhard nahezu beendet war, wurde er ein zweites Mal bei Wirth wegen einer Versetzung vorstellig. Diesmal hatte er Erfolg. Wirth versetzte ihn zum Arbeitslager Lublin. Er erlitt keinerlei Nachteile. Wohl wurde er nicht mehr als Spieß des Arbeitslagers eingesetzt, da diese Stelle bereits besetzt war. Er übernahm unter Beibehaltung seines Dienstgrades als Stabsscharführer andere Aufgaben.

Der Angeklagte Stadie lässt sich wie folgt ein:
Er sei gegen die Tötung der Juden gewesen. Nachdem Dr. Eberl und Wirth seinem Wunsch, versetzt zu werden, nicht entsprochen hätten, habe er bis Juli 1943 nichts mehr unternommen, um von Treblinka wegzukommen, weil das aussichtslos gewesen sei. Im Übrigen habe er Angst vor Christian Wirth gehabt, der ein wilder, zu allem fähiger Mann gewesen sei und der sicherlich nicht davor zurückgeschreckt hätte, einen widerspenstigen SS-Mann zu töten oder ihn in ein Konzentrationslager zu bringen. Nur durch den häufigen Genuss alkoholischer Getränke habe er seine Tätigkeit im Lager ertragen können.

Diese auf einen ständigen inneren Konflikt hinweisende Einlassung des Angeklagten Stadie ist nach seinem Gesamtverhalten im Lager als widerlegt anzusehen. Zunächst ist hervorzuheben, dass Stadie seine Aufgaben bei der Abnahme und der Abfertigung von Transporten überaus eifrig wahrnahm. Wie der eidlich vernommene Textilkaufmann Ma. aus München glaubhaft bekundet hat, nahm Stadie bei der Ankunft eines Transportes aus Warschau, mit dem auch Ma. nach Treblinka kam, die notwendigen Selektionen von Arbeitsjuden mit der Präzision eines Maschinengewehrs vor, was in einem merkwürdigen Gegensatz zu seiner fülligen, gemütlichen Äußeren Erscheinung stand. Er war darauf bedacht, die Transporte zügig und exakt abzuwickeln, um vor seinen Vorgesetzten als tüchtiger Mann dazustehen. Jedenfalls hat er nicht etwa, um seinen Unwillen über die Tötung der Juden Ausdruck zu verleihen, langsam gearbeitet, sondern er hat sich, wie unter anderem die eidlich vernommenen Zeugen Gl., Sed. Raj., Tu. und Kols. bekunden, stets einer auffallenden Aktivität befleißigt, wenn es galt, die Transporte in möglichst kurzer Frist abzufertigen. In mindestens zwei Fällen hat er auch Arbeitshäftlinge geschlagen, wie bereits in B.III. dargelegt worden ist. Auch das beweist, dass er sich damals nicht genügend von der Vernichtungsaktion distanziert hat, denn das Misshandeln war nicht befohlen, und Stadie hätte deshalb in den beiden erwiesenen Fällen nicht zu schlagen brauchen.