Aktenzahl des Gerichts (Geschäftszahl): LG Wien Vg 1a Vr 720/45

Prozess wegen Endphase-Verbrechen

Opfer
Widerstand/Opposition

Tatland (Tatort)
Wien (I. Chemisches Institut)

Volksgerichtsverfahren gegen
Dr. Jörn Lange

wegen
Ermordung von Dr. Kurt Horeischy und Dr. Hans Vollmar sowie versuchten Mordes an Max Slama am 05.04.1945 im I. Chemischen Institut in Wien (Horeischy, Assistent des Institutes und Führer einer Gruppe der österr. Widerstandsbewegung, Vollmar, ebenfalls Institutsassistent, und Salma, Mitglied der Widerstandsbewegung, hatten Lange an der Zerstörung des Elektronenübermikroskopes hindern wollen); Beschädigung des Elektronenübermikroskopes und des Registrierphotometers
(Lange war damaliger vertretungsweiser Vorstand des I. Chem. Institutes).

Verlauf der Vorerhebungen/Voruntersuchung bzw. des Gerichtsverfahrens
03.09.1945: Ausscheidung des Verfahrens gegen Johann Lukas (Schlosser u. Oberoffizial im I. Chem. Institut) wegen § 85 StG (boshafte Sachbeschädigung; Unterstützung von Lange) gemäß §§ 56, 57 StG, um Verzögerungen und Erschwerungen zu vermeiden und die Zuständigkeit des Volksgerichtshofes nicht in Anspruch zu nehmen.

15.09.1945: Lange zum Tode verurteilt.

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Am Nachmittag des 1. April 1945 gab der damalige Prorektor der Universität Wien Dr. Viktor Christian die Order aus, dass auf ein im Rundfunk zu verlautbarendes Stichwort kostbare und für die Kriegsführung wichtige Apparate in den Universitätsinstituten zu zerstören seien. Diese Anordnung, die wenige Tage später von Christian abgeschwächt wurde (die Apparate sollten nur beschädigt, aber nicht zerstört werden), gab Dr. Friedrich Wessely, Professor am II. Chemischen Institut der Universität Wien den Vorständen im Institutsgebäude Währinger Straße-Boltzmanngasse, darunter dem 42-jährigen außerordentlichen Professor für physikalische Chemie Dr. Jörn Lange vom I. chemischen Institut, weiter. Der deutsche Staatsbürger Jörn Lange war stellvertretender Institutsvorstand. Ihm oblag aber die Leitung, da sich sein Vorgesetzter, Prof. Dr. Ebert, bereits mit mehreren Assistenten und unter Mitnahme zahlreicher Apparate nach Westen abgesetzt hatte. Er begann unverzüglich mit den theoretischen Vorarbeiten für die Unbrauchbarmachung bestimmter Geräte, vor allem eines wertvollen Elektronenübermikroskopes. Die beiden Assistenten Dr. Kurt Horeischy und Dr. Hans Vollmar stellten sich Lange entgegen, als dieser am 5. April mit der Zerstörung des Mikroskops beginnen wollte. Lange gab jedoch ohne Vorwarnung einen Schuss auf Dr. Horeischy ab, der in der Folge an der Schussverletzung starb. Im darauf folgenden Handgemenge wurde auch Vollmar von Lange erschossen. Dr. Jörn Lange entzog sich seiner Hinrichtung aber durch Selbstmord am 21.01.1946.

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Horeischy, Kurt
25.03.1913 - 05.04.1945 Wien
Der Physiker und Chemiker Kurt Horeischy war schon in den dreißiger Jahren Mitglied der Roten Studenten und ein Antifaschist der ersten Stunde. Nachdem er am Polenfeldzug teilgenommen und sich dort ein schweres Lungenleiden zugezogen hatte, wurde er von der Wehrmacht entlassen. Von 1941 an leitete er das Mikrochemische Laboratorium. Der Tiefkeller des Ersten Chemischen Instituts in der Währinger Strasse 42 war während des Krieges eine Zufluchtsstätte für viele Menschen. Zum einen bot er Schutz vor Fliegerangriffen, zum anderen war er ein Versteck für Juden und politisch Verfolgte. Auch die im Oktober 1944 von Kurt Horeischy und dem späteren Professor Otto Hoffmann-Ostenhof gegründete Widerstandsgruppe Tomsk traf sich hier regelmäßig.
Wenige Tage vor Kriegsende war allen Institutsmitgliedern klar, dass der Befehl zur Zerstörung wichtiger Einrichtungen und Geräte unmittelbar bevorstand. Um die Mittagsstunde des 5. April 1945 informierte
Hans Vollmar (08.06.1915, Baden-Baden – 05.04.1945, Wien), der erste Assistent des Institutsdirektors Jörn Lange, seinen Kollegen Horeischy, dass Professor Lange mit der Betriebsanleitung auf dem Weg zum Elektronenmikroskop, dem einzigen Gerät dieser Art in Österreich, sei. Horeischy entschloss sich spontan,
Lange an der Zerstörung dieses wertvollen Instruments zu hindern.
Nach einem längeren Wortwechsel lenkte Lange scheinbar ein und forderte die Gruppe, die sich inzwischen um ihn versammelt hatte, auf, in seinem Arbeitszimmer alles in Ruhe zu besprechen. Kaum hatten sie das Büro betreten, schoss Lange jedoch auf sie und traf Horeischy tödlich. Als Vollmar sich auf seinen Professor stürzte, um ihn zu bändigen, wurde auch er getötet.
Jörn Lange wurde kurz nach der Befreiung von Beamten des sowjetischen NKWD aufgegriffen und verhört.
Im September wurde er in einem Volksgerichtsprozess, in dem mehrere Angehörige des Instituts als Zeugen aussagten, des doppelten Mordes für schuldig gesprochen und zum Tod durch den Strang verurteilt. Die Vollstreckung wurde durch ein Gnadengesuch von Lange mehrmals verschoben, doch schließlich für den 22. Januar festgelegt. Am Weg zur Hinrichtung vergiftete sich Lange mit einer Blausäurekapsel.