Die Jüdin

Vorwärts Schmuckstück, an die Arbeit! Los Schnell!
Die so angerufene Frau zieht die Schultern ein
und wirft einen ängstlichen Blick,
denn eine Ohrfeige oder Schläge folgen oft.

Wer ist sie? Sie ist noch jung und hat feine Gesichtszüge,
aber das harte Lagerleben hat ihre Schönheit schwinden,
ihre Jugendlichkeit welken lassen.

Ich stelle sie mir früher vor: junge, elegante, geliebte Frau.
Heute ist sie nur noch eine Nummer,
und der Stern auf ihrem Arm
liefert sie dem stupiden Haß der Aufseherin aus.
Barfüßig im Staub, der Magen leer,
seit dem Morgengrauen arbeitet sie,
und sie denkt daran, daß sie bald
mit der Kolonne in den Block geht,
den abscheulichen, überfüllten Block
voller Schimpfereien und Schläge,
wo niemand Mitleid hat und jeder leidet.

Doch was, sie wird schlafen können,
schlafen und vergessen.
Ja, aber morgen wird die unbarmherzige Sirene
sie aufscheuchen
und mit dem neuen Tag wird auch das Elend
wieder beginnen.

Wird sie in diesem verfluchten Lager sterben,
ohne diejenigen wiederzusehen, die sie liebt?
Bei diesem Gedanken überflutet ihr Herz
eine unendliche Traurigkeit!
Meine Kameradin! Meine Schwester!
Gib mir die Hand, hebe den Kopf – schau,
dort, wo die Sonne sich erhebt,
siehst du nicht dieses Leuchten des Morgenrots?

Dort kämpft ein großes Volk, und die Menschen sterben,
damit die anderen befreit werden!
Beuge dich zur Erde nieder, höre,
hörst du nicht dumpfes Grollen?
Das Volk war ein Kind;
der Schmerz, das Leid machte es zum Manne.

Bald, wie diese Grundwogen,
die alles auf ihrem Weg hinwegfegen,
wird das Volk sich erheben und den Haß hinwegfegen,
mit seinen starken und gesunden Armen
wird es dann die neue Gesellschaft erbauen,
wo alle in Frieden leben können.
Meine Schwester! Meine Kameradin!
Verlier nicht die Hoffnung!

Text: Felicie Mertens
Ravensbrück Oktober 1942 Block 3