R5.1 Zwangsweiser Aufenthalt in einem Ghetto

Das ZRBG enthält zum Begriff "Ghetto" keine Legaldefinition. Nach seinen Ursprüngen aus dem 16. Jahrhundert ist ein Ghetto ein Stadtteil oder eine Straße, in der ausschließlich Juden wohnen; es ist ein eingegrenzter und von anderen Teilen der Stadt abgegrenzter Bereich.
Für die Beurteilung der Frage, ob sich die / der Verfolgte zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten hat, ist ausschließlich auf eine Ghettoliste zurückzugreifen, die vom BMF im Zusammenhang mit der Anerkennungsleistung nach der Richtlinie vom 01.10.2007 an Verfolgte für Arbeit in einem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war (Anerkennungsrichtlinie) >>(ZRBG § 1 R9), erstellt wurde, die von einer Untergruppe der LGZRBG weiter gepflegt und von der DRV Nord in der jeweils aktuellen Fassung in die Lotus-Notes-Datenbank "Zwischenstaatliche Formulare", Kategorie ZRBG, eingestellt wird.
Sofern ein zwangsweiser Aufenthalt in einem Ghetto behauptet wird, das nicht in der Ghettoliste enthalten ist oder wenn das Ghetto nach dieser Liste zu diesem Zeitpunkt noch nicht eröffnet oder bereits geschlossen war, ist der Sachverhalt zur Klärung an die LGZRBG heranzutragen. Die LGZRBG wird kurzfristig prüfen, ob die Ghettoliste zu ändern beziehungsweise zu ergänzen ist (LGZRBG 1/2009, 5).
Anhaltspunkte für einen zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto können sich aus der Verordnungslage in den jeweiligen Gebieten beziehungsweise aus dem Zeitpunkt der Besetzung ergeben. Die Verordnungslage stellt sich in Bezug auf den Beginn der Ghettoisierung in den einzelnen Gebieten, die vom Deutschen Reich besetzt waren, wie folgt dar:

Generalgouvernement (ohne Galizien): 1. Januar 1940

Galizien: 6. September 1941

Bialystok: 2. August 1941

Reichskommissariat Ostland (Weißrussland/Weißruthenien): 2. August 1941

Reichskommissariat Ukraine (Wolhynien/Shitomir): 5. September 1941

Transnistrien: 30. August 1941

Ungarn: 16. April 1944
Vor dem Tag der Besetzung können keine ZRBG-Zeiten angerechnet werden (LGZRBG 3/2010, 2).
Grundlage für eine Entscheidung im Einzelfall ist jedoch nicht die "Ghettoliste", sondern die jeweilige Quelle, die den dort enthaltenen Daten zugrunde liegt. Feststellungen zur "Ghetto-Eigenschaft" sind folglich auf die dort genannte Fundstelle zu beziehen.
Im Rahmen der zweiten Phase der "Aktion Reinhardt", die darauf zielte, alle Ghettos und Judenwohnbezirke zu liquidieren, fanden von der zweiten Augusthälfte bis November 1942 die Deportationen ("Aussiedlungen") statt. Innerhalb dieser "Aussiedlungen" mussten viele Juden in so genannten "Durchgangsghettos" Station machen. Dort wurden die Juden aus den umliegenden Ortschaften gesammelt. Gleichzeitig mussten aber die "Durchgangsghettos" regelmäßig geräumt werden, damit Juden aus anderen Orten aufgenommen werden konnten. Die Kräfte der SS "entleerten" regelmäßig die von der Zivilverwaltung aufgefüllten Ghettos, die Transporte gingen in die Vernichtungslager.
Diese maßlos überfüllten "Durchgangsghettos" befanden sich regelmäßig in kleinen Orten und Dörfern, die in unmittelbarer Nähe von Eisenbahnstrecken lagen. Die Lebenssituation in den "Durchgangsghettos" unterschied sich von der in anderen Ghettos. Es gab keine Arbeitsmöglichkeiten, und diese waren auch nicht vorgesehen (ZRBG § 1 R5.3.2). Viele Menschen starben an Hunger oder Krankheiten oder wurden bei der Liquidierung der Ghettos von der SS hingerichtet.
Zeiten der Beschäftigung und eines Aufenthaltes in einem Konzentrationslager stehen einer Beschäftigung und einem zwangsweisen Aufenthalt im Ghetto nicht gleich. Dies gilt entsprechend für die jüdischen Arbeitskräfte, die in geschlossenen Zwangsarbeitslagern kaserniert waren. Es wird in dem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Pelzfabrik Kailis als Teil des Ghettos Wilna anzusehen ist. Das Tatbestandsmerkmal "zwangsweiser Aufenthalt in einem Ghetto" liegt daher bei den auf dem Betriebsgelände untergebrachten Beschäftigten der Pelzfabrik Kailis vor (LGZRBG 1/2010, 3).