Vorsitzender Richter:

Laternser, das Wort zu seinen Schlußausführungen zu ergreifen.

Verteidiger Laternser:

Herr Präsident, meine Damen und Herren Richter und Geschworenen, kein auch nur im Entferntesten gerecht denkender Deutscher kann etwa den Ausführungen des Oberstaatsanwalts Großmann insoweit entgegentreten, als er vorgetragen hat, es habe noch niemals in der Geschichte eine Judenverfolgung von solch diabolischer Konsequenz und von solchem Ausmaß gegeben wie diejenige Verfolgung des nationalsozialistischen Regimes. Darüber kann es nie und nimmer irgendeinen Zweifel geben.

Es kann weiter auch darüber keinen Zweifel geben, daß nicht etwa Einsicht oder ein sonst anzuerkennendes Motiv, das Halt für die letzte Vollendung des Verbrechens geboten hat, sondern nur das beginnende Chaos und die Einsicht, den Krieg zu verlieren und strafrechtliche Verantwortung tragen zu müssen, die Ursache bildeten, von dieser letzten Vollendung Abstand zu nehmen – also Motive, die nicht aus der Spitze des damaligen Regimes selbst stammten, sondern ihm durch die Kriegslage aufgedrängt wurden. Wäre diese Kriegslage nicht eingetreten, so bin ich sicher, daß Hitler und seine Komplizen die Vernichtung der europäischen Juden vollendet haben würden.

Ich war nach dem Kriege aus beruflichen Gründen häufig in Italien. Der Faschismus ist dort vergangen, weil er sein Land in einen Krieg verstrickte, den es verlieren mußte. Aber ein wesentlicher Unterschied zwischen Faschismus und dem nationalsozialistischen Regime bestand doch in folgendem: Der Faschismus hatte sich nicht mit solch ungeheuren Verbrechen belastet, wie das der Nationalsozialismus getan hatte. Er blieb – bei allen Eigenschaften eines Gernegroß – doch menschlich. Das hat dazu geführt, daß sich die Italiener nach dem Kriege nicht zu schämen brauchten, wie das jeder Deutsche tat und tun mußte, der sich noch einen Blick für Recht und Anstand bewahrt hatte. Das brauchte also niemand anders für uns zu tun, wie es zum Beispiel der Erste Nebenklägervertreter gesagt hatte, das haben wir selbst getan und selbst tun müssen.

Das Ausmaß der in Auschwitz begangenen Tötungen ist so unvorstellbar, daß sich schon aus dieser Zahl der Tötungen ergibt: In jenen Jahren des Krieges müssen Tausende von Helfern tätig gewesen sein, damit ein solches Ergebnis überhaupt erreicht werden konnte. Es ist ein schweres Schicksal, gleichsam als Repräsentant für Tausende, die dieses furchtbare Ergebnis hervorgebracht haben, vor Gericht zu stehen und ohne vorherige Prüfung einer Schuld in Presse, Rundfunk und Fernsehen als Bestie in Menschengestalt eingestuft und als solche abgebildet zu werden und damit der Öffentlichkeit gegenüber bereits als Schuldiger hingestellt zu sein, so den Haß Tausender gegen sich zu haben, ausländischen Zeugen gegenüberzustehen, für die ein Einstehen für ihre Aussage niemals praktisch werden kann. Machtlos, das heißt ohne Überprüfungsmöglichkeit, Zeugen gegen sich zu haben – ich meine damit insbesondere die Zeugen aus den Ostblockstaaten –, von denen niemand wird mit Sicherheit feststellen können, auf welche Art und Weise ihre Aussagen zustande gekommen sind – ich bin aber in der Lage, Ihnen einige Hinweise zu geben. Unter Mitwirkung von Prozeßbeteiligten zum Gegenstand einer Ausstellung gemacht zu werden, durch systematische, von oben angeordnete Besuche von Schulkindern diesen so als Großverbrecher hingestellt zu werden, obwohl dieser jeweils nur eintägige Besuch den Kindern nur ein unvollständiges, also unzutreffendes Bild vermitteln konnte. Bei Aussagen, wenn sie zum Beispiel im Bestreiten des Angeklagten bestanden – ein gutes Recht des Angeklagten –, von Zuhörern ausgelacht zu werden. Von Zeugen, Staatsanwälten und anderen Prozeßbeteiligten als »Mörder«, »Lügner« oder »Sadist« oder als »diabolisch« gescholten zu werden. Ja die Zeugen haben in vielen Fällen auf die durch das Gericht gestellte Frage, ob sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert seien, erklärt: »Gott sei Dank nicht!« Oder: »Das hat uns noch gefehlt!«

Glauben Sie nicht, daß Zeugen dieser Art und dieser Einstellung bei ihren Aussagen davon ausgehen, bei diesen »Bestien« von Angeklagten komme es auf eine Belastung mehr oder weniger nicht an? Stellen Sie sich einmal vor, meine Damen und Herren Richter und Geschworenen, was das für ein Schicksal ist, wenn es einen Unschuldigen trifft. Und unter diesen Angeklagten sind, wie ich Ihnen zeigen werde, Unschuldige.

Hohes Gericht, die in Auschwitz begangenen Verbrechen sind wirklich ungeheuerlich. Es kann auch ein Verteidiger nicht den erfolglosen Versuch unternehmen, dieses etwa abzuschwächen zu versuchen. Das wäre unmöglich angesichts des Ergebnisses der Beweisaufnahme. Es ist schon richtig, daß das alles ein beschwerendes Wissen ist. Und trotz allem müssen Sie, meine Damen und Herren Richter, den Versuch machen, mit einer besonderen Objektivität, Gewissenhaftigkeit und auch Genauigkeit den Angeklagten gerecht zu werden.

Das ist nach all dem, was geschehen ist, nicht leicht. Denn das furchtbare Geschehen könnte dazu verführen, pauschale Wertungen und Feststellungen zu treffen. Ich erinnere gerade in diesem Zusammenhang an die Ausführungen des Oberstaatsanwalts Großmann am Schlusse seines Plädoyers. Er führte aus, daß der Umfang Ihres Wissens Sie beim Urteilsspruch von möglicher Beschwer befreien sollte. Ein Argument, das – falls es so gemeint gewesen sein sollte, als ob Sie ohne viel Federlesens zu der jeweiligen Verurteilung kommen könnten – für die Gerechtigkeit besonders gefährlich erscheint und Sie von der Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit Ihrer Feststellungen ablenken könnte, worin ja gerade in diesem monströsen Verfahren ihre ganz besondere und wirklich einmalige Aufgabe gesehen werden muß.

Auch ohne die Ausführungen von Oberstaatsanwalt Großmann sind wir Deutschen für Erwägungen dieser Art sehr anfällig. Wir besitzen nicht die klare und objektive Art, wie sie zum Beispiel in gerichtlichen Dingen in England beobachtet werden kann. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beweist dies erneut. Wir haben doch wirklich unglückselige Eigenschaften, und ich zitiere Professor Thielicke: »Entweder wir steigern uns, wenn wir von unserem kollektiven Ich als Volk reden, in einen pathologischen Nationalismus oder aber wir werfen die Begriffe Vaterland und Nation überhaupt über Bord. Entweder wir tragen ein penetrantes Selbstbewußtsein zur Schau und fallen durch nationale Protzerei auf die Nerven oder aber wir verlieren jeden Sinn für nationale Würde und waschen exhibitionistisch vor der ganzen Welt unsere schmutzige Wäsche. Wir frönen dabei der törichten Meinung, daß diese ganze Welt sich ergriffen neigen müsse vor dem Grad des Ernstes und der Revisionsbereitschaft, den wir zu erkennen geben.«

Weshalb ich dieses Zitat anführe: nur deshalb, um zu zeigen, daß wir leicht dazu neigen, von einem Extrem in das andere zu fallen. Die Probleme, die hier in diesem außergewöhnlichen Strafverfahren eine Rolle spielen, müssen mit absoluter Ehrlichkeit angegangen werden und mit der größtmöglichen Selbständigkeit, ohne Rücksicht darauf, was man von uns im Ausland oder sonstwo denken mag.

Die Angeklagten, die vor Ihnen stehen, sind Menschen, deutsche Menschen. Und sie stehen vor Ihnen, weil sie sich gegen deutsche Rechtsnormen vergangen haben sollen. Es sind keine Bestien, wie sie in einem Teil der Presse genannt werden. Soweit sie sich schuldig gemacht haben sollten, so muß gerade wegen der Schwere der Beschuldigungen der einzelne Vorwurf mit besonderer Gewissenhaftigkeit geprüft werden, weil der Zusammenhang mit dem furchtbaren Geschehen in Auschwitz gegeben zu sein scheint, und nicht etwa so, wie es die Staatsanwaltschaft im Plädoyer gegen die Akademiker mit mehr oder weniger pauschalen Feststellungen gefordert hat.

Und bei dieser gewissenhaften Prüfung denken wir, die wir von Verfahren dieser Art nicht betroffen sind, doch daran, daß ein gnädiges Schicksal uns davor bewahrt hat, so ganz in die Nähe der Verbrechen zu kommen. Ich möchte hierfür ein Beispiel geben, aber nicht meiner Person wegen, sondern des Grundsatzes wegen.

Es war im Jahre 1943 oder 44 – sehen Sie, ich kann Ihnen das Datum nicht mehr genau angeben –, als ich einem militärischen Führungsstab angehörte, der im Ausland eingesetzt war. Ich war eines Tages im Offiziersheim und ging nur zufällig an das sich meldende Telefon. Eine Dienststelle rief an und teilte mit, in der Nähe unserer Unterkunft würde eine Kolonne von Juden abgeführt werden. Die Wachmannschaft sei zahlenmäßig zu schwach, es hätte sich schon eine Anzahl von Juden selbständig gemacht. Wir, also unser Stab, möchten die Gegend nach den weggelaufenen Juden absuchen – es war also eine bewachsene Gegend – und eine Verstärkung für die Wachmannschaft abstellen.

Ich sagte sofort, daß ich als Oberleutnant darüber nicht entscheiden könne. Ich wolle diese Angelegenheit aber dem Kommandeur vortragen und Bescheid geben. Selbstverständlich habe ich diese Angelegenheit dem Kommandeur vorgetragen und bemerkt, daß so etwas nicht unsere Aufgabe sein könne. Der Kommandeur, ein jüngerer Oberst, übrigens Pfarrerssohn und Ritterkreuzträger, war – ich hatte es auch gar nicht anders erwartet – sofort meiner Meinung. Ich bekam den Auftrag, der Dienststelle mitzuteilen, daß wir Kräfte nicht freimachen könnten. In Wahrheit hätten wir aber eine gewisse Anzahl von Leuten abstellen können, wenn wir es gewollt hätten. Das versichere ich Ihnen.

Ich meine, daß ich selbst in diesem Fall sehr nahe daran gewesen bin, in ein strafbares Geschehen verstrickt zu werden. Welches Glück hatte ich, und was wäre geschehen, wenn ein anderer Kommandeur meinem Vorschlage nicht stattgegeben hätte? Meine Handlung wäre die gleiche gewesen, nur der Erfolg wäre dann ausgeblieben. Im übrigen weiß ich nicht, und das sage ich ganz offen, was ich bei einem anderen Kommandeur, der zum Beispiel die Gestellung von Leuten unter meiner Führung angeordnet hätte, hätte tun können. Etwa die Verweigerung des Befehls? Ich weiß es nicht. Solche schicksalhaften Fragen kann man nicht hypothetisch beantworten. Man kann in solchen Fragen immer nur die Tatsachen sprechen lassen.


Um die Situation, in die die Angeklagten – ich spreche selbstverständlich immer nur für die fünf von uns verteidigten Angeklagten –, geraten sind, richtig beurteilen zu können, muß man eben etwas Bescheidenheit und auch dieses von mir angedeutete Bewußtsein mitbringen, daß man selbst betroffen sein könnte. Es würden diese Bescheidenheit und dieses Bewußtsein der Aufklärung des wirklichen Sachverhalts wesentlich besser dienen als eine ständige Bereitschaft, über die Taten der anderen auf das tiefste empört zu sein. Aber dazu bedarf es des Mutes, sich mit seinem Volk, auch mit der Schuld seines Volkes, zu identifizieren. Hohes Gericht, nur mit einer solchen Einstellung der Bescheidenheit und dem erwähnten Bewußtsein kann man an die Prüfung dieser Dinge gehen und nicht mit dem aufdringlichen Moralismus, den ein Teil der Presse zur Schau trägt. Ich gehe von der Hoffnung und Erwartung aus, daß dieses Schwurgericht auch diese Gesichtspunkte berücksichtigen wird.

In den Ausführungen des Nebenklägervertreters Kaul, der leider nicht anwesend ist – in diesem Fall sage ich es deswegen, weil ich sagen muß, daß dieser Nebenklägervertreter, der selbst nach dem Kriege Artikel gegen Amerika geschrieben hat, die er wörtlich aus dem »Völkischen Beobachter« des Jahres 1942 abgeschrieben hatte... Aus den Ausführungen dieses Nebenklägervertreters ist es verschiedentlich durchgeklungen, als ob in unserem Staat die Meinung lange dominiert habe, so drückte er es aus, die Kriegsverbrechen nicht zu verfolgen, wie sich das ja auch in der Haltung bei der Verjährungsfrage gezeigt habe. Er meinte auch, die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetzone müsse fortgesetzt und verdichtet werden, wenn es – das war sein Zusatz – in der Bundesrepublik mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen ernst gemeint sei. Als ob man überhaupt jemals an dieser ernsten Absicht der Bundesrepublik hätte zweifeln können.

Ich möchte diesen Ausführungen mit allem Nachdruck entgegenstellen, daß unsere Bundesrepublik überhaupt der einzige Staat ist, der Kriegsverbrechen verfolgt. Denn alle anderen Staaten, insbesondere auch die Siegerstaaten, haben in dieser Beziehung nicht das geringste getan. Wie wenig glaubhaft muß das alles aus kommunistischem Munde klingen, wo doch gerade die Sowjetunion keinen einzigen ihrer Staatsbürger für die zehntausendfachen Morde an Kriegsgefangenen und Zivilpersonen, für die Zehntausende von Vergewaltigungen deutscher Frauen bei der Besatzung Ostdeutschlands und für grausamste Verbrechen jemals zur Rechenschaft gezogen hat, wo auch die westlichen Alliierten Verstöße gegen das Kriegsrecht ungeahndet gelassen haben, ob es sich dabei um die grausamen Taten der Partisanen oder um die durch Kriegsnotwendigkeit nicht gerechtfertigten Bombenangriffe auf deutsche Städte handelt, gleichgültig, es ist kein Verfahren angestrengt worden. Wer hat jemals im Ausland in diesem Sinne die Stimme erhoben?

In seinem Plädoyer hat der erste Nebenklägervertreter ein Zitat gebracht, und ich zitiere es hoffentlich richtig: »Die Größe eines Volkes wird dadurch bestimmt, wie es Unrecht bekämpft und aus seinen Fehlern lernt.« Nun, wenn es danach geht, und wenn dieser Satz tatsächlich richtig sein sollte, so wären wir Deutschen ja mal wieder an erster Stelle, was ich aber nur in Anwendung des vom ersten Nebenklägervertreter gebrachten Zitats behaupten möchte.

Der Kernpunkt dieses ganzen Problems, und lediglich den will ich behandeln, ist doch wohl nicht das Aufrechnenwollen – ein solches Aufrechnen kann überhaupt nicht in Betracht kommen, und ich weiß auch nicht, wer von einer solch rechtlich unhaltbaren These überhaupt ausgehen will –, sondern die Bemängelung der tatsächlich nicht gegebenen Rechtsgleichheit in der internationalen Behandlung dieses Problems. Die Staatenpraxis spielt doch im Rahmen des Völkerrechts eine nicht unbedeutende Rolle. Dieses Thema hat Oberstaatsanwalt Großmann zwar nur vorsichtig gestreift, ganz übergehen wollte und konnte er es wohl auch nicht.

Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß das Vorgehen gegen die Opfer in Auschwitz auch völkerrechtswidrig war. Ich gehe auch weiter völlig einig mit der Staatsanwaltschaft, daß derjenige Staat, der im Rahmen einer kriegerischen Besetzung Zivilpersonen tötet, ein strafrechtliches Verbrechen begeht. Ich bin aber ganz entschieden der Meinung, daß ein solches Vorgehen nicht nur ein Verbrechen ist, falls es von deutscher Seite begangen wird, während die anderen Staaten nicht nur ihre Täter nicht verfolgen, sondern noch gegen unseren Staat hetzen und mit Fingern auf uns zeigen, einen Staat, der allein es unternimmt, alle ihm bekanntgewordenen Verbrechen zu verfolgen.

Ich denke dabei insbesondere an die Oststaaten, die sich auch mit den größten Verbrechen belastet haben. Aber auch [+ an] die westlichen Staaten, Hohes Gericht, und das muß immer und immer wieder als Beispiel für viele angeführt werden: Bei dem Luftangriff von nur 24 Minuten Dauer auf das mit Flüchtlingen übervölkerte Dresden sind mehr als 200.000 Menschen umgekommen, ohne daß jemals die Frage der Verantwortlichkeit für dieses Kriegsverbrechen aufgeworfen worden wäre. Der von mir aufgezeigte Vergleich kann auch nicht, wie es häufig geschieht, damit abgetan werden, der Angriff auf Dresden sei Kriegsgeschehen gewesen, wie es zum Beispiel der erste Nebenklägervertreter in einem anderen Prozeß behauptet hat, während es sich bei der Ermordung der Juden oder der Kommissare um eine kaltblütige Tat gehandelt hat.

Das letztere soll und kann gar nicht bestritten werden. Ich sage aber, daß es sich auch im Falle Dresden um eine kaltblütige Ermordung gehandelt hat, denn, erstens, die Alliierten hatten den Krieg bereits gewonnen, der Angriff konnte keinen militärischen Zweck mehr erfüllen und, zweitens, es war den Alliierten bekannt, daß Dresden mit Flüchtlingen aus dem Osten übervölkert war. Auch all diese Opfer – insbesondere die bei der Besetzung des Ostteils unseres Landes durch die Russen – hatten einen sehr schweren Tod. Die deutschen Opfer sind es aber, wie es mir scheint, nicht wert, daß man ihretwegen die Frage nach der Verantwortlichkeit für ihren Tod prüft und die Schuldigen zur Rechenschaft zieht. Ich bin im übrigen sicher, daß in solchen Fällen der Einwand der Verjährung erfolgreich sein würde.

Ich habe nun zunächst einige Formalien zu behandeln und nicht miteinander zusammenhängende Punkte. Zunächst folgendes: Sie werden sich erinnern, daß ich am ersten Tage der Hauptverhandlung, am 20.12.1963 – nicht 1964, 1963 – einige Einwendungen erhoben haben, und zwar erstens die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts. Und zweitens habe ich die Tatsache gerügt, daß die Anberaumung des Hauptverhandlungstermins auf den 20.12.1963 nur deswegen erfolgt sei, um sich den als Vorsitzenden zuständigen Richter als solchen zu erhalten.

Das Schwurgericht hat auf diese Rüge irgendeinen Beschluß nicht verkündet. Ich möchte zu der Frage, ob hierzu überhaupt eine rechtliche Verpflichtung bestanden hat, keine Stellungnahme abgeben. Das ist die Sache des Gerichts. Ich wiederhole aber die von mir erhobenen Rügen, die in den zwei Schriftsätzen vom 19.12.1963 und einem Schriftsatz vom 3.1.1964, von denen ich die Schriftsätze vom 19.12.1963 erst in der Verhandlung vom 20.12.1963 vorgetragen habe, und bitte, die Wiederholung der Rügen im Protokoll zu vermerken.

Dann ein anderer Punkt, den ich vorziehen möchte. Gegen alle fünf Angeklagten, die ich verteidige, hat die Staatsanwaltschaft den Antrag auf lebenslanges Zuchthaus und auf Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit gestellt. Die Begründung, die im einzelnen Falle für diese Anträge gegeben worden ist, ist den eigentlichen Schwierigkeiten, die für die Beurteilung dieser einzelnen Fälle bestehen, ebenfalls aus dem Wege gegangen. So zum Beispiel die Anträge gegen die Angeklagten Doktor Frank und Doktor Schatz und bei genauer Prüfung auch der Antrag gegen Doktor Capesius und die beiden anderen Angeklagten, Dylewski und Broad.

Diese Anträge sind ganz erstaunlich. Ich glaube, daß ich Sie mit Ihrer Erinnerung nicht zu weit zurückführen muß, um Ihnen aufzuzeigen, daß es schon mal eine Zeit in Deutschland gegeben hat, in der die Staatsanwaltschaft sich durch übermäßige Anträge hervortat, und daß bisweilen auch die Richter diesen übermäßigen Strafanträgen gegenüber die richtige Haltung nicht gefunden, sondern diesen Anträgen sogar nachgegeben haben. Ich habe geglaubt, daß diese Zeit endgültig aus unseren Gerichtssälen verbannt sein würde. Nach dem Antrag zum Beispiel gegen Doktor Schatz kann ich diesen Glauben nicht mehr aufrechterhalten.

Nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung muß die Staatsanwaltschaft den zu beurteilenden Strafprozeß wie ein Richter beurteilen. Die Stellung zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung ist dabei unterschiedlich. Unter gleichmäßiger Hervorhebung der zuungunsten und der zugunsten des Angeklagten sprechenden Umstände [+ und ohne jedes »Vorbieten« im Strafmaß. Ich weiß nun nicht – und kann es auch nicht wissen selbstverständlich habe ich aber das Recht, hierüber auch in der öffentlichen Verhandlung Erwägungen anzustellen –, ob zum Beispiel im Falle Doktor Schatz eine Weisung von vorgesetzter Stelle vorgelegen hat. Das wäre zum Beispiel eine mögliche und naheliegende Erklärung für diesen Antrag. Für das Vorliegen einer solchen Weisung spricht, daß trotz des Ergebnisses der Hauptverhandlung die Staatsanwaltschaft gleichwohl Antrag auf Verurteilung zu lebenslangem Zuchthaus gestellt hat.

Sie sollen also, Hohes Gericht, einen Angeklagten, gegen den die Staatsanwaltschaft keine Beweise hat – der Staatsanwalt Kügler sagte ausdrücklich: »Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen einen Zeugen vorstelle« – zu lebenslangem Zuchthaus verurteilen. Eigentlich spricht das für sich. Wer aber diese Hauptverhandlung mitgemacht hat, dem ist es auch nach der geänderten rechtlichen Beurteilung über die Tätigkeit auf der Rampe nicht verständlich, daß die Staatsanwaltschaft zum Beispiel – ich führe dieses Beispiel immer für die anderen auch mit an – im Falle Doktor Schatz einen solchen Antrag stellt. Es sei denn – das könnte jedenfalls die Erklärung sein –, es liege eine höhere Weisung vor. Die Grenzen der Befolgungspflicht solcher etwaiger Weisungen ergeben sich aus den Grenzen des Weisungsrechts. Jedenfalls gilt als Richtschnur für den Vorgesetzten, daß die Staatsanwaltschaft »nur den Rechtswillen, nicht den politischen Machtwillen des Staates zu vertreten hat«, so Professor Eberhard Schmidt.


Sei die Situation, wie sie auch liegen mag, also gleichgültig, ob eine Weisung vorgelegen hat oder nicht, der Antrag gegen Doktor Schatz steht so außer jedem Verhältnis zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme, daß meines Erachtens grade dieser Antrag das Vorbieten auf das Strafmaß zeigt. Aber dieser Eindruck des möglichen Vorbietens auf das Strafmaß teilt sich auch den anderen Anträgen mit, die gegen die von mir verteidigten Angeklagten gestellt worden sind. Mit einem Vorgehen wie im Falle Doktor Schatz zeigt meines Erachtens die Staatsanwaltschaft deutlich – diesen Schluß erlaube ich mir zu ziehen –, daß sie sich nicht frei fühlt, daß sie möglicherweise glaubt, in einem Fall wie dem Auschwitz-Prozeß müsse nach Möglichkeit die Höchststrafe, also lebenslanges Zuchthaus, beantragt werden.

Ein besonderes Kapitel sind die von den Nebenklägervertretern gestellten Anträge. Der zweite Nebenklägervertreter hat in den Fällen Doktor Frank und Doktor Schatz eine Verurteilung zu je 30.000mal lebenslangem Zuchthaus gefordert, der erste Nebenklägervertreter dies in Bezug auf Doktor Capesius. Daß es sich dabei um einen, und zwar durch mehrere sich häufende Irrtümer verursachten Fehler handelt, möchte ich Ihnen jetzt kurz darlegen.

Zunächst sind die Nebenklägervertreter lediglich berechtigt, insoweit eine Verurteilung zu fordern, als sie zugelassen worden sind. Da sie in den drei jetzt erörterten Fällen – also Frank, Schatz, Capesius – lediglich einmal zugelassen sind, haben sie sonach in jedem dieser drei Fälle 29.999mal lebenslängliches Zuchthaus zuviel verlangt.

Und wie kommt der Nebenklägervertreter zu diesen Zahlen? Das ist auch höchst interessant. Auch hier auf einem Wege, der für diesen Prozeß nicht zulässig oder gar rechtmäßig wäre. Der Nebenklägervertreter nimmt wohl an, daß das noch nicht rechtskräftige, in seinem Text noch gar nicht vorliegende Urteil im Falle gegen Krumey und Hunsche die Feststellung treffen wird, es seien in Auschwitz etwa 300.000 ungarische Juden ermordet worden. Ich habe bereits gesagt, daß das Urteil selbst noch nicht einmal im Texte vorliegt.

Die Rechnung des Nebenklägervertreters verläuft dann weiter wie folgt: Es hätten zu jener Zeit, wie er behauptet, zehn Personen für die Selektionen zur Verfügung gestanden. Drei davon, das weiß er auch, seien die Angeklagten Frank, Schatz, Capesius gewesen. 300.000, die nicht feststehen, durch zehn, die nicht feststehen, ergibt 30.000.

Bei dieser Rechnung steht also keiner der Rechnungsfaktoren der Zahl nach fest. Es steht noch nicht fest, ob das Urteil einmal die Zahl 300.000 feststellen wird. Im übrigen hat dieses Schwurgericht hinsichtlich der Anzahl der ungarischen Juden irgendwelche Feststellungen selbst nicht getroffen. Es steht weiter nicht fest, daß zu jener Zeit lediglich zehn Selekteure zur Verfügung gestanden haben. Sonst behauptet die Nebenklage jeweils, daß sogar die niedrigen Dienstgrade selektiert haben. Die Division 300.000 durch zehn setzt voraus, daß alle Selekteure, also alle zehn Selekteure, haargenau die gleiche Anzahl von Selektionen, auch der Zahl der zu Selektierenden nach, vorgenommen haben. Daraus ergibt sich mit absoluter Sicherheit, daß die Berechnungen nur falsch sein können. Aber der geschichtlich höchste Antrag in einem Strafverfahren ist damit gestellt worden.

Auf seinen Fehler aufmerksam gemacht, hat der Nebenklägervertreter es unterlassen, ihn zu korrigieren. Ich habe Verständnis dafür, daß es peinlich sein muß, in der öffentlichen Sitzung einen so überbotenen Strafantrag um 29.999mal lebenslängliches Zuchthaus zu ermäßigen. Insbesondere auch dann noch, wenn man zuvor in der Presse als derjenige hingestellt worden ist, der den bisher höchsten Strafantrag der deutschen Rechtsgeschichte gestellt hat, und das sogar gegen einen Angeklagten wie Doktor Schatz, bei dem auch die Nebenklage den Freispruch erwarten muß. Die Korrektur eines solchen Fehlers wird damit um so schwerer.


Ich erkenne zwar das eifrige Bemühen des zweiten Nebenklägervertreters während dieses Prozesses an. Ich muß aber andererseits auch einsehen, daß er in seinem ersten Prozeß nicht alles erlernt haben kann. Bedenklicher ist es aber, daß der erste Nebenklägervertreter – wissend, daß die Anträge, die von seinem jüngeren Kollegen am Sitzungstage zuvor gestellt worden waren, gerügt worden waren – im Falle Doktor Capesius gleichwohl einen solchen Antrag wiederholt, also auch die Verurteilung zu 30.000mal lebenslänglichem Zuchthaus.

Wenn man nach den Motiven sucht, aus denen ein solches Vorbieten auf das Strafmaß stattfindet, so kann eigentlich nur die propagandistische Wirkung in Frage kommen, die damit bezweckt wird. Ich verwahre mich gegen solche Methoden auf Kosten der von mir verteidigten Angeklagten. Aus diesem Verhalten der Nebenklägervertreter können Sie aber mit Sicherheit eines entnehmen: nämlich den Maßstab, mit dem Sie die Ausführungen der Nebenklägervertreter zu messen haben werden.

Nun etwas zum Falle Doktor Schatz noch. Es ist auch vorwegzuziehen, weil es etwas Grundsätzliches ist für dieses Verfahren. Die Staatsanwaltschaft hat im Falle des Doktor Schatz nicht nur, ohne irgendein Beweismittel zu besitzen, die höchste Strafe beantragt, die wir überhaupt in unserem Recht kennen. Sie hat ferner versucht, den Angeklagten Doktor Schatz herabzusetzen.

Einen solchen Versuch sehe ich in zwei Punkten. Erstens: Die Staatsanwaltschaft hat einmal ohne zwingenden Grund eine Strafe des Doktor Schatz erwähnt, obwohl diese längst getilgt ist. Die Tilgungsvorschriften haben den Sinn – und das sollte gerade der Staatsanwaltschaft besonders gut bekannt sein –, unter lang zurückliegende Strafen einen endgültigen Strich zu setzen. Die geringfügige Geldstrafe von wenigen 100 Mark liegt nunmehr volle 28 Jahre zurück. Und gleichwohl hält es die Staatsanwaltschaft, dem Sinne der Tilgungsvorschriften zuwider, für richtig, eine solche Strafe zu erwähnen. Was bedeuten aber die Tilgungsvorschriften, wenn sie noch nicht einmal von der dazu berufenen Staatsanwaltschaft beachtet werden?

Zweitens: Die Staatsanwaltschaft hat weiter vorgetragen, der Zeuge Mikolajski habe ein zutreffendes Bild von Doktor Schatz geschildert, indem er ihn als »Pilz mit Stahlhelm« bezeichnet habe. Die Anführung einer solch unwichtigen und noch nicht einmal eine Tatsache darstellenden Bezeichnung im Plädoyer des Staatsanwalts Kügler kann doch nur den einzigen Sinn und Zweck haben, den Angeklagten Doktor Schatz herabzusetzen. Denn diese angeführte Bemerkung spielt schließlich auf die Körpermaße des Angeklagten an. Ob gerade Staatsanwalt Kügler dazu berufen ist, auf die Körpermaße eines Angeklagten Anspielungen zu machen, stelle ich getrost der Beurteilung der Prozeßbevollmächtigten anheim.

Vorsitzender Richter:

Einen Augenblick mal, bitte. Ich bitte, dahinten weder zu lachen noch sich zu unterhalten. Und wenn Sie das hier so lächerlich finden, dann können Sie rausgehen. Ich habe wirklich nichts dagegen. Wir haben hier ernsthafte Dinge zu besprechen, und ich kann nicht zulassen, daß Sie das ins Lächerliche ziehen, was hier vorgetragen wird.

Bitte schön, fahren Sie fort.

Verteidiger Laternser:

Und schließlich noch eine kurze formelle Beanstandung zum Plädoyer des Oberstaatsanwalts Großmann. Oberstaatsanwalt Großmann hat in seinem Plädoyer Aussagen wörtlich zitiert, die der frühere SS-Führer Eichmann in dem gegen ihn gerichteten Verfahren in Jerusalem gemacht hat. Ich behandle selbstverständlich nicht den Fall Eichmann, den ich im einzelnen gar nicht kenne. Ich behandle lediglich die Frage, ob Oberstaatsanwalt Großmann nach unserer Strafprozeßordnung Aussagen, die Eichmann in seinem Verfahren gemacht hatte, verwerten kann, und zwar in diesem Verfahren. Ich bin der Meinung, daß er dazu nicht berechtigt ist, weil die Voraussetzungen des § 136a der Strafprozeßordnung gegeben sind, die die Verwertung von Aussagen, die nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sind, verbietet.

Es ist allgemein bekannt, und ich habe die näheren Einzelheiten hier nicht zu erläutern, daß Eichmann in Argentinien eingefangen und durch Verabreichung von Drogen bewußtlos gemacht und nach Israel gebracht worden ist. Der durch diesen völkerrechtswidrigen Akt herbeigeführte Zustand beziehungsweise der Freiheitsentzug ist nie wieder aufgehoben worden. Die Beeinträchtigung der freien Willensentschließung hat also weiter fortgewirkt, die Aussage Eichmanns kann nach deutschem Recht nicht verwertbar sein. Oberstaatsanwalt Großmann hätte also die Aussage von Eichmann in seinem Plädoyer nicht zitieren dürfen. Übrigens hat das Beispiel auch schon Schule gemacht. Sie wissen alle, daß Oberst Argoud ebenso gewaltsam aus Deutschland nach Frankreich verbracht worden ist.

Hohes Gericht, ich wende mich jetzt den Grundsätzen für die Beweiswürdigung zu, die Sie nach meiner Meinung werden berücksichtigen müssen. Die Beweiswürdigung ist die schwierigste Frage dieses Verfahrens. Und das nicht zu bestreitende objektive Geschehen in Auschwitz kann Sie nicht davon entheben, in den Anforderungen, die Sie an den Beweis der angeblichen Taten der einzelnen Angeklagten stellen müssen, insbesondere nach der Dauer der verstrichenen Zeit, gerade besonders hohe Anforderungen zu stellen. Es ist einmal in diesem Verfahren von seiten des Gerichts eine Bemerkung, vielleicht unbedacht, gefallen, aus der man auf die Meinung schließen könnte, es komme, gerade weil so viele Jahre seit der Tat verstrichen seien, dem Hörensagen besondere Bedeutung zu.

Ich glaube nicht, daß man die Anforderungen an die Strenge des Beweises deswegen geringer stellen kann und darf, weil infolge des langen Zeitablaufs sich die Beweislage infolge von Wissens- und Erinnerungsschwächen ganz natürlicherweise verschlechtert haben muß. Die Anforderungen, die an einen Beweis zu stellen sind, sind immer gleichbleibend streng. Wenn so viel Zeit verstrichen ist wie in diesem Falle, so kann man von der Strenge des Beweises nicht deswegen absehen, weil sich die Beweisaufnahme jetzt schwieriger gestaltet. Ganz im Gegenteil. Gerade der Zeitablauf muß dazu führen, die vorhandenen Beweise noch vorsichtiger zu werten, weil sich der Richter bewußt sein muß, daß sie, wenn es sich zum Beispiel um einen Zeugen handelt, an ihrem Beweiswert gelitten haben müssen. Die Irrtumsmöglichkeiten haben sich vergrößert. Der Zeuge vermischt eigenes Wissen mit Gelesenem oder auch nur Gehörtem. Und nach einer so langen Zeitdauer läßt selbstverständlich auch das Gedächtnis nach.


Die Folgen dieser schlechter gewordenen Beweislage können aber nicht die Angeklagten tragen, und zwar dadurch, daß man an die Beweise etwa geringere Anforderungen stellt. Diese Sachlage muß gerade zu dem entgegengesetzten Ergebnis führen. Sie müssen ihre Feststellungen mit ganz besonderer Vorsicht treffen, weil sich nach dem Ablauf so vieler Jahre die Fehlerquellen erheblich vermehrt haben. Wenn die Ausführungen des Oberstaatsanwalts Großmann, bei denen er von dem Umfang Ihres Wissens sprach und davon, daß dieser Umfang Ihres Wissens Sie beim Urteilsspruch von möglicher Beschwer befreie, bedeuten sollten, eine Beschwer beim Urteilsspruch solle nicht übermäßig ernstgenommen werden, so bin ich in diesem Punkt gänzlich anderer Meinung.

Wie auch Oberstaatsanwalt Großmann in seinen einleitenden Ausführungen vorgetragen hat, sind Sie, wir alle, großen Belastungen in diesem Verfahren ausgesetzt gewesen. Ich glaube, daß die Staatsanwaltschaft, die die Prozeßdauer zunächst auf drei bis vier und dann auf sechs bis sieben Monate geschätzt hatte, auch hierüber die an sich wünschenswerte und auch erforderliche Übersicht nicht gehabt hat. Ein Prozeß dieses Umfangs ist mit der Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit, wie es die Prüfung der schweren Vorwürfe erfordert, einfach nicht durchführbar. Er überschreitet, wie der Kollege Erhard sehr mit Recht gesagt hat, die menschlichen Fähigkeiten. Obwohl sich die Komplexe für eine Teilung dieses unübersichtlichen Prozesses in mehrere Prozesse angeboten hatten, hat die Staatsanwaltschaft den Prozeßstoff gleichwohl nicht aufgegliedert. Es wären dadurch drei oder vier Prozesse mittlerer Art entstanden, deren Umfang immerhin übersehbar geblieben wäre. Vielleicht wäre aber jeder einzelne dieser Prozesse der Staatsanwaltschaft und ihren Vorgesetzten nicht groß genug gewesen. Aber das kann jetzt nicht mehr interessieren.

Aber folgendes interessiert und geht Sie, meine Damen und Herren, mit besonderem Ernste an. Sie stehen in Wahrheit vor einer unlösbaren Situation. Der Staat hat Sie, meine Damen und Herren Richter und Geschworenen, durch die Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main in ein unwegsam gewordenes Gelände, in eine Sackgasse geführt, aus der Sie mit einem gerechten Urteil zurückkommen sollen. Das ist einfach unmöglich. Man stellt an Sie Anforderungen in einem Ausmaß, die die menschlichen Fähigkeiten übersteigen und die Sie einfach nicht haben und auch nicht haben können.

Sie haben nicht die Fähigkeit und auch nicht die Zeit, diesen Prozeßstoff mit der erforderlichen Gewissenhaftigkeit abzuwägen und, wie dies sonst in Strafprozessen der Fall ist, jedes einzelne Beweismittel auf seine Brauchbarkeit hin zu überprüfen. Nach Paragraph 268 der Strafprozeßordnung müßte an sich das Urteil am vierten Tage nach dem Schluß der Verhandlung verkündet werden. So sagt es das Gesetz. Es gebraucht ausdrücklich das Wort »spätestens«. Und der Gebrauch dieses Wortes bedeutet doch, daß das Urteil nicht später als am vierten Tag verkündet werden muß. Die Rechtsprechung allerdings vertritt, nach meiner Meinung dem Gesetz zuwider – die Meinung ist im übrigen streitig –, die Meinung, daß die Verkündigung innerhalb der Zehntagesfrist des § 229 erfolgen könne. Wie wollen Sie eine genaue Abwägung des Prozeßstoffes auch innerhalb dieser Frist von zehn Tagen überhaupt bewältigen?

Diese Frist von vier oder zehn Tagen zeigt doch, daß ein einzelner Strafprozeß nur so viele Sachverhalte enthalten darf, die sich in diesen Fristen sachgemäß und gewissenhaft erledigen lassen. Da dies aber bei weitem nicht der Fall ist, sind Sie also, wie man es modern zum Ausdruck bringt, im wahrsten Sinne des Wortes, in einmaliger Weise überfordert. Hohes Gericht, das ist sicherlich die bedeutsamste Einmaligkeit dieses Prozeßverfahrens. Und diese Situation einer Überforderung, in der sie sich befinden, läßt sich nicht oder gar gewaltsam selbst beim besten Willen und mit den größten Fähigkeiten lösen.

Die Folgen dieser Schwierigkeiten können auch nicht zu Lasten der Angeklagten gehen, indem man die einzelnen Entscheidungen mehr pauschal erledigt, so etwa wie die Staatsanwaltschaft in ihren Plädoyers. Jede Entscheidung in jedem einzelnen Fall ist und darf nur auf die bestmögliche Weise getroffen werden. Jeder Fall muß also gewissenhaft beurteilt werden und entschieden werden, wie wenn er allein zur Entscheidung anstünde und in dem Bewußtsein, daß jede einzelne Stimme zum Freiheitsentzug auf Lebenszeit führen kann.

Sie werden vielleicht meinen, eine solch ausweglose Situation bestehe nicht. Möglicherweise wirkt meine Behauptung als Übersteigerung der gegebenen Sachlage. Ich glaube das aber auf keinen Fall. Es ist doch folgende Situation gegeben: Sie haben einen Prozeß von 18monatiger Dauer hinter sich und sollen nur aufgrund Ihres aus dieser Hauptverhandlung gezogenen Wissens – so meinte es übrigens auch der Oberstaatsanwalt Großmann – ihr Urteil über 20 verschiedene Angeklagte sprechen und dabei – nun bitte ich Sie, ganz besonders gut zuzuhören – eine selbständige Stimme, also eine von den anderen Stimmen unabhängige Stimme, abgeben.

Ich bin mir über meine Erinnerung aus dieser Hauptverhandlung völlig im klaren. Was der einzelne Zeuge im einzelnen gesagt hat, das weiß ich nicht mehr, und das können auch Sie nicht mehr wissen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Ihr eigenes Wissen aus dieser Verhandlung, also Ihre von allen Unterlagen unabhängige Erinnerung soll an sich die Grundlage für Ihre Stimme sein. Eine so sichere eigene Erinnerung über das Ergebnis der Hauptverhandlung, daß sie einem Urteil zugrunde gelegt werden kann, besitzen Sie nicht mehr. Ja, Sie werden sich, wenn Sie zum Beispiel Namen polnischer Zeugen hören, noch nicht einmal mehr der Person selbst erinnern können. Sie würden sie, wenn Sie ihr begegnen, nicht einmal wiedererkennen.

Das bedeutet doch folgendes: Wenn Sie sich der Person selbst nicht mehr erinnern können, dann können Sie auch nicht mehr wissen, was diese einzelne Person als Zeuge ausgesagt hat, weil die Aussage selbst mit der Person untrennbar verbunden ist, so daß nur über die Erinnerung an die Person eine Erinnerung an die Aussage selbst überhaupt noch möglich ist. Sie sind also, allein auf Ihre Erinnerung gestellt, mit absoluter Sicherheit nicht mehr in der Lage, aus Ihrer Erinnerung ein Urteil auszusprechen. Feststellen, was der der Person nach nicht mehr erinnerliche Zeuge im einzelnen gesagt hat, können Sie nur aufgrund Ihrer Notizen.

Notizen sind aber nur Hilfsmittel, die zum Beispiel nicht vollständig, ungenau oder gar irrtümlich falsch sein können. Was tun Sie zum Beispiel, wenn Sie feststellen, daß Ihre Notizen differieren? Nicht die Notizen sind maßgeblich, sondern Ihre Erinnerung. Ist Ihre Erinnerung nicht mehr vollständig oder bestehen Differenzen in den Notizen, so müssen Sie in Anwendung des Grundsatzes »Im Zweifel für den Angeklagten« die Stimme für den Angeklagten abgeben. Was machen aber diejenigen Richter, die keine Notizen oder nur unvollständige haben? Das Gesetz schreibt ja nicht vor, daß sich ein Richter Notizen machen muß. Das Gesetz sagt nur, daß das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheidet. Sie können und dürfen sich doch nicht nach den Notizen eines anderen Richters richten. Vielleicht wäre die Notiz, falls Sie sie selbst gefertigt hätten, anders ausgefallen. Und wenn die Notiz eines anderen Richters, an die man sich anlehnt, unrichtig ist, dann würde sich der unselbständige Richter, obwohl er damit rechnen muß, an eine unrichtige Notiz eines anderen Richters sich anzulehnen, einen Ausweg gehen, der nicht gangbar ist. Sie dürfen sich nicht nach den Aufzeichnungen eines anderen Richters richten.


Ich bin nach dem Eindruck aus der Hauptverhandlung der festen Überzeugung – und es soll selbstverständlich darin keinerlei Vorwurf liegen, Sie sind ja nicht verpflichtet, Notizen zu machen –, daß die Damen und Herren Geschworenen selbst entweder über überhaupt keine oder nur unvollständige Notizen verfügen können. Es ist gewiß schwierig, sich in einem Gerichtsverfahren, auch wenn es nur einen Tag dauert, zweckentsprechende Notizen zu machen, falls man es nicht gewohnt und auch nicht darin geübt ist, über ablaufende Vorgänge Aufzeichnungen zu machen. Das fällt auch uns häufig nicht leicht.

Ich wende mich nun ausdrücklich an die Damen und Herren Geschworenen. Wie Sie an sich selbst feststellen können, hat Ihr Gedächtnis es nicht vermocht, die Aussagen der einzelnen Zeugen festzuhalten. Sie werden sich sogar nur einer geringen Anzahl von Zeugen noch erinnern können. Sie haben von der Person des einzelnen Zeugen, wenn Sie seinen Namen hören – so geht es jedenfalls mir, und daraus ziehe ich diesen Schluß –, keine nähere Vorstellung mehr. Sie würden sie nicht mehr erkennen, wenn sie Ihnen begegnen. Da Sie sich der meisten Zeugen nicht mehr erinnern und auch keine sichere Erinnerung mehr haben werden, was die Zeugen im einzelnen gesagt haben, so ist das der schlüssigste Beweis dafür, daß wir alle an einem Prozeß mitgewirkt haben, der durch seinen Aufbau die Grenzen der menschlichen Fähigkeit mit Sicherheit bei weitem überschritten hat. Da die meisten Geschworenen auch nicht in der Lage gewesen sind, sich laufend Prozeßnotizen für ihr Gedächtnis zu machen, so werden sie also auch nicht in der Lage sein, aufgrund der eigenen Erinnerung eine zweifelhafte oder gar schwierige Frage bei der Feststellung des Tatbestandes selbständig, also ohne fremde Hilfe, zu entscheiden.

Dieses Schwurgericht ist mit neun Richtern, drei Berufsrichtern und sechs Laienrichtern, deshalb besetzt, weil unser Recht es so will und weil bei Entscheidungen über schwere Vorwürfe ein so besetztes Gericht vom Gesetzgeber zur Entscheidung vorgesehen ist. Das Gesetz will – und das ist doch wohl unnötig zu sagen – neun selbständige und voneinander unabhängige Stimmen. Also, wie ich es bezeichnen möchte, echte Richterstimmen, von denen jede gleich viel wiegt und von denen jede einzelne für den Angeklagten von lebensentscheidender Bedeutung sein kann.


Meine Damen und Herren Geschworenen, wenn Sie nicht mehr in der Lage sind, aus Ihrem eigenem Gedächtnis, eventuell unter Hinzuziehung Ihrer eigenen Notizen, festzustellen, was ein Zeuge ausgesagt hat oder wenn Sie sich des Zeugen und daher auch seiner Aussage nicht mehr erinnern – ich gestehe Ihnen, daß es mir bei der Durchsicht meiner Notizen bei den meisten Zeugen so ergangen ist –, dann dürfen Sie keine dem Angeklagten ungünstige Stimme abgeben. Denn es gibt in unserem deutschen Recht, trotz der Ausführungen von Staatsanwalt Kügler, die wohl mindestens unvollständig waren, den fundamentalen Rechtssatz, daß im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden ist – ein Grundsatz, der in allen Kulturstaaten seine Gültigkeit hat und von dem es unangemessen ist, zu sagen, wie es der erste Nebenklägervertreter getan hat, man solle ihn nicht überstrapazieren.

Wie wenn er Anlaß hätte, eine solche Behauptung aufzustellen. Fürchtet er etwa die Anwendung dieses Rechtssatzes? Was meint er überhaupt mit dem »Überstrapazieren«? In irgendeiner rechtlichen Schrift habe ich diesen Ausdruck jedenfalls noch nicht gelesen. Entweder bestehen Zweifel über das Gegebensein irgendeiner Tatsache, und mögen diese Zweifel auch noch so gering sein, dann dürfen Sie diese Tatsache, wie schon im römischen und kanonischen Recht, dem Angeklagten nicht zur Last legen. Was soll denn da überstrapaziert werden? Wenn Sie zweifeln: zugunsten [des] Angeklagten. Haben Sie nur keine Bedenken vor der Anwendung dieses Rechtssatzes, der das wichtigste Hilfsmittel darstellt, unrichtige Urteile zu verhindern. Denn nicht der Rechtsirrtum, sondern der Tatsachenirrtum ist die Gefahr für die Rechtsprechung. »Judizieren ist Kennen von Tatsachen«, ein Ausspruch Otto Bährs, der heute noch uneingeschränkte Gültigkeit für den Strafrichter besitzt.

Was ich damit für die Geschworenen sagen will: Sie dürfen sich bei der Feststellung, was sich hier in der Hauptverhandlung ereignet hat, nicht an einen Berufsrichter oder an einen anderen Geschworenen oder gar an fremde Notizen halten oder auch nur anlehnen. Haben Sie, wie ich bereits gesagt habe, keine eigene Erinnerung mehr, so müssen Sie zugunsten des Angeklagten entscheiden. Würden Sie sich auf fremde Notizen verlassen und diesen Notizen entsprechend Ihre Stimme abgeben, so würden Sie insoweit keine selbständige Stimme abgeben und Sie würden die in diesen fremden Notizen eventuell befindlichen Fehler übernehmen, daher eine falsche Stimme abgeben und damit gegen Ihre Richterpflichten verstoßen.

Ihr Amt in diesem Falle ist unendlich schwer. Es geht, wie ich bereits gesagt habe, über die menschlichen Fähigkeiten weit hinaus. Sind Sie also nicht in der Lage, sich an bestimmte Aussagen mit der dazugehörenden Genauigkeit zu erinnern – das ist eben die natürliche Folge dieser langen Prozeßdauer –, so geben Sie guten Gewissens, und nur so will es der Gesetzgeber von Ihnen, die dem Angeklagten günstige Stimme ab. Denn nicht Sie haben sich in diese überaus schwierige und verantwortungsvolle Lage gebracht, sondern der Entschluß derjenigen, die diesen gesamten Komplex in einem Strafverfahren, also in einem besonders großen Strafverfahren, mit all seinen Nebenwirkungen, erledigen wollten.

Die Staatsanwaltschaft hat in den einleitenden Plädoyers oder in dem einleitenden Plädoyer durch Anführung zahlreicher Daten – übrigens auf fast amerikanische Art – die einmalige Bedeutung und den besonderen Umfang dieses Verfahrens dargetan. Einmalig ist insbesondere aber die Situation, in die sie die Richter dieses Schwurgerichts gebracht hat. Mindestens sind die Laienrichter außerstande, eine echte Richterstimme abzugeben. Ich bin der Meinung, daß schon in dieser Situation, die ja erstmals wohl auftritt, ein Revisionsgrund gegeben zu sein scheint. Und auch das ist einmalig. Ich kann mir nicht denken, daß ein rechtsstaatliches oberstes Gericht solchen Bedenken etwa nicht stattgeben wird. Sie werden sich verschiedener Situationen erinnern, in denen verschiedene Prozeßbeteiligte darüber uneinig waren, was ein Zeuge gerade wenige Minuten zuvor ausgesagt hatte. In einem Fall waren Vorsitzender, Berichterstatter und Anwalt verschiedener Meinung. Und eine vierte Meinung sagte alsdann der Zeuge und berichtigte dabei die Beteiligten.

Zusammenfassend unterstreiche ich nochmals: Jeder der Richter und Geschworenen trägt also die volle Verantwortung für sich, und zwar für sich allein. Bedenken Sie, daß auch eine nicht sorgfältig abgewogene Stimme ebenso wiegt wie eine einwandfreie Stimme und daß auch eine nicht sorgfältig abgewogene Stimme für das Lebensschicksal dieser Angeklagten den Ausschlag geben kann. Denken Sie auch daran, daß sich einer späteren Begnadigung erhebliche Kräfte entgegenstellen werden.

Was nun das Tonband anlangt, das während der Verhandlung aufgenommen worden ist, so befinden Sie sich in der Benutzung dieses Bandes in einer – nach meiner Meinung – schwierigen rechtlichen Situation. Ganz abgesehen davon, daß Ihnen in der für die Beratung zur Verfügung stehenden Frist nicht genügend Zeit verbleibt, es in wesentlichen Teilen abzuhören. Ich weise aber auf folgendes hin: In Gegenwart aller Prozeßbeteiligten ist dieses Tonband aufgenommen worden. Vor Beginn der Aufnahme befragte der Vorsitzende jeweils den Zeugen, ob er damit einverstanden sei, daß seine Aussage »zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts« auf Band aufgenommen werde. Die Zeugen erklärten, von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen, ihr Einverständnis dazu. Die übrigen Prozeßbeteiligten, soweit sie sich an der Befragung des Zeugen beteiligt haben, sind im übrigen nicht befragt worden. Möglicherweise, aber nicht sicher, wird man ihr Schweigen als Zustimmung auffassen können.

Es ist also ein Tonband entstanden, das als ein Teil des Protokolls zu werten ist. Die Verteidigung hatte beantragt – und ich werde das in einem meiner nächstfolgenden Plädoyers neuerlich tun –, auch ihr für die Klärung bestimmter Ungenauigkeiten das Tonband zur Verfügung zu stellen.4 Das Schwurgericht hat diesen Antrag abgelehnt und damit der Verteidigung die Einsichtnahme in einen Teil des Protokolls verwehrt, das auf technischem Wege – also nicht etwa vergleichbar mit richterlichen Notizen – entstanden ist, und zwar in Gegenwart der Verteidigung und auch unter ihrer Mitwirkung.

In dem Beschluß, durch den der Verteidigung die Verwendung des Tonbandes – auf dem sich auch die Befragung des jeweiligen Zeugen durch die Verteidigung befindet – verwehrt worden ist, liegt nach meiner Meinung eine Beschränkung der Verteidigung. Die Beschränkung liegt insbesondere darin, daß der Verteidigung das zu den Gerichtsakten gehörige, während der Hauptverhandlung entstandene Prozeßmaterial für ihre eigenen Erkenntnisse ohne ersichtlichen oder gar wichtigen Grund verwehrt worden ist. Einem fairen Verfahren und einer ungehinderten Verteidigung entspricht es aber, das Prozeßmaterial, das sogar unter Mitwirkung der Verteidigung entstanden ist, wie in anderen Schwurgerichtsverfahren, zum Beispiel in Köln, auch ihr zur Verfügung zu stellen.

Man kann auch nicht etwa die formale Meinung vertreten, das Schwurgericht sei nicht in der Lage, das Band zur Verfügung zu stellen, weil der Zeuge jeweils auf die Frage des Vorsitzenden, ob er damit einverstanden sei, daß seine Aussage »zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts« auf Tonband aufgenommen werde, nur dazu seine Zustimmung gegeben habe. Die Frage des Vorsitzenden an den jeweiligen Zeugen und die Antwort dazu bedürfen einer fairen Auslegung. Wenn der Vorsitzende dieses Gerichts die Zeugen, so wie geschehen, befragte, so ist es nach meiner Meinung klar, daß mit dem Begriff »zur Stützung des Gedächtnisses des Gerichts« alle Prozeßbeteiligten, also auch die Verteidiger, gemeint sein müssen. Eine andere Auslegung würde der wirklichen Sachlage nicht gerecht werden.

Die Entscheidung des Gerichts stellt also eine Beschränkung der Verteidigung für eine oder die wesentliche und vor allen Dingen genaueste Erkenntnisquelle dar, die der Verteidigung schon bei der Vorbereitung der Plädoyers nicht zur Verfügung gestanden hat. Gerade die Anforderungen an eine solche Entscheidung müssen mit Rücksicht auf die besonders lange Dauer dieses Prozeßverfahrens besonders sorgfältig abgewogen werden.

Und warum ich das vortrage: Sollte das Schwurgericht die Tonbänder verwendet haben oder noch verwenden wollen, so ist damit die Beschränkung der Verteidigung perfekt, weil die Verteidigung das Material, das das Gericht benutzt, nicht einmal überprüfen und dann auch selbst nicht benutzen kann. Aber auch für den Fall, daß das Gericht das Tonband nicht verwenden sollte, liegt eine Beschränkung der Verteidigung vor.

Herr Präsident, ist das jetzt ein geeigneter Augenblick, um eine Pause einzulegen?

Verteidiger Laternser:

Hohes Gericht, es ist ein Grundsatz unseres Strafprozeßverfahrens, daß so lange von der Einlassung des Angeklagten, das heißt also von seinen Angaben zur Sache, auszugehen ist, bis sie nicht durch einwandfreie Beweise widerlegt worden ist. Das ist die Prozeßsituation, wie sie in unserem Falle gegeben ist: Nicht der Angeklagte hat zu beweisen, sondern ihm ist nach 20 Jahren zu beweisen, daß seine Einlassung, also sein Bestreiten, unrichtig ist, und zwar mit einer Beweiskraft, die jeden vernünftigen Zweifel ausschließt. Solange also die Einlassung nicht mit einwandfreien Beweismitteln widerlegt ist, müssen Sie von ihr ausgehen. Das allein ist die Prozeßsituation. Sie führt also notwendig zu Überprüfung der einzelnen Beweise dahingehend, ob sie es vermochten, die Einlassung des Angeklagten zu widerlegen.

Diese Überprüfung muß allerdings genauer und sorgfältiger geschehen, als sie von der Staatsanwaltschaft in ihren Plädoyers vorgenommen wurde. Die Staatsanwaltschaft ging etwa nach der Faustregel vor, daß Belastungszeugen nur glaubwürdige Zeugen seien. Es bedürfe, wie sie vorgetragen hat, keiner Unwahrheiten, die Wahrheit sei schrecklich genug.

Das ist ein Satz, der nicht in ein sorgfältiges Abwägen von Beweismitteln gegenüber einem Angeklagten paßt. Er zeigt wieder das pauschale Denken der Staatsanwaltschaft. Sicher sind die Vorgänge, die wahren Vorgänge, in Auschwitz schaudererregend. Darauf allein aber paßt der Satz, es bedürfe keiner Unwahrheiten. Zu der Frage jedoch, welche Taten welcher Angeklagte begangen hat, paßt er ganz und gar nicht. Er ist geradezu gefährlich und könnte möglicherweise dazu verleiten, die Belastungszeugen ohne viel Federlesens als glaubwürdig zu beurteilen: Wo doch in Auschwitz so vieles an Verbrechen begangen worden sei, kommt es im übrigen auf die Wertung der Beweise sowieso nicht mehr genau an.


Ich bin da gänzlich anderer Meinung. In einem Urteil können Sie zur Widerlegung der Einlassung des Angeklagten nur ganz einwandfreie Beweismittel verwerten. Nach Ablauf von über 20 Jahren müssen Sie aber – und darüber kann eigentlich gar nicht gestritten werden, Ausnahme in Prozessen dieser Art – jedem Beweismittel mit größter Skepsis begegnen. Ein Zeuge, der sich zum Beispiel widerspricht, muß allein schon dieses Widerspruchs wegen ausscheiden. Denn welche der widersprechenden Aussagen können Sie nach 20 Jahren als richtig bewerten?

Die Aussage eines Zeugen, der sich in einem wichtigen Punkte irrt, kann eben einem Urteil einfach nicht zugrunde gelegt werden. Schon das bedeutete einen kapitalen Fehler. Wollen Sie einem Zeugen, der sich erwiesenermaßen in einem erheblichen Punkte irrt, überhaupt noch folgen? Das verbietet doch die Vorsicht. Und wenn Sie diese Vorsicht nicht anwenden und sich später herausstellt, daß Ihr Urteil wegen dieser mangelnden Vorsicht falsch ist, dann trägt für das falsche Urteil in erster Linie nicht der Zeuge [+ die Verantwortung], sondern der Richter, der die Vorsicht außer Acht läßt, Aussagen eines Zeugen zu verwerten, der sich nachweisbar in einem wichtigen Punkte geirrt hat. Woher wissen Sie dann, daß sich ein so irrender Zeuge nicht auch in anderen Punkten irrt? Ein Zeuge, der sich nicht auf eigene Wahrnehmungen beschränkt, sondern dem Gericht Schlüsse zumutet oder der Hörensagen verwertet, kann auch nicht mehr gewertet werden. Denn Sie wissen ja nicht, wo die Grenzen zwischen eigener Wahrnehmung und dem Hörensagen liegen.

Das alles richtig zu bewerten, vorsichtig zu bewerten, gehört zur richterlichen Tätigkeit, und das ist die schwierigste im Rahmen dieses Verfahrens.

Hohes Gericht, versuchen Sie doch einmal selbst, anhand eines praktischen Beispieles, sich an Dinge zu erinnern, die 15 bis 20 Jahre zurückliegen. Versuchen Sie, Einzelheiten zu schildern. Mit Sicherheit wissen Sie eigentlich nichts mehr, nur noch vereinzelte gewichtigste Dinge, noch nicht einmal die große Linie des Geschehens ist noch in Erinnerung. Sie werden sich zum Beispiel erinnern an die Tatsache der Beteiligung an einer gefährlichen Kriegshandlung oder an einer Gerichtsverhandlung. Aber nähere Einzelheiten, wie zum Beispiel, wer im einzelnen bei solchen Ereignissen mit Sicherheit zugegen war, werden Sie nicht mehr wissen. Sie werden höchstens einen möglichen Teilnehmerkreis nennen können, nicht aber einzelne Teilnehmer als solche mit Bestimmtheit nennen können.

Ich erinnere mich eines Vorhalts des Herrn Vorsitzenden, als er einem Zeugen erklärte, so etwas präge sich derart ein, daß man es niemals vergessen könne. Ich gehe mit diesem Vorhalt nicht einig, jedenfalls nicht in dieser Allgemeinheit. Man mag das vielleicht glauben oder annehmen, aber in dieses vermeintliche Einprägen in das Gedächtnis vermischen sich im Laufe von 20 Jahren so viele andere Eindrücke, daß eine zunächst klare Vorstellung allmählich getrübt wird und werden muß.

Wenn zum Beispiel im Falle des Doktor Frank der Zeuge Rosenstock nach über 20 Jahren aussagt, er habe Doktor Frank fünfmal bei Tage und einmal nachts selektieren sehen, so ist das, wie er es aussagt, eine absolut unmögliche Erinnerung. Also genau fünfmal hat er ihn am Tage gesehen. Er hat ja nicht gesagt, ungefähr fünfmal. Das Ankommen der Transporte war im Sommer 1944 in Birkenau leider etwas Alltägliches. Alltägliches nach 20 Jahren zu schildern, und zwar so, er, also der Zeuge, habe Doktor Frank unter anderem fünfmal bei Tage auf der Rampe gesehen, ist in so hohem Maße unmöglich, daß man über eine solche Aussage eigentlich zur Tagesordnung übergehen müßte. Wenn nämlich der Zeuge sagt, er habe Doktor Frank fünfmal gesehen, so muß er sich dieser fünf einzelnen Fälle erinnern und sie schildern, weil er sonst die Zahl fünf in seinem eidlichen Zeugnis nicht verwerten darf.

Der Kollege Schallock hat doch mit Recht gesagt, uns fehlen nach so langer Zeit die Kontrollmöglichkeiten. Das sind Kontrollmöglichkeiten, indem man auf Regeln der Logik die Aussagen überprüft. Das kann der Zeuge Rosenstock. Etwas Alltägliches behaupten fünfmal gesehen zu haben, vor 20 Jahren, ist etwas, was er einfach unmöglich kann. Man sieht daran, wenn er es gleichwohl tut und sagt, daß der Zeuge den Angeklagten nicht nur mit dem Selektieren, sondern sogar mit fünfmaligem Selektieren belasten will. Wer kann ihm das nach 20 Jahren abnehmen und darauf noch ein Urteil bauen? Niemals.

Ich füge noch an: Bis zu diesem Zeugnis war Doktor Frank noch von keinem Zeugen belastet worden. Nunmehr wurde er auf Antrag der Nebenklage in Haft genommen.

Und das sage ich nun ganz besonders für die Damen und Herren Geschworenen: Man kann mit Recht den Standpunkt vertreten, daß für die Feststellung einer Tatsache normalerweise ein guter Beweis genügen kann – so das Vorliegen einer zur Tatzeit entstandenen Urkunde oder das Zeugnis eines persönlich einwandfreien, aber nicht interessierten, also nicht befangenen Zeugen. Nun, ein nicht interessierter und unbefangener Zeuge wird nach 20 Jahren normalerweise über keinen Vorgang mehr Bekundungen machen können, dem er interesselos und unbefangen gegenübergestanden hat.

All diese Erwägungen und Überlegungen müssen eben zu dem Ergebnis führen, daß nach einem gewissen Zeitablauf ein einwandfreier Beweis, der in einem Urteil Verwertung finden kann, überhaupt nicht mehr geführt werden kann. Professor Sarstedt vom Bundesgerichtshof – er ist dort Senatspräsident, wie Sie wissen – hat sich zu diesem Problem sehr zutreffend geäußert. Er meinte dabei, daß eine etwaige Verlängerung der Verjährung den Gerichten eine Aufgabe zudenkt, die sie wegen der Sterblichkeit des Menschen und wegen der Unzulänglichkeit des Gedächtnisses ohnehin nicht in einer das Rechtsgefühl befriedigenden Weise werde lösen können. Sie könnten es vielfach schon jetzt nicht mehr.

Und wenn Sie alle diese alten Beweise würdigen, dann müssen Sie an folgendes denken: Viele schlechte Beweise – und das sind eben Aussagen nach 20 Jahren – ergeben, auch wenn sie zusammengenommen werden, keineswegs, nie und nimmer einen guten Beweis. Ein von mir sehr geschätzter Kollege drückte das einmal sehr treffend aus. Er sagte: Zehnmal null gibt nicht drei, auch nicht fünf, auch nicht acht, sondern null. Zehnmal null ist null.

Im britischen Militärrecht – und ich muß das anführen hier, weil es ein Erfahrungssatz ist, der von Bedeutung ist – gibt es ein sogenanntes Manual of Military Law, in dem alle gesetzlichen Bestimmungen zusammengefaßt sind, auch Erfahrungen und Leitsätze, für Offiziere und Soldaten, falls sie als Richter hinzugezogen werden. Ich trage das für die Damen und Herren Geschworenen vor. In diesem Handbuch sind einige grundlegende Regeln enthalten und zur Beachtung empfohlen, die also den als Richter berufenen Militärpersonen als Stütze und Anleitung dienen sollen. Dort befindet sich der Satz, der mir besonders gefallen hat, weil er einen wichtigen Erfahrungsgrundsatz in besonders klarer Weise ausdrückt. Es heißt dort, daß überhaupt nur gute und einwandfreie Beweise die Überzeugung von der Schuld eines Menschen vermitteln, und daß schlechte Beweise, mögen sie tausendfach angehäuft werden, zur Feststellung einer Schuld niemals ausreichen können. Ein ganz einfacher und logischer Satz. Also tausendmal null gleich null.

Aber wie oft wird gegen diesen klaren Grundsatz, nach meiner Meinung, verstoßen. Die Verstöße sind nach meiner Meinung in den meisten Fällen die nahezu einzige Ursache für Falschurteile. Ich denke dabei gerade an einen großen Indizienprozeß, der in den letzten Jahren erhebliches Aufsehen erregt hat. Auch dort sind meiner Meinung nach zweifelhafte Beweise in großer Zahl aneinandergereiht und aufgehäuft worden. Zwar kann ich mir selbstverständlich kein maßgebliches Urteil über Prozesse bilden, an denen ich nicht teilgenommen habe. Ist aber in jenem Münchner Prozeß das Urteil falsch, so kann es eigentlich nur dadurch zustande gekommen sein, daß schlechte Beweise überbewertet worden sind.

Meine Damen und Herren Geschworenen, es kann ja auch nicht anders sein, wie ich sage, daß schlechte Beweise wegen ihrer Trüglichkeit niemals eine auch nur untergeordnete und dadurch möglicherweise unterstützende und damit auch ausschlaggebende Rolle spielen dürfen. Es kann also mit der Häufung schlechter Beweise überhaupt nichts erreicht werden. Nur einwandfreie Beweise, aber wirkliche Beweise, und nicht etwa Hörensagen, Schlußfolgerungen, Annahmen, Vermutungen, zählen bei der Feststellung des Sachverhalts, von dem Sie für ein Urteil ausgehen können. Sicher wäre schon manches Falschurteil vermieden worden, wäre man sich über diesen einfachen Grundsatz und insbesondere über seine Anwendung immer klar gewesen. [Pause]

Wie oft haben Sie während dieser Verhandlung gehört, daß sich Zeugen bei ihren Aussagen, die sie gerade diesem Gericht gegenüber machten, auf die Presse berufen haben, die sie in der letzten Zeit gelesen hatten. Alles, was diese Zeugen nicht mehr wußten und was sie Ihnen dann doch ausgesagt haben, wird im wesentlichen auf das Lesen der Zeitung zurückzuführen sein. Ich habe daran nicht den mindesten Zweifel.

Und nun haben auf die Zeugen in diesem Verfahren aber noch andere Kräfte eingewirkt. Ich komme darauf in anderem Zusammenhang sehr ausführlich zurück.

Wenn man all diese Umstände für das Zustandekommen der Zeugenaussagen berücksichtigt, so muß man zu dem Ergebnis gelangen, daß Sie sämtlichen Aussagen nur mit dem größten Zweifel gegenübertreten müssen. Wenn zum Beispiel zwei Zeugen das gleiche sagen, so ist das keineswegs schon eine Bestätigung, weil sich diese scheinbare Bestätigung möglicherweise daraus ergibt, daß der Vernehmungsbeamte durch entsprechende Vorhalte diese Aussage des einen in die Bekundung des anderen hineingebracht hat. Wir haben doch Vernehmungsprotokolle aus Polen, die teilweise und mehrfach wörtlich übereinstimmen.

Und was wir in diesem Prozeß fast am meisten gehört haben, das bestand aus einer Flut von Hörensagen. Jeder Richter, der Vorsicht übt, weist Hörensagen ohne weiteres zurück. Es bedeutet für ihn nichts, aber auch gar nichts. Und was es bedeuten kann: eine eminente Gefahr für die Wahrheitsfindung. [Pause] Die Erfahrung von der Trüglichkeit des Zeugnisses vom Hörensagen hat im britischen und im amerikanischen Recht zu der klarsten Regelung geführt. Dort gilt der Satz: »Hearsay is not evidence.« Das heißt also in sinngemäßer Übersetzung: Hörensagen ist überhaupt kein Beweis. Und das ist ein Erfahrungsgrundsatz, der aus Englands alter und gediegener Tradition für gerichtliche Dinge stammt. Fast die Kinder unterscheiden dort schon zwischen »facts« und »hearsay«.


Bei den Vorbereitungen für dieses Plädoyer bin ich einmal auf den Gedanken gekommen, zu überlegen, welches Beweisergebnis vorläge, falls dieser Prozeß vor einem britischen oder amerikanischen Gericht geführt worden wäre, das zum Schutze der Angeklagten strengere Regeln aufweist als unser Verfahren. So wäre in einem Verfahren vor einem anglo-amerikanischen Gericht keinerlei Hörensagen zugelassen worden, noch nicht einmal der Beginn oder der Ansatz zu einem Hörensagen. Die Vorträge und Referate, die uns Zeugen bisweilen gehalten haben, ohne daß irgendein Zusammenhang mit dem Eröffnungsbeschluß gegeben war, wären im Keim erstickt worden. Nur die Aussagen, die in näherer Beziehung zu den angeschuldigten Taten stehen, wären vor einem britischen Gericht zur Erörterung gekommen. Und jedes Urteil, das sich dort ein Zeuge erlaubt haben würde, wäre zurückgewiesen worden, und schon mit dem zweiten Satz wäre der Zeuge nicht mehr zurechtgekommen. Die Situation für die Richter in einem solchen Prozeß wäre ohne jeden Zweifel wesentlich weniger schwierig.

Leider gelten aber solche Regeln in dieser klaren Strenge bei uns nicht, ich möchte sagen: leider noch nicht. Wir sind eben noch nicht so weit gekommen. Aber auch bei uns gilt die Erfahrung, daß eine Nachricht, je mehr Glieder sie durchläuft, um so mehr entstellt wird durch Zusätze, Weglassungen und Änderungen. Ist eine Nachprüfbarkeit des Hörensagens nicht gegeben, so bedeutet Hörensagen immer nur, daß diese Worte gesprochen worden sind, nicht aber, daß der Inhalt der Worte als richtig zugrunde gelegt werden könnte. Ein solches unkontrollierbares Hörensagen ist ohne jeden Beweiswert, es ist daher auszuschalten. Solange in unseren deutschen Gerichtssälen das Hörensagen nicht unterbunden werden kann und solange Fragen, die auf Hörensagen anspielen, nicht zurückgewiesen werden können, solange wird das Hörensagen in erheblichem Maße die Feststellung der Wahrheit verhindern.

Nun zu den einzelnen Zeugenaussagen.

Alles andere als erschöpfend, zutreffend oder gar überzeugend war die pauschale Würdigung, die Staatsanwalt Vogel den Zeugenaussagen gewidmet hat. Es war eigentlich gar keine Würdigung, sondern lediglich eine Wiedergabe der Aussagen in sehr verkürzter Form. Wenn in diesem Zusammenhang gleich zu Beginn Staatsanwalt Vogel von einer Unverfrorenheit der Angeklagten und der Verteidiger gesprochen hat, die darin bestehe, es sei ins Blaue hinein behauptet worden, Hunderte von Zeugen seien nach Frankfurt gekommen, um einen Meineid zu leisten, es handle sich um eine bestellte Arbeit, so ist eine solche Behauptung von der Verteidigung zunächst niemals in der von Staatsanwalt Vogel wiedergegebenen Art aufgestellt worden. So pauschal wertet nur die Staatsanwaltschaft in diesem Verfahren.

Staatsanwalt Vogel hat also nicht der Wahrheit entsprechend referiert. Den Gebrauch des Wortes »Unverfrorenheit« weise ich mit allem Nachdruck zurück. Er fällt auf den Staatsanwalt Vogel selbst [+ zurück], der mit dem Gebrauch des Wortes »Unverfrorenheit« selbst eine solche begangen hat. Der Gebrauch dieses Wortes uns Verteidigern gegenüber läßt im übrigen Rückschlüsse auf die Person des Wortbenutzers zu, die ich im einzelnen hier jedenfalls nicht erörtern möchte.

Nun zur Sache. Was nun die pauschale Stellungnahme zu den Aussagen anlangt, so war sie doch zu einfach gehalten. Jede einzelne Aussage bedarf ihrer eigenen eingehenden Würdigung. Wenn also Staatsanwalt Vogel meint, er sei von der subjektiven Glaubwürdigkeit grundsätzlich überzeugt, die Zeugen hätten einen guten und glaubwürdigen Eindruck gemacht, sie hätten leidenschaftslos ausgesagt, so sind das lediglich allgemeine Redewendungen nichtssagender Art, mit denen Sie nichts anfangen können. Und er beschränkt diese allgemeinen Redewendungen eigentlich auch nur auf die Belastungszeugen; den anderen glaubt er ohnehin nicht.

Auch Staatsanwalt Vogel meint, daß einige Zeugen erregt gewesen und gegen die Angeklagten ausfällig geworden seien. Das hat er immerhin auch vermerkt. Soweit dies aber der Fall gewesen sei, hätten sich, so Staatsanwalt Vogel, die Zeugen nicht durch Haß, sondern durch echte Gefühle hinreißen lassen. Woher weiß er das? Kann man das denn sehen? Sie seien aber alsbald ihrer Erregung Herr geworden und hätten sich dann bemüht, sachlich auszusagen.

Dann ging die Staatsanwaltschaft dazu über, Zeugengruppen zu bilden, die nach ihrer Meinung gemeinsam im Grundsätzlichen beurteilt werden müßten. So könnten gegen die größte Gruppe derer, die wegen ihrer politischen Überzeugung ins KZ gekommen seien, keine Bedenken erhoben werden, weil sie charakterlich einwandfrei seien. So seien – und wieder das Pauschalurteil – die Zeugen aus Polen und der Tschechoslowakei durchaus glaubwürdig. Sie hätten sich in keiner Weise gehässig gezeigt – das werden sie uns ausgemacht auch noch zeigen –, ein genereller Deutschenhaß sei nicht feststellbar gewesen. Ich hatte allerdings bisweilen einen anderen Eindruck.

So also sieht die Würdigung der Zeugen aus Polen und der Tschechoslowakei durch die Staatsanwaltschaft aus. Die jüdischen Zeugen seien die Parias unter den Häftlingen gewesen. Darüber kann kein Zweifel herrschen. Mit dem Ausdruck der Trauer über das Geschehen hätten sie ruhig und sachlich ausgesagt. Diese zwei Sätze genügten der Staatsanwaltschaft für die Beurteilung der jüdischen Zeugen.

Und hier liegt doch ein ganz besonderes Problem. Wenn man gerade dieses so wichtige Problem so sieht wie die Staatsanwaltschaft, dann brauchte man keine Hauptverhandlung mehr, dann würde auch das schriftliche Verfahren genügen.

Also so ungefähr stellt sich die Staatsanwaltschaft die Würdigung der Beweisaufnahme vor. Alle späteren Sprecher für die Staatsanwaltschaft haben sich auf diese Ausführungen bezogen und nichts weiter hinzugefügt.

Ich bin in diesen Punkten wesentlich anderer Meinung und glaube, daß das überhaupt das schwierigste, und meist nicht lösbare Problem ist, vor dem Sie stehen. Sie können keinem Zeugen ins Herz sehen. Sie müssen daher bei der Beurteilung sich in die Lage des Zeugen hineinversetzen, von der aus er seine Aussagen macht.

So müssen Sie zum Beispiel bei den jüdischen Zeugen daran denken, daß Ursache und Hauptgegenstand dieses Prozesses diese unermeßlichen Leiden des jüdischen Volkes sind, dem Jahre hindurch ohne Erbarmen und mit aller Grausamkeit Angst, Schrecken, Zurücksetzung, Erniedrigung, Ächtung, Hunger und Tod zugefügt wurden, an dem das größte Verbrechen seit Bestehen der Menschheit begangen worden ist. Ein Volk, das in so unvorstellbarer Weise heimgesucht worden ist, wird seine Peiniger und Mörder nicht vergessen können. Es muß – und das ist schon für Sie, Hohes Gericht, von Bedeutung – als sichere Folge angenommen werden, daß sich ein tiefer und, wie ich ausdrücklich betonen möchte, auch verständlicher Haß gegen alle diejenigen richtet, die mit dem Verbrechen gegen das jüdische Volk im Zusammenhang standen oder diesem Verbrechen auch nur so nahe waren, daß dieser Zusammenhang angenommen werden kann.

Ich sage, daß es sich dabei um einen verständlichen und auch gerechtfertigten Haß handelt. Das aber ist gerade der schlechteste Ausgangspunkt oder die schlechteste Grundlage für Zeugenaussagen in einem Strafprozeß überhaupt, in dem es gerade darum geht festzustellen, ob ein Angeklagter an einem bestimmten Verbrechen gegen die Juden überhaupt teilgenommen hat oder nicht. Hier schon beginnt die überaus schwierige richterliche Tätigkeit, nämlich festzustellen, ob dieser oder jener der Belastungszeugen als glaubwürdig angesehen werden kann oder ob die richterliche Vorsicht dem etwa hassenden Zeugen keine Bedeutung beimessen kann.

Hohes Gericht, dieses in die Augen springende Problem, das man selbstverständlich behandeln darf, hat die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer noch nicht einmal gestreift. Obwohl es, wie ich gesagt habe, in die Augen springt und sicher eines der erstrangigen Probleme dieses Strafverfahrens darstellt. Für die Staatsanwaltschaft sind die Belastungszeugen beste Zeugen. Es besteht für sie keinerlei Anlaß, ihnen etwa nicht zu glauben. Die Staatsanwaltschaft hat also dieses eigentliche Problem noch nicht einmal gesehen oder erwähnt, geschweige denn zu lösen versucht. Sie tappt einfach den Belastungszeugen nach, ohne sich die Frage zu stellen, ob dieser Weg auch richtig ist.

Bereits in einem früheren Prozeß habe ich dieses Problem mit ähnlichen Worten angeschnitten. Der erste Nebenklägervertreter legte demgegenüber damals dar, daß das jüdische Volk aufgrund der furchtbaren Tragödien, die es immer wieder in seiner langen Geschichte über sich hat ergehen lassen müssen, es gelernt habe, Unrecht zu ertragen und deshalb grundsätzlich nicht hasse, sondern nur eine abgrundtiefe Verachtung seinen Verfolgern gegenüber empfinde. Wenn mit dieser Einstellung tatsächlich bei den Zeugen gerechnet werden müßte oder könnte, wie es der erste Nebenklägervertreter in einer von mir damals zum erstenmal gehörten Offenheit darstellte und worüber ich geradezu bestürzt war – ich gehe nämlich keineswegs so weit –, so könnten Tatbestände dieser Art in Wahrheit überhaupt nicht mehr festgestellt werden. Denn bei keinem Zeugen hätte man dann die Gewähr dafür, daß seine Aussage objektiv wahr ist, weil sie auch bei erkennbarem Bemühen um die Wahrheit durch subjektive Einflüsse, dem Zeugen kaum bewußt, verfälscht sein kann.

Woraus wird denn diese abgrundtiefe Verachtung geboren? Doch allein aus dem Haß, der zwar nicht mehr hell lodert, aber sich dadurch nur noch vertieft hat. Das Gericht wird daran denken müssen, wenn es die Aussagen jüdischer Zeugen bewertet.

Wenn also ein Zeuge – und das ist mehrfach geschehen – [+ auf] die an ihn gerichtete Frage, ob er mit den Angeklagten verwandt oder verschwägert sei, antwortete: »Gott sei Dank nicht« oder »Das hat mir noch gefehlt«, so ist das schon eine Bemerkung, die dem Gericht mit Deutlichkeit zeigt, daß es mit einem mindestens voreingenommenen, wenn nicht gar hassenden Zeugen zu tun hat. Ein mit einer solchen Bemerkung begonnenes Zeugnis muß bei Anwendung der vom Gericht zu erwartenden Vorsicht bei der Würdigung der Beweise ausscheiden. Das Gericht muß nämlich davon ausgehen, daß das zum Ausdruck gebrachte Gefühl und die Einstellung sich bei jeder Phase der Aussage auswirken kann und auch auswirken wird. Wenn ein Zeuge – auch das ist mehrfach geschehen – die Angeklagten mit »Mörder« und »Lügner« beschimpft hat, so können Sie auch ein solches Zeugnis nicht mehr zugrunde legen.


Gerade in Dingen, Hohes Gericht, die das so unermeßlich gepeinigte jüdische Volk betreffen, erkennt man bisweilen oder auch oft das Bestreben, um jeden Preis einen Fehler zu vermeiden – vor allem aber deshalb, um Vorwürfen zu entgehen, um nicht in einen falschen Verdacht zu geraten. Und wie weit diese Vorsicht geht? Ich meine, daß schon viele, bevor sie das Wort »Jude« überhaupt aussprechen, irgendwelche Hemmungen zu überwinden haben. Es fehlt aus irgendwelcher Angst das gesunde, natürliche und unbeschwerte Gefühl gegenüber Juden, wie wir es während unserer Schulzeit beim Sport, beim Studium und auch noch als Referendare gehabt haben, bis das schreckliche Jahr 1933 anbrach, das ich übrigens auch schon damals als schrecklich empfunden habe. Wenn jetzt nur die Sprache auf eine jüdische Frage kommt, dann beteiligen sich schon einige der Anwesenden aus reiner Vorsicht nicht mehr am Gespräch, und zwar aus Angst, vielleicht falsch verstanden zu werden.

In dem Bestreben, nach dem ungeheuerlichen Unrecht, das den Juden zugefügt worden ist, nunmehr nichts falsch zu machen, und aus übervorsichtigen Bedenken, daß eine Stellungnahme keine falsche Auslegung findet, wird aber bisweilen ganz erheblich über das Ziel geschossen. Mir ist zum Beispiel ein Fall bekannt – und ich führe diesen Fall immer wieder an, weil er bezeichnend ist –, in dem die Staatsanwaltschaft wegen einer angeblichen Beleidigung gegenüber jüdischen Mitbürgern, und zwar nach langer interner Beratung bei der Staatsanwaltschaft, 15 Monate Gefängnis beantragt hat, in öffentlicher Sitzung natürlich, obwohl das Gesetz als Höchststrafe für eine Beleidigung ein Jahr vorsieht. Der Angeklagte wurde im übrigen freigesprochen.

Da sieht man doch das Bestreben, auf keinen Fall zuwenig zu tun oder es besonders gut zu machen, obwohl man durch ein solches Verhalten das Gegenteil erreicht, man Opposition schafft, anstatt zu einem friedlichen, gleichberechtigten Zusammenleben beizutragen. Dafür gibt es bessere Maßstäbe als diejenigen, die heutzutage bisweilen angewendet werden. Ein großer deutscher Jude hat einmal geäußert: Die Gleichberechtigung ist gegeben, wenn ein Jude bei gleichen Leistungen Gleiches im Staate erreicht. Das ist ein einwandfreier Maßstab.

Hohes Gericht, warum ich das vortrage: Nach dem unübersehbaren Leid, das dem jüdischen Volk angetan worden ist, kann leicht und auch begreiflich die Gefahr entstehen, einen Beschuldigten, der diesem Verbrechen am jüdischen Volk sehr nahegestanden hat, anders als mit normalen Maßstäben zu beurteilen, ein Zeugnis eines jüdischen Zeugen trotz wiederholter Widersprüche oder nachweisbarer Irrtümer, die dem Zeugen unterlaufen sind, dem Urteil zugrunde zu legen, anstatt es zu verwerfen. Dieser Situation müssen Sie sich bewußt sein, damit Sie Fehler der angedeuteten Art vermeiden können. Es ist doch selbstverständlich, daß Sie auch einen jüdischen Zeugen als unglaubwürdig beurteilen können. Und das wird in mehr als einem Fall geschehen müssen, wie ich noch zeigen werde.

Wenn die Staatsanwaltschaft weiter die Zeugen aus Polen und der Tschechoslowakei ganz generell für glaubwürdig hält und keine Bedenken gegen sie hegt – sie hätten sich in keiner Weise gehässig gezeigt, ein genereller Deutschenhaß sei auch nicht feststellbar gewesen –, so vertrete ich demgegenüber nicht etwa die vermessene Meinung, jeder polnische oder tschechische Zeuge sei unglaubwürdig. Ich meine aber, daß jedem polnischen Zeugen gegenüber die größte Vorsicht obwalten muß, weil sie ganz – ich sage das jetzt besonders deutlich –, weil sie ganz offenbar und auch beweisbar – ja, beweisbar – einer Filtrierung durch polnische Stellen unterzogen worden sind. Darauf komme ich dann noch zurück mit großen Einzelheiten.

Zwar vertritt auch hier die – in dieser Hinsicht verwunderlicherweise sehr leichtgläubige – Staatsanwaltschaft ganz offenbar eine andere Meinung. So bedauerte Staatsanwalt Vogel in einer Debatte vor diesem Gericht, daß nicht mehr Verteidiger bei den Vernehmungen in Polen gewesen seien. Die Vernehmungen seien sehr korrekt durchgeführt worden. Das mag die Meinung der Staatsanwaltschaft sein. Jedenfalls hat mir Kollege Gerhardt mitgeteilt, daß bei einer Frage, die er gestellt hatte, sogar die Dolmetscherin aufgesprungen sei und ihn angeschrien habe.


Aber wenn man selbst die Vernehmung dann noch als korrekt oder sogar sehr korrekt bezeichnen will, so kennen wir alle nicht die unbekannt gebliebenen Manipulationen, die hinsichtlich der hier vernommenen polnischen Zeugen tatsächlich zuvor vorgenommen worden sind. Ich komme darauf noch zurück.

Wir haben es doch schließlich bei Polen, ebenso wie bei der Tschechoslowakei, mit einem Ostblockstaat zu tun, in dem rechtsstaatliche Prinzipien nicht gelten und nicht gelten können, wie wir das von der Diktatur unter Hitler leider auch noch in Erinnerung haben.

Bevor ich mich mit den Aussagen polnischer Zeugen im einzelnen beschäftige, möchte ich noch auf einen besonders wichtigen Gesichtspunkt hinweisen, der wohl für alle ausländischen Zeugen gilt. Oberstaatsanwalt Großmann hat Ihnen vorgetragen, daß von den 356 vernommenen Zeugen 188 aus 17 außerdeutschen Staaten stammen, davon mehr als ein Drittel, 68, aus Polen. Das Ausland hat also mehr als die Hälfte aller Zeugen gestellt.

Die Tätigkeit eines Zeugen besteht darin, daß er erstens vor Gericht erscheint, zweitens seine eigenen Wahrnehmungen bekundet und drittens mindestens für die subjektive Richtigkeit seiner Aussage den Behörden gegenüber einstehen muß, das heißt die Verantwortung dafür zu tragen hat.

Dieses Einstehenmüssen für die Richtigkeit der Aussage wird bei den ausländischen Zeugen praktisch gänzlich ausgeschaltet. Die Zeugen kommen, sagen aus, reisen wieder ab und können, falls sich die Unrichtigkeit ihrer Aussage herausstellen sollte, nicht belangt werden. Ja sie werden von der Staatsanwaltschaft noch nicht einmal in Anspruch genommen, selbst wenn es bei der Aussage schon feststeht oder vielleicht auch nur wahrscheinlich ist, daß sie falsche Angaben gemacht haben. Irgendeine Nachprüfung findet nicht statt, auch wenn sich, wie zum Beispiel im Falle Kral ein erheblicher Verdacht einer Falschaussage ergeben hat.

Ich hatte den Eindruck, daß sich die Zeugen dieser sicheren Position durchaus bewußt waren. Wie wäre es denn sonst denkbar, daß sie in einzelnen Fällen erkennbar unwahre Angaben machten und sich zu Bemerkungen verstiegen, die sie sich vor den Gerichten ihres eigenen Landes sicher nicht erlaubten. Ich denke zum Beispiel auch hier an die unglaublichen Äußerungen des Zeugen Bodek, auf den ich noch zu sprechen kommen werde, und an das Verhalten des Zeugen Preston dem Angeklagten Bednarek gegenüber, dem er mit in die Hüften gestemmten Armen und mit beleidigenden Ausdrücken gegenübergetreten ist. Dieser Zeuge kam aus England. Was wäre ihm dort für dieses Verhalten passiert!

Eine solche Zeugensituation muß aber das Vertrauen auf die Richtigkeit der Aussage erheblich vermindern. Denn kein einziger ausländischer Zeuge hatte im Laufe des Verfahrens wegen seiner Aussage mit Schwierigkeiten bei der Staatsanwaltschaft zu tun gehabt und brauchte damit auch nicht zu rechnen, auch wenn sich erhebliche Widersprüche in den Aussagen herausstellten, die zum Beispiel bei dem deutschen Zeugen Walter zu einer vorläufigen Festnahme geführt haben. Ich hatte manchmal den Eindruck, als ob sich die Staatsanwaltschaft und auch die Nebenkläger nicht nur in diesem Verfahren betätigen wollten, sondern auch noch außenpolitisch in den Beziehungen zu den Ostblockstaaten, obwohl man das dem dafür zuständigen Ressort des Außenministeriums überlassen sollte.

Jedenfalls mit Schwierigkeiten hatte ein ausländischer Zeuge in keinem irgendwie gearteten Falle zu rechnen. Das hängt aber auch wohl mit unserer so leidigen Eigenschaft zusammen, von der Professor Thielicke sagt, daß wir bisweilen jeden Sinn für unsere Nation verlieren. In unserem Anwaltszimmer wurde bisweilen scherzend, wenn auch mit einem Quentchen von Überzeugung geäußert, daß eher die gesamten Verteidiger hops genommen werden, bevor ein ausländischer Zeuge wegen einer offensichtlich unwahren Angabe zur Rechenschaft gezogen würde. Sie sehen, so viel oder so wenig, wie Sie wollen, halten wir von der Einstellung der Staatsanwaltschaft zu ausländischen Zeugen.

Ich darf gerade in diesem Zusammenhang an die Aussage des Zeugen Kral erinnern. Dieser Zeuge hatte ausgesagt, er habe als Oberkapo niemals einen Häftling geschlagen. Durch sechs vernommene Zeugen ist nach Meinung der Verteidigung das Gegenteil festgestellt worden. Noch heute aber stehen die Staatsanwaltschaft und auch die Nebenklage – das letztere verwundert mich besonders – auf dem Standpunkt, seine Aussage sei glaubwürdig und könne dem zu erwartenden Urteil zugrunde gelegt werden. Dabei hätte eine nur annähernd faire Würdigung des Beweisergebnisses in diesem einzelnen Punkt mindestens darin bestehen müssen, die Aussage Kral als nicht mehr dazu geeignet anzusehen, sie einem nachteiligen Urteil zugrunde zu legen, weil die Gegenbeweise zum mindesten, zum allermindesten, Zweifel an der Richtigkeit der Aussage Kral erregen mußten.

Die Staatsanwaltschaft selbst hat sich, obwohl dies ihrer Verpflichtung zur Ermittlung entsprochen hätte, um eine Aufklärung dieses Problems gar nicht mehr bemüht. Kral war und ist eben heute noch, trotz der gegenteiligen Beweise, ihr Mann. Ich frage nur: Was wäre einem deutschen Zeugen bei dieser Sachlage geschehen?

Und wie verhältnismäßig nahe liegt doch, wenn man also nach Kontrollmöglichkeiten für Zeugenaussagen sucht, die Möglichkeit für einen Nachweis, daß Kral in einem noch weiteren Punkt Ihnen die Unwahrheit gesagt hat. Kral wurde befragt: »Haben Sie mit Herrn Smolen über Ihre Aussage gesprochen?« Der Zeuge antwortete: »Ich habe niemals mit jemandem darüber gesprochen.« Auch diese Antwort des Zeugen kann nicht sti mmen, wie ich jetzt auch deswegen darlegen werde, weil diese Ausführungen für die Beurteilung aller polnischen Zeugen von grundsätzlicher Bedeutung sein werden.


Ich stelle zunächst den Eventualantrag auf die Einholung einer Auskunft des polnischen Justizministeriums – ich gebe es ja dann rein. Durch diese Auskunft wird folgende Handhabung bei der Bewilligungserteilung für die Ausreise der polnischen Zeugen unter Beweis gestellt. Erstens: Vor seiner Ausreise wurde der Zeuge jeweils mehrere Male in das Justizministerium bestellt, durchschnittlich zwei- bis dreimal, bisweilen jedoch vier-, fünf-, sechs-, siebenmal und bis elf Tage Aufenthalt in Warschau, für deren erhebliche Kosten nebst Verdienstausfall und Tage- und Übernachtungsgeldern die Gerichtskasse in Deutschland in Anspruch genommen wurde. Es wurden allein hierfür in einzelnen Fällen Beträge bis über 900 Mark in Rechnung gestellt. Zweitens: Die ausreisenden Zeugen wurden im Justizministerium vorvernommen. Drittens: Jeder polnische Zeuge mußte über Warschau ausreisen. Viertens: Vor seiner Abreise mußte der Zeuge seinen eigenen Paß im Justizministerium abgeben und erhielt dort einen Auslandspaß, einen Ausreisepaß. Fünftens: Nach Rückkunft in Polen hatte sich der Zeuge wiederum im Justizministerium in Warschau zu melden. Dort mußte er den Ausreisepaß abgeben und erhielt seinen alten Paß wieder zurück.

Sollte das Justizministerium nicht bereit sein, die beantragte Auskunft zu erteilen, so bleibt die Benennung von Zeugen vorbehalten. Selbstverständlich wird der Beweiswert der polnischen Zeugen nach wie vor und sogar in noch erhöhtem Maße in Frage gestellt.

Dazu führe ich im einzelnen folgendes aus, zunächst allgemein: Sie wissen alle genau, daß zwischen den Ostblockstaaten unter ihrem kommunistischen Einfluß und unserer Bundesrepublik eine erhebliche Kluft besteht. Ich bin nicht der Meinung, daß die Zeugen aus Polen, und das gleiche gilt auch für die aus der Tschechoslowakei und Rumänien, ihre Ausreiseerlaubnis nach Frankfurt bekommen haben, um an der Aufklärung mitzuwirken. Bei einer Einstellung, wie sie zwischen dem Westen und den Ostblockstaaten besteht – ich darf Sie daran erinnern, daß ganz kürzlich auf der Internationalen Buchmesse in Warschau die Werke aus der Bundesrepublik von der Veröffentlichung ausgeschlossen worden sind –, sinnt der Osten nur nach Möglichkeiten, dem ihm überlegenen Westen zu schaden. Und dazu dient ihm auch das Mittel, sich mit Aussagen, aber nur solchen belastender Art, an diesem Prozeß zu beteiligen.

Wenn nämlich dem Zweck der Wahrheitsfindung gedient werden sollte, dann wäre es unverständlich, daß in der Vereinbarung, die am 31.3.1965 zwischen dem Justizministerium und dem Vorsitzenden des Schwurgerichts abgeschlossen worden ist, unter Ziffer 4 die Vernehmung von zwei Zeugen durch das Justizministerium nicht genehmigt worden wäre, weil dieser Antrag als provokatorisch anzusehen sei.6 Das Schwurgericht hatte beschlossen, diese Zeugen zu vernehmen.

Abgesehen davon, daß der Begriff der sogenannten Provokation im deutschen Recht unbekannt ist, so hat der Justizminister von Polen, indem er die Durchführung dieses Rechtshilfeersuchens teilweise ablehnte, damit den Umfang der Beweisaufnahme nicht mehr dem Schwurgericht überlassen, sondern selbst bestimmt und sich infolge dieser Filtrierung der Zeugen nach dem Gesichtspunkt, ob ihm diese Vernehmung genehm ist oder nicht, zum Herrn des Verfahrens jedenfalls insoweit gemacht, als das Rechtshilfeersuchen in Polen durchgeführt werden sollte. Der polnische Justizminister hat also eine sachgemäße Aufklärung damit abgelehnt. Wenn schon der polnische Justizminister keine Bedenken gehabt hat, die Vernehmung von Entlastungszeugen mit der – jedenfalls für Rechtsstaaten – nichtssagenden oder vielmehr vielsagenden Begründung, sie sei provokatorisch, ablehnt und dies sogar offen tut, dann ist mit Sicherheit der Schluß zulässig, anzunehmen, daß in allen Fällen, in denen sich Entlastungszeugen bei ihm gemeldet haben sollten, er durch Verweigerung der Ausreiseerlaubnis eine Vernehmung verhindert haben wird.

Hohes Gericht, ich bin sogar in der Lage nachzuweisen, daß jeder Zeuge erst nach gründlicher Filtrierung seiner Aussage die Möglichkeit erhalten hat, als Zeuge nach Deutschland auszureisen. In Warschau haben nämlich jeweils Vorvernehmungen im polnischen Justizministerium stattgefunden.

Zum Beweise dieser Behauptung beantrage ich ge mäß § 249 der Strafprozeßordnung zu verlesen, erstens, die Reisekostenrechnung – auf die Höhe komme ich dann in anderem Zusammenhang zu sprechen – des Zeugen Kaminski, aus der sich ergeben wird, daß der Zeuge sich ausdrücklich für zwei Tage, jetzt führe ic h wörtlich an, »Vorvernehmung durch das polnische Justizministerium« entschädigen ließ und ferner für zwei weitere Tage zur Erledigung der Paßformalitäten. Der Zeuge machte auch für diese vier Tage in Warschau Verdienstausfall mit je 80 Mark täglich geltend und hat sie auch erhalten.

Zweitens: Ich beantrage weiter, die Reisekostenabrechnung des Zeugen Motz zu verlesen, der sogar Verdienstausfall für vier Tage für Vorvernehmungen und für drei weitere Tage zur Erledigung von Paßformalitäten beantragte und den Verdienstausfall mit täglich 59,40 DM auch für die Tage der Vorvernehmungen in Warschau gefordert und auch erhalten hat. Daß Tage- und Übernachtungsgelder außerdem jeweils gefordert und gezahlt wurden, versteht sich von selbst, wenn man diese Akten durchgesehen hat, was ich getan habe.

Drittens: Ich beantrage die Verlesung der Reisekostenrechnung für den Zeugen Bodek, der für die Paßerledigung in Warschau elf Tage benötigt haben will, mit einem Verdienstausfall von je 60 Mark pro Tag. Dieser Zeuge hat bei seiner Vernehmung hier überraschenderweise angegeben, er sei im Justizministerium in Warschau vernommen worden. Das Protokoll hierüber hat diesem Gericht nicht vorgelegen.

Diese drei Beweisanträge werden gestellt, um zu beweisen, daß tatsächlich, wie sich aus diesen Urkunden ergibt, Vorvernehmungen durch polnische Behörden, insbesondere das Justizministerium, stattgefunden haben.

Und nun komme ich wieder auf den Zeugen Kral zurück, der ja auf die Frage, ob er mit Sm olen über seine Aussagen gesprochen hat, erklärt hat: »Ich habe niemals mit jemandem über die Aussage gesprochen.« Ich beantrage, auch die Reisekostenrechnung des Zeugen Kral zu verlesen. Aus ihr wird sich ergeben, daß dieser Zeuge dreimal, wie er dem Kost enbeamten gegenüber angegeben hat, zur Paßerledigung in Warschau war, also dreimal im Justizministerium. Und dort soll er nicht vorvernommen oder mit ihm über seine Aussage gesprochen worden sein? Die Antwort also, die Kral gegeben hat, ist unwahr.

Durch die Verlesung der Reisekostenabrechnung von Kral möchte ich weiter unter Beweis stellen, daß der Zeuge Kral für sage und schreibe 14 Tage Verdienstausfall von täglich 92,80 Mark geltend gemacht und auch erhalten hat. Insgesamt bekam dieser Zeuge – außer der Fahrkarte, die ja doch ihm über das Justizministerium zugestellt worden ist – einen Betrag von 2.921,90 Mark. In diesem Betrag steckt für Paßerledigung, allein für Paßerledigung, ein Betrag von 910,20 Mark.

Ich beantrage weiter eine Auskunft des für den Zeugen Kral zuständigen Finanzamts in Polen über sein Einkommen einzuholen, aus dem sich ergeben wird, daß der Zeuge auch nicht im entferntesten ein Einkommen bezieht, das den von ihm geltend gemachten Verdienstausfall von täglich 92,80 Mark rechtfertigt. Hohes Gericht, ich werde Vergleichszahlen angeben. Ich habe die bei den entsprechenden Instituten angefordert.

Nach Vorliegen der beantragten Auskunft steht dann fest, daß der Zeuge Kral, neben den falschen Aussagen in verschiedenen anderen Punkten, auch die Staatskasse um erhebliche Beträge zu hoch in Anspruch genommen hat. Die rechtliche Qualifikation überlasse ich der Staatsanwaltschaft.

In diesem Zusammenhang stelle ich einen weiteren Eventualantrag, und zwar einen mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in Polen vertrauten, vom Gericht zu ernennenden Wirtschaftssachverständigen, den das Statistische Bundesamt in Wiesbaden benennen mag, darüber zu vernehmen, erstens: daß die von der überwiegenden Mehrzahl der polnischen Zeugen in Ansatz gebrachten Sätze für Verdienstausfall um mehr als 100 Prozent – das ist bescheiden übrigens ausgedrückt – übersetzt sind, weil Verdienste in der geltend gemachten Höhe in Polen nicht gezahlt werden, zweitens: daß der gewährte Umrechnungskurs von eins zu sechs Zloty den Zeugen weitere zusätzliche Vorteile eingebracht hat.

Um nur mal die Bedeutung dieser Tätigkeit der Zeugen der Gerichtskasse gegenüber beurteilen zu können, führe ich noch folgendes an: Der durchschnittliche Monatsverdienst in Polen beträgt circa 2.000 Zloty; das sind etwa 330 Mark. Durch eine Auskunft des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden stelle ich diese Tatsache unter Beweis.

Zweitens: Wir haben einen weiteren Anhaltspunkt für die Bewertung der gewährten Entschädigungen für Verdienstausfall. Der Zeuge Doktor Klodzinski – ich möchte aber in diesem Zusammenhang nicht ihm gegenüber behaupten, daß er vielleicht etwas Falsches angegeben hat, weil ich das nicht beurteilen kann. Aber ich füge an, daß der Zeuge Doktor Klodzinski dem Kostenbeamten gegenüber angegeben hat – nur als Anhaltspunkt, damit Sie bemessen können –, als medizinischer Universitätslehrer monatlich 5 .000 Zloty zu verdienen. Er unterhält übrigens, ich muß vollständig sein, auch noch eine ärztliche Praxis. 5.000 Zloty sind etwa 80 Mark monatlich.

Sprecher (nicht identifiziert):

800.

Verteidiger Laternser:

800 Mark monatlich, ich bitte um Entschuldigung. Ich stelle diesen 800 Mark, die er monatlich als medizinischer Universitätslehrer bekommt, nur einmal gegenüber, daß der Zeuge Szpalerski, von Beruf Schuhmacher, einen täglichen Verdienstausfall von 90 Mark und Frau Pozimska – die also angegeben hat, sie müsse als Strickerin, weil ihr Mann entlassen ist, für den Unterhalt sorgen – als Strickerin 120 Mark pro Tag Verdienstausfall geltend gemacht und auch erhalten hat. Ich beantrage die Verlesung sämtlicher Reisekostenrechnungen polnischer Zeugen, weil sich aus ihnen ergibt, erstens, daß jeder polnische Zeuge, ohne Ausnahme, mindestens zweimal in Warschau war, und zweitens, daß sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einheitlich, das heißt, wie ich behaupten muß, gesteuert, Beträge in Rechnung gestellt und auch erhalten haben, die die tatsächlichen Verdienstausfälle um ein Mehrfaches übersteigen. Ich werde bei jedem einzelnen Zeugen, der meine Angeklagten betrifft, noch nähere Angaben machen und erforderlichenfalls die Unterlagen für die Abrechnung zu verlesen beantragen.


Jedenfalls wird man den Standpunkt der Staatsanwaltschaft, mit dem sie die Bewertung der Aussagen polnischer und auch, wie ich noch zeigen werde, tschechischer Zeugen vorgenommen hat, sie seien einwandfreie Zeugen, gegen die keine Bedenken bestehen, in dieser Allgemeinheit nicht mehr hinnehmen können. Die polnischen Behörden hätten sich sehr korrekt, insbesondere bei den Vernehmungen in Polen, gezeigt – das mag dem äußeren Eindruck entsprechen, auf dessen Grundlage Staatsanwalt Vogel anscheinend allein geurteilt hat, ohne alles das in Rechnung zu stellen, was bei der Struktur und den Einwirkungen einer Diktatur auf alle Vorgänge innerhalb des Staates man vorsichtigerweise wird berücksichtigen müssen.

Aus dem Kreis der polnischen Zeugen möchte ich noch einige Kostproben herausziehen, die ja gedeckt sind durch meinen Antrag, meinen Eventualantrag. Alle Anträge sind Hilfsanträge, weil diese Kostproben für die Beurteilung – für die grundsätzliche Beurteilung, wenn ich mal diesem Prinzip folge, wie sie die Staatsanwaltschaft vorgenommen hat – von besonderer Bedeutung sind.

Ich nehme nicht an, daß Sie sich der Person nach des polnischen Zeugen Bodek erinnern. Machen Sie mal eine Probe aufs Exempel, ob Sie sich, wenn ich den Namen Bodek ausspreche, dieses Zeugen noch erinnern können. Ich glaube es nicht. Es war der Zeuge, der auf die Frage, ob er Broad kennengelernt habe, geantwortet hat, er kenne ihn seit 1943. Und dann sagte er dann, er habe einen eleganten Tod mit Handschuhen bedeutet, ohne irgendwelche Tatsachen aber dafür anführen zu können.

Ich komme auf diesen Zeugen aus zwei Gründen zurück. Der Zeuge bekundete einmal zu unserer Überraschung, er sei Ende September 1964 im Justizministerium in Polen, in Warschau, vernommen worden. Das Protokoll haben wir nicht bekommen.

Und ich hatte eben bereits beantragt, die Reisekostenabrechnung dieses Zeugen zu verlesen. Aus ihr ergibt sich nämlich folgendes: Dieser Zeuge war, wie er angab, zur Paßerledigung elf Tage in Warschau. Für diese Anwesenheit, während der er, wie er hier zugegeben hat, vernommen wurde, hat er Verdienstausfall für elf Tage mit je 60 Mark täglich und für weitere neun Tage Anwesenheit in Frankfurt je 60 Mark täglich, insgesamt also einen Verdienstausfall von 1.200 Mark, dazu natürlich Tage- und Übernachtungsgelder, in Anspruch genommen. Insgesamt bekam der Zeuge 2.128,50 [+ Mark], Fahrkarte besonders.

Das sind Beträge, wenn Sie die richtigen Verhältnisse der Valuten ausrechnen, die für Polen Vermögen darstellen, mehrmonatige Einkommen. Zur Paßerledigung, die ja im Justizministerium vorgenommen wurde, war der Zeuge also elf Tage in Warschau und wurde dort im Justizministerium vernommen. Das ist also einer der ersten bekanntgewordenen Fälle, in dem eine Vorvernehmung im polnischen Justizministerium stattgefunden hat. Und übrigens auch mit Erfolg – der Zeuge sprach ja von einem eleganten Tod mit Handschuhen.

Der Zeuge Motz, der ebenfalls am 20.11.1964 vernommen wurde, sagte aus, er habe 1942 einen Monat lang in der SS-Kantine gearbeitet und habe von der SS-Küche aus gesehen, wie der Angeklagte Dylewski einen Häftling ermordet habe. Nun, was der Zeuge gesagt hat, bestreitet Dylewski ganz entschieden.

Sie werden diesem Zeugen Motz nicht glauben können, und zwar aus folgenden Gründen. [Pause] Sie werden sich wohl jetzt nicht erinnern, oder vielleicht doch, daß dieser Zeuge auf meine Frage, wo er in dieser Sache vernommen worden sei, antwortete: »Ich wurde nicht vernommen, auch nicht im Justizministerium in Warschau.« Ich habe bereits beantragt, die Reisekostenrechnung zu verlesen. Aus ihr wird sich ergeben, daß der Zeuge für 14 Tage Verdienstausfall zu je 59,40 täglich – für 14 Tage 59,40 täglich – in Anspruch nahm und dies wie folgt begründete: »Verdienstausfall: erstens für sieben Tage Reise, zweitens für vier Tage Vorvernehmungen, drittens: für drei Tage Paßformalitäten.« Auf meine Frage hat er hier unter Eid vor Ihnen gesagt, er sei nicht vernommen worden. Was wollen Sie von einem solchen Zeugen noch halten? Er bestritt bei seiner Vernehmung vor Gericht, in Polen vernommen worden zu sein. Bei der kurz darauf anschließenden Kostenabrechnung verlangt er für vier Tage Vorvernehmungen in Warschau je Tag 59,40 – dazu natürlich die Tage- und Übernachtungsgelder.

Ich beantrage weiter, eine Auskunft von den für diese beiden Zeugen Motz und Bodek zuständigen Finanzämtern zum Beweise darüber einzuholen, welche Einnahmen sie versteuern. Es wird sich ergeben, daß sie noch nicht einmal die Hälfte des angeblich entgangenen Gewinns erzielt haben würden.

Der Zeuge Kaminski, der zusammen mit den Zeugen Bodek und Motz erschienen war, belastet ebenso wie der Zeuge Motz den Angeklagten Dylewski. Die Zeugen waren gemeinsam nach hier gereist. Ic h beantrage, die Reisekostenrechnung auch dieses Zeugen zu verlesen. Es wird sich daraus folgendes ergeben: Er hat einen Betrag von insgesamt 1.756 Mark erhalten. Einen Verdienstausfall von 80 Mark täglich hat er für folgende Zeiten in Anspruch genommen: elf Tage Reise, zwei Tage Vorvernehmung durch das polnische Justizministerium, zwei Tage Paßerledigung, Strich drunter, 1.200 Mark.

Wie sich aus den Abrechnungen der Zeugen Bodek, Motz, Kaminski also klar ergibt, haben Vorvernehmungen in Warscha u stattgefunden. Wie das im einzelnen vor sich gegangen ist, wird nicht feststellbar sein. Der Verteidigung muß es aber bei der Einstellung der Ostblockstaaten unserer Bundesrepublik gegenüber offen bleiben, die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Und auch das Schwurgericht wird den polnischen Aussagen, die, wie ich jetzt nachgewiesen habe, zuvor einer Vorvernehmung unterzogen worden sind, kein entscheidendes Gewicht mehr beimessen können.

Interessant ist es auch, wenn man sich also mit diesen Ab rechnungen befaßt: Die Beträge für Verdienstausfall werden nicht geringer, sie steigern sich vielmehr. Ich beantrage, die Reisekostenabrechnungen, zwei, des Zeugen Dowgint-Nieciunski zu verlesen, der übrigens Beamter ist. Er wurde zweimal vernommen, das er ste Mal am 29.1. und das zweite Mal am 8.3.1965, also mit einer zeitlichen Differenz von etwa fünf Wochen

Sprecher (nicht identifiziert) [unterbricht]:

[unverständlich] Bruder [unverständlich]

Verteidiger Laternser:

Sollte ich da einem Irrtum... Ja, gut. Das spielt aber bei der Fülle... Nun, ich weiß nicht, ob der Bruder... ob beide Beamte sind.7 Jedenfalls bei der ersten Abrechnung wurden 25 Mark pro Tag verlangt, bei der zweiten 50 Mark. Also war der Zwischenraum fünf Wochen, da war es dann verdoppelt.

Ich beantrage ferner, die beiden Reisekostenrechnungen für den Zeugen Smolen zu verlesen. Es wird sich dann ergeben, daß der Zeuge Smolen als Kosten bezüglich der ersten Vernehmung 2.040,80 Mark in Anspruch genommen hat, für die zweite 1.327,70. Vor der zweiten Vernehmung ist Smolen dreimal nach Warschau gefahren. Jedenfalls hat er so liquidiert und hat außerdem einen Verdienstausfall von 585 Mark in Anspruch genommen. In diesem Betrage von 585 Mark – Sie werden gleich sehen, weshalb ich das so machen muß – stecken ein Betrag von 185 D-Mark für 14 Tage Pauschalnebenverdienst als Redakteur der Auschwitz-Hefte und ein Betrag von 420 Mark für Gehaltsausfall. Also der Direktor des Auschwitz-Museums bekommt angeblich seine Gehaltsbezüge nicht gezahlt, wenn er als Zeuge im Auschwitz-Prozeß auftritt.

Ich behaupte, daß das nicht zutrifft. Und zum Nachweis dafür beantrage ich, die Reisekostenrechnung der Zeugin Czech zu verlesen. Sie wissen, diese Zeugin Czech war Kustodin oder ist Kustodin im Auschwitz-Museum. Sie hat jedenfalls keinen Verdienstausfall geltend gemacht. Sie hat also ihr Gehalt weiter bekommen. Allerdings – und da kommt wieder ein Widerspruch zwischen den beiden Abrechnungen, und zwar ein erheblicher – machte sie für ihre ausgefallene Tätigkeit als Schriftstellerin für die Auschwitz-Hefte täglich 30 Mark, mal acht Tage gleich 240, geltend, sie als Mitarbeiterin. Und der Redakteur Smolen machte für 14 Tage 165 gelten d, während die Zeugin Czech für acht Tage 240 geltend macht.

Das sind doch alles Dinge, Hohes Gericht, die bedenklich und vorsichtig stimmen müssen, wenn man sich auf Angaben polnischer Zeugen sollte verlassen können.

Und nun das Ehepaar Pozimski. Ich beantrage, deren Reisekostenrechnung zu verlesen. Der Ehemann machte 2.950,85 [+ Mark] geltend, ohne Fahrkarten, seine Frau, sie hatte es noch besser gelernt, 3.135,80. 3.135,80. Der Mann – angeblich stellungslos, er soll ja seine Memoiren schreiben – machte für zehn Tage Verdienstausfall je 80 D- Mark pro Tag geltend. Er schätzt also seine Memoiren ziemlich hoch ein. Für Paßerledigung, Hohes Gericht, für Paßerledigung behauptet er, allein 750 Mark benötigt zu haben. Und seine Ehefrau, die hier angegeben hat, sie würde wegen der Entlassung ihres Mannes als Strickerin tätig sein, machte für 14 Tage je 120 D-Mark täglich Verdienstausfall geltend und gab übrigens ferner an und hat dafür liquidiert, auch dreimal in Warschau gewesen zu sein, und hat auch hierfür ihre Kosten bekommen. Man könnte direkt für die Gastarbeiter einen Tip geben, also Stricker in Polen.

Ich hatte beantragt, die Reisekostenrechnung der sämtlichen polnischen Zeugen zu verlesen, weil sich aus ihnen noch folgendes ergeben wird. Erstens: Jeder Zeuge war mindestens zweimal in Warschau; ich gebe jetzt nur Proben. Zweitens: Der Zeuge Olszówka hat sechs Fahrten nach Warschau unternommen und hierfür allein 929 Mark in Rechnung gestellt. Der Zeuge Glowacki hat für Fahrtkosten und Aufenthalt in Warschau allein 517 Mark geltend gemacht ; Verdienstausfall – er war noch einer der ersten Zeugen – nur 50 Mark täglich, Gesamtentschädigung 2.338 Mark.

Der Zeuge Paczula hatte bei seiner e rsten Vernehmung einen Verdienstausfall von 75 Mark täglich geltend gemacht und für 23 Tage auch 1.725 Mark erhalten. Das zweite Mal verlangte und erhielt er für zehn Tage je 100 Mark, ist also teurer geworden, gleich 1.000 Verdienstausfall. Das erste Mal – er war ja zweimal hier – betrug seine Gesamtentschädigung 3.312,50 Mark, das zweite Mal 1.634 Mark.


Der Friseur Czekalski benötigte für die Paßangelegenheit 257 Mark sowie für Verdienstausfall für 16 Tage täglich 50 Mark, gleich 800 Mark. Gesamtentschädigung 1.803,60 Mark für den Friseur Czekalski.

Die Dolmetscherin Swiderska-Swiratowa hat für die Regelung ihrer Paßangelegenheit – das sind alles sehr teure Pässe – 342 D-Mark in Rechnung gestellt und für Verdienstausfall täglich 88 Mark – und zwar für volle neun Tage. Der Amtsarzt Tabeau macht für neun Tage Verdienstausfall mit je 150 D-Mark geltend.

Nun muß man aber all die Zahlen – ich werde das noch bringen – in das Verhältnis setzen, wie die Valuten miteinander stehen.

Die übrigen Zeugen machen also Verdienstausfälle ab 50 Mark nach oben [+ geltend]. Der Dentist Gönczi macht für zehn Tage je 220 D-Mark täglich Verdienstausfall geltend, sogar der Lehrer Krokowski Verdienstausfall im Betrage von 320. Der Zah narzt Mikolajski für zehn Tage 177,65 täglich – in Polen –, von denen er übrigens angeblich 107 Mark täglich als Angestellter und 70 Mark aus Privatpraxis nicht habe ziehen können. Der Zeuge Seweryn, Rekordhalter, ist eigentlich aber mehr ein Rekordversuch , weil er das nicht bekommen hat. Er hat also für 14 Tage zunächst geltend gemacht je Tag 83,33, als Verdienstausfall von 1.166,62. Er machte aber noch weitere 25.000 Zloty, gleich 4.166,66, geltend. Wegen der der Ladung zum Schwurgericht habe er die Frist zur Lieferung von zwei Spezialwalzen nicht einhalten können. Es blieb beim Versuch; seine Beschwerde ans Oberlandesgericht wurde abgewiesen. [Pause] Daß der Schuhmacher Szpalerski 90 Mark täglich Verdienstausfall geltend gemacht hat, habe ich bereits gesagt.

Nun noch ein sehr interessanter Fall: Der Beamte Mikusz, der insgesamt – ich sage immer, außer der Fahrkarte – 1.741,90 bekommen hat, erhielt für 15 Tage Verdienstausfall je 50 Mark, also 750 Mark, und noch etwas: für ausgefallenen Verdienst in [+ einer] Hühnerfarm, die er anscheinend besitzt, 150 Mark. Die Hühner haben also in seiner Abwesenheit nicht gelegt, und er hat das auch schon in Frankfurt gewußt. Auch er war dreimal in Warschau, ebenso wie der Zeuge Danel.

Hohes Gericht, und wenn Sie dagegen die Reisekostenrechnungen anderer Zeugen, zum Beispiel aus Holland oder Österreich vergleichen, so stehen diese dazu in wohltuendem Gegensatz. Ich beantrage, auch diese Reisekostenrechnungen zu verlesen. Sie werden aus der Reisekostenrechnung zum Beispiel des Majors in der niederländischen Armee, Beckman, entnehmen, der hat Verdienstausfall 26 Stunden à eine Mark gleich 26 Mark. Dann: Der Oberst van Velsen macht insgesamt, also einschließlich Fahrkarte, 157,20 Mark geltend.

Verteidiger Laternser:

den Herrn Staatsanwälten. Nun die tschechischen Zeugen. Ich trage das nicht zu meinem eigenen Vergnügen vor, sondern man muß ja danach suchen, wenn einem ausländische Zeugen, wo man keinerlei Kontrollmöglichkeiten hat... muß man versuchen, festzustellen, um welche Persönlichkeiten es sich handelt. Und wenn ein Zeuge in diesem Maße die deutsche Gerichtskasse ungerechtfertigt in Anspruch nimmt, dann ist das eine Eigenschaft, die sich auch auf die Beurteilung seiner Aussagen wird auswirken müssen. Und nun die tschechischen Zeugen. [...] Das war also die tschechische Serie: Oktober, November, die Zeugen Beranovský, Farber, Filip Müller und Fabian. Aber nur in bezug auf ihr Verhalten in Frankfurt. Ich beantrage, immer hilfsweise, deren Reisekostenrechnung zu verlesen. Und Rybka noch.

Aus ihnen wird sich folgendes ergeben: Beranovský, Elektroschweißer von Beruf, hat einen Verdienstausfall von täglich 87,93 Mark geltend gemacht – selbstverständlich dazu noch Tage- und Übernachtungsgelder, das werde ich jetzt nicht mehr dazuzusagen brauchen. Es ist völlig ausgeschlossen, daß ein Schweißer in der Tschechoslowakei – ich werde dafür Beweise antreten – soviel Kronen verdient, die umgerechnet einen Betrag von täglich 87,93 D-Mark ausmachen. Ich beantrage bezüglich dieses Zeugen auch, eine Auskunft beim Finanzamt einzuholen.

Dann der Zeuge Farber. [+ Er] hatte sich seine Zeit wie folgt eingeteilt: Am 30.9. flog er von Prag ab, 1.10. Ruhetag, 2.10. Vernehmung, 3.10. und 4.10. Samstag, Sonntag, 5.10. Vernehmung, 6.10. Ruhetag, 7.10 abends Rückflug. Der Zeuge ist Dentist von Beruf. Er machte 2.320,40 geltend. Und in diesem Betrag steckt allein für Paßerledigung ein Betrag von 400 Mark und 40 Pfennigen. Was im Ausland die Pässe so teuer sind! Er setzte dann noch für Vertreterkosten einen Betrag von 150 Mark an, außerdem für sieben Tage Verdienstausfall je Tag 140 Mark täglich. Auch in diesem Falle beantrage ich, die Auskunft des Finanzamts in Prag einzuholen über die Höhe des Einkommens dieses Zeugen. Die Auskunft wird bestätigen, daß der Zeuge einen erheblich übersetzten Verdienstausfall geltend gemacht hat.

Der Zeuge Filip Müller ist Beamter. Aus der Verlesung seiner Reisekostenrechnung wird sich ergeben, daß der Zeuge für Paßerledigung 182 Mark einsetzt, für Taxi hat er 50 Mark benötigt – die Beamten scheinen also dort sehr viel Taxi zu fahren – und für Verdienstausfall für neun Tage je Tag – als Beamter – 70 Mark. Obwohl als sicher anzunehmen ist, daß das Gehalt des Zeugen als Beamter trotz seiner Abwesenheit weiterläuft. Dieser Zeuge macht aber auch noch Vertreterkosten in Höhe von 154 neben dem Verdienstausfall geltend. Insgesamt 1.965,40. Und seine Zeiteinteilung war folgende: 2.10. Abflug, 5.10. Vernehmung, ich wiederhole: 5.10. Vernehmung, 12.10. Rückflug. Die Abrechnungen scheinen also doch lohnend gewesen zu sein.

Ich beantrage ferner, die Reisekostenrechnung des Zeugen Polednik zu verlesen, der am 13.11.64 vernommen wurde. Insgesamt hat er 1.830,50 Mark in Empfang genommen. Ich will mit dieser Verlesung der Reisekostenabrechnung außerdem noch beweisen, daß in der Abrechnung ein Betrag von 130 Mark eingesetzt worden ist für eine Vernehmung in Troppau, für die der Zeuge für zwei Tage Verdienstausfall, Fahrgeld, Übernachtungsgeld sowie Fahrtkosten in Ansatz gebracht und auch erhalten hat – also auch hier für eine Vorvernehmung. Diese Reisekostenabrechnung beweist, daß auch in der Tschechoslowakei Vorvernehmungen stattgefunden haben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß nur dieser Zeuge vorvernommen worden ist.

Nun der Zeuge Fabian, der den Angeklagten Broad so schwer zu belasten versucht hat. Auf die Würdigung der Aussage selbst gehe ich in anderem Zusammenhang ganz ausführlich ein. Jetzt führe ich nur dasjenige an, was ich mit der Verlesung der Reisekostenabrechnung beweisen will. Der Zeitplan des Zeugen war folgender: 2.11. Abflug in Prag, 3.11., 4.11. Ruhepause wegen Magen- und Darmgeschwürs, 6.11. Vernehmung, 8.30 Uhr bis 15.30 Uhr. Dann ist der Vermerk des Kostenbeamten: »Durch Vernehmung stark erschöpft, Ruhepause nötig, Abrechnung daher nicht möglich.« 7./8. Samstag, Sonntag, 9.11. Abrechnung, 10.11. ab: 13.20 Uhr. Der Zeuge ist Schlosser von Beruf. Insgesamt 1.273 Mark hat er erhalten. Er machte einen Verdienstausfall, obwohl er das so ausgedehnt hat, von täglich 60 Mark für zehneinhalb Tage geltend, insgesamt also 630 Mark.

Ich weise darauf hin, daß der Zeuge auf der einen Seite angibt, krank zu sein und also allein dafür drei Ruhetage hier bezahlt bekommen hat. Nach der Ankunft in Frankfurt also benötigte er eine Ruhepause von mehr als zwei Tagen, nach der Vernehmung ebenfalls eine Ruhepause. Und erst am 10.11. reiste er zurück. Wenn der Zeuge so krank ist – ich weiß nicht, ob es wirklich so ist –, ist es ausgeschlossen, daß er als Schlosser täglich 60 Mark verdient, die er geltend gemacht und auch erhalten hat. Aber auch wenn dieser Zeuge gesund wäre, verdient er als Schlosser nicht täglich 60 Mark, höchstens ein Drittel oder gar ein Viertel davon, in der Tschechoslowakei, wie ich nachher beweisen werde durch Auskünfte.

Den Höhepunkt bei den tschechischen Zeugen – auf den absoluten Rekord komme ich in anderem Zusammenhang zurück –, bildet die Reisekostenabrechnung des Zeugen Rybka. Ich beantrage – und jetzt wird es nach meiner Meinung sehr interessant –, auch wegen der grundsätzlichen Bedeutung in einem besonderen Punkt, den ich gleich vortragen werde, zu verlesen: die Reisekostenabrechnung und den Schriftwechsel und den Vermerk des Kostenbeamten vom 23.11.1964. Rybka verlangte 2.039,24 Mark. Er bekam allerdings weniger. Er hatte nämlich die Kosten für den Flug vorsorglich mit 532 D-Mark, also doppelt so hoch, angegeben. Sie betragen nur 266 Mark. Auf diesen Versuch ließ sich der Kostenbeamte nicht ein.

Rybka ist Rentner. Er verlangte trotzdem Verdienstausfall für zwölf Tage zu zehn Stunden je fünf Mark. In dem reichhaltigen bei Gericht entstandenen Schriftwechsel wird ausdrücklich vermerkt, daß die Tendenz des Zeugen im Betrug bestehe. Und das wird sich auch gleich ergeben. Nun erst mal den Zeitplan dieses Zeugen – bei den Zeitplänen der tschechischen Zeugen zeigt sich zweifellos die Tendenz, möglichst lange in Frankfurt zu bleiben. Also nun der Zeitplan des Zeugen Rybka. 15.10. ab: Kyjovice, 16.10. ab: Prag, 14.30 an: Frankfurt, 17.10. Samstag, 18.10. Sonntag, 19.10. Vernehmung, 20.10., 21.10. keine Sitzung, 22.10. weitere Vernehmung vorgesehen, die aber nicht stattgefunden hat. Dann: 23./24./25.10. Ruhetag wegen Herzkrankheit, auch angeblich keine Flugmöglichkeit – also entweder das eine oder das andere. 26.10. ab: Frankfurt, 27.10. ab: Prag, nach Hause.

Nun der Vermerk des Kostenbeamten. Am 19.10. war Rybka erschienen und hat folgendes erklärt. Erstens: Die gezahlten Tage- und Übernachtungsgelder reichen nicht aus. Er wurde aufgefordert – das ist vom Kostenbeamten aus geschrieben –, Quittungen vorzulegen. Dies lehnte er ab.

Zweitens: Während seiner vorübergehenden Abwesenheit von der Tschechoslowakei würde seine Rente von monatlich, jetzt hören Sie mal, 1.205 Kronen und sein Kindergeld von monatlich 900 Kronen für drei Kinder vom Staat nicht weitergezahlt. Dies wurde angezweifelt – das ist also alles Text des Kostenbeamten –, er wurde aufgefordert, eine amtliche Bescheinigung darüber beizubringen. Und jetzt kommt etwas ganz besonders Wichtiges: Er behauptete, die VVN in Frankfurt könne das bestätigen. Es wurde ihm erklärt, daß das nicht genüge. Bis heute hat er eine entsprechende Bescheinigung nicht beigebracht.


Drittens: Er habe am 26.2.1964, das ist also neun Monate zuvor, anläßlich seiner ersten Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft pro Tag 50 D-Mark Verdienstausfall bekommen. »Ich solle«, also der Kostenbeamte, »seine Aufstellung, wonach er täglich 85 Kronen verdiene«, also das ist wesentlich weniger, »fortwerfen und ihm 50 Mark täglich Verdienstausfall zahlen. Das wurde abgelehnt. Von einer zusätzlichen Prämie, die er neuerdings verlangt, hat er am 26.10. überhaupt nichts erwähnt. Frankfurt am Main, 23.11.64.« Gezeichnet, Unterschrift.

Es scheint von ganz besonderer Bedeutung zu sein, daß sich dieser Zeuge auf die VVN in Frankfurt berufen hat. Sie also könne bestätigen, daß er wegen seiner vorübergehenden Abwesenheit in der Tschechoslowakei seine Rente von 1.205 Kronen und sein Kindergeld von 900 Kronen nicht erhalte. Wenn der Zeuge wußte, daß die VVN bereit war, eine solche, wie ich behaupte, falsche Bescheinigung auszustellen, dann hatte er – und ich behaupte, mindestens auch die anderen Zeugen aus der Tschechoslowakei – mit dieser kommunistischen Vereinigung Verbindung während seines Frankfurter Aufenthalts und erhielt von dort auch die Information für die bevorstehenden Vernehmungen. Das behaupte ich. Worin sollte denn sonst der Grund bestehen für eine Verbindungsaufnahme mit dieser Stelle?

Ich halte es im übrigen für sehr bedenklich, Hohes Gericht, wenn die Staatsanwaltschaft beziehungsweise die für die Zahlung zuständige Stelle bei der vorbereiteten Vernehmung im Februar 1964 diesem Zeugen einen so hohen Verdienstausfall erstattet hat, obwohl er auf diese Höhe gar keinen Anspruch hatte. Hohes Gericht, das spornt an und spricht sich herum. Verdanken wir diesem Umstand vielleicht die Serie der tschechischen Zeugen im Oktober/November 1964, die einmal besonders hohe Verdienstausfälle geltend machten, andererseits aber auch handfeste Aussagen lieferten? Ich habe die Verpflichtung, als Verteidiger darauf mit ganz besonderem Nachdruck aufmerksam zu machen. Wie soll man hinter all diese hintergründigen Dinge kommen. [Pause]

Und wie man sich doch in dem Fall wie Rybka irren kann. Der Kostenbeamte meinte, er habe einen Zeugen vor sich, der sich ungerechtfertigte Vorteile erschleichen will und hat dafür auch handfeste Gründe. Die Staatsanwaltschaft meinte bei der Beurteilung des Rybka in ihrem Plädoyer, er habe nicht einen ungünstigen persönlichen Eindruck gemacht, man habe den Versuch verspürt, bei der Sache zu bleiben. Den Eindruck hatte der Kostenbeamte übrigens auch. Rybka wollte bei der Hauptsache bleiben und möglichst viel Geld ungerechtfertigt herausholen.

Ich beantrage, bezüglich der Zeugen Beranovský, Farber, Filip Müller, Fabian eine Auskunft bei den für diese Zeugen zuständigen Finanzämtern über das von ihnen bezogene Einkommen einzuholen. Diese Auskünfte werden ergeben, daß die Zeugen ihren Verdienstausfall mindestens zwei- bis dreimal so hoch angegeben haben, als er ihnen überhaupt entstanden ist. Zweitens, einen mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in der Tschechoslowakei vertrauten, vom Gericht zu ernennenden Wirtschaftssachverständigen, den das Statistische Bundesamt benennen mag, darüber zu vernehmen, daß die von den vorgenannten Zeugen in Ansatz gebrachten Sätze für Verdienstausfall mit mehr als 200 Prozent übersetzt sind, weil Verdienste in der geltend gemachten Höhe in der Tschechoslowakei nicht gezahlt werden. Wenn das Gericht nicht schon jetzt der Überzeugung ist, daß sich eine Anzahl der polnischen und der tschechischen Zeugen ungerechtfertigt hohe Vorteile verschafft haben, auf die sie rechtlich keinen Anspruch haben, so wird das nach Erhebung der nur eventuell beantragten Beweise zur Sicherheit des Gerichts feststehen.

Hohes Gericht, ich bin mit der Behandlung der Zeugen bald am Ende, und ich bitte Sie, mich das noch vor Tisch zu Ende machen zu lassen.

Vorsitzender Richter:

Wie lang wird es ungefähr noch [+ dauern]?

Verteidiger Laternser:

Zehn Minuten höchstens.

Vorsitzender Richter:

Ja.

Verteidiger Laternser:

Nun die Zeugen aus der Sowjetzone. Der dritte Nebenklägervertreter hat unter anderem ausgeführt, aus aller Welt seien Zeugen nach Frankfurt am Main gekommen, um der Wahrheitsfindung zu dienen.

Es ist richtig, daß aus aller Welt Zeugen erschienen sind. Nur eines ist klargeworden: Aus der sowjetbesetzten Zone Deutschlands sind lediglich drei Zeugen, und die zur Belastung, gekommen. Während die Eheleute Rump, die für den Angeklagten Capesius zur Entlastung hätten dienen sollen, vorsorglich keine Ausreisegenehmigung erhielten, vielmehr einem Ermittlungsverfahren wegen Begünstigung ausgesetzt worden sind, wie der ostzonale Generalstaatsanwalt Streit dem Schwurgericht sogar mitgeteilt hat. Bis zum Abschluß dieses Verfahrens stünden sie nicht zur Verfügung. Man hat also dadurch Gelegenheit, zu sehen, und zwar an diesem Beispiel mit besonderer Eindringlichkeit, daß die sowjetzonalen Stellen an der Wahrheitsfindung selbst einfach nicht interessiert sein können.

Und nun zu den drei Belastungszeugen aus der Sowjetzone. Ich weiß zwar nicht mehr, wie sie ausgesehen haben. Ich kann mich aber noch an den einmaligen Redefluß der Zeugin Rosenberg erinnern, deren Aussage, wie auch der Herr Vorsitzende vorgehalten hat, ganz offensichtlich zumindest auswendig gelernt geklungen hat. Der Kollege Eggert meinte dazu, nach meiner Meinung sehr treffend, sie habe ihre Aussage in »Parteichinesisch« heruntergeleiert. Die Ausdrücke wie »Freunde der Sowjetunion« und so weiter klangen so, wie wenn man zufällig einen der sowjetzonalen Sender in den Radioapparat bekommt.

Die Zeugin sagte aus, ein SS-Führer habe sie von der Seite ihrer Mutter gerissen und mit Fäusten geschlagen. Im Lager habe sie gefragt, wer das gewesen sei. Dort sei ihr erklärt worden, das sei Doktor Capesius gewesen. Auf die Frage des Landgerichtsdirektors Perseke, was denn Doktor Capesius gemacht habe, antwortete die Zeugin, er habe ausgesucht, wer ins Lager komme und wer ins Gas gehen solle. Auf die weitere Frage, wer ihr denn gesagt habe, daß es Doktor Capesius gewesen sei, bekundete sie, eine Frau, die schon längere Zeit im Lager gewesen sei, habe ihr das in der Baracke später gesagt. Der Name der Frau sei ihr aber unbekannt.

Wir hatten also hier eine offensichtlich geschulte Zeugin vor uns, die im übrigen reines Hörensagen bekundet, das Sie bekanntlich ja nicht verwerten können. Aber noch etwas: Es bleibt das Geheimnis dieser Zeugin, wie sie in der Baracke der ihr unbekannten Frau den SS-Führer so trefflich beschrieben hat, daß diese Frau aus dieser Beschreibung eindeutig entnehmen konnte, es sei nur Doktor Capesius gewesen. Die Zeugin scheint also ein Hennecke für Beschreibungen zu sein. Nun, solche Beweismittel scheiden schon wegen ihrer Schulung ohne weiteres aus.

Dann kam der Zeuge Eisenhändler, von Beruf Metallarbeiter, wie er sagte, und jetzt Major der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik. Auch das klang wie am Schnürchen. In seiner eidesstattlichen Erklärung vom Dezember 63 hatte der Zeuge übrigens keine Berufsbezeichnung angegeben. Nun, dieser Herr Major blieb zwar nicht maßvoll, als er befragt wurde, sondern wurde besonders aggressiv – wenn ich mir da zum Vergleich einen richtigen Major vorstelle. Zuvor hatte der Zeuge schon seine Voreingenommenheit dadurch dokumentiert, daß er auf die Frage, ob er mit den Angeklagten verwandt oder verschwägert sei, die Antwort gab: »Gott sei Dank nicht!« Als dieser Zeuge dann weiter befragt wurde, welcher Waffengattung er angehöre und ob er vielleicht an der Mauer eingesetzt sei, verweigerte er jede weitere Aussage. Er habe keine Aussagegenehmigung. Und das, was er bis dahin gesagt hatte, war ohnehin keine Reise nach Frankfurt wert.

Und dann kam schließlich noch der Zeuge Markowitsch, der recht betont als Beruf zunächst Hafenarbeiter und dann Minister für Industrie angab. Wir sollten eben daran schon sehen und lernen, daß es nur in der Sowjetzone Aufstiegsmöglichkeiten gebe. Seine Aussage bestand eigentlich nur darin, daß er zwar in Auschwitz gewesen sei, jedoch über die einzelnen Angeklagten nichts zu bekunden wisse. Alles, was dann noch geschehen ist bei dieser Vernehmung, wissen Sie ja wohl noch.

Weshalb diese drei Zeugen aus der Sowjetzone erschienen sind, ist mir bis heute noch unerfindlich. Also sicher nur aus propagandistischen Gründen. Was sollte sonst das Erscheinen eines Ministers hier.

Nun möchte ich mich auch noch kurz mit den rumänischen Zeugen beschäftigen. Das werde ich in allen Einzelheiten bei der Behandlung des Falles Capesius am 21.6.1965 machen. Aber nur vorweg folgendes: Zunächst beantrage ich die Vernehmung des Ingenieurs Paskewitz als Zeugen. Adresse werde ich in dem schriftlichen Antrag angeben. Der Zeuge ist erst kürzlich aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Er wird bekunden, daß sämtliche rumänische Zeugen, die vor dem Schwurgericht in Frankfurt erschienen sind, zuvor durch den rumänischen Sicherheitsdienst vernommen worden sind.

Ich beantrage ferner bezüglich der rumänischen Zeugen, die Reisekostenrechnung der nachstehenden Zeugen Böhm, Salomon, von Sebestyén und Glück zu [verlesen], aus denen sich folgendes ergeben wird. Erstens: Doktor Gisela Böhm, die mit 3.235 Mark plus Flugkarte entschädigt wurde, ist angestellte Ärztin. Sie hat unter anderem einen Verdienstausfall für 33 Tage mit je 46 Mark gleich 1.518 Mark erhalten. Dieser Verdienstausfall ist, wie ich zeigen werde, bei weitem übersetzt. Zweitens: Ella Salomon, die mit 3.122,80 entschädigt wurde, ist Lehrerin – oder Professorin, wie sie sagte – an einer höheren Schule. Sie ist Sprachlehrerin. Sie erhielt als Verdienstausfall für 33 Tage je 42,60 Mark, insgesamt 1.405 Mark. Dieser Verdienstausfall ist der Zeit und auch der Höhe nach übersetzt. Die Zeugin hat ihr monatliches Einkommen dem Kostenbeamten gegenüber mit 1.600 Lei angegeben. Umgerechnet sind das – aber gut umgerechnet – etwa 400 Mark. Die Zeugin hat aber täglich 42,60 und damit für 33 Tage – sie war einen Tag vor Gericht – sage und schreibe 1.405 Mark Verdienstausfall gefordert und erhalten, also für etwa ein Vierteljahr Gehalt.


Was wollen Sie von solchen Zeugen halten?

Der Zeuge von Sebestyén hat 3.000 Mark Entschädigung erhalten und noch weitere 3.626,91 verlangt. Er war nämlich 34 Tage unterwegs und verlangte für diesen Zeitraum die Zeugenentschädigung. Für 20 Tage wurde sie bewilligt. Die weitergehende Forderung hat das Schwurgericht abgelehnt. Den Beschluß hierüber vom 2.9.64 beantra 3.235 Mark plus Flugkarte entschädigt wurde, ist angestellte Ärztin. Sie hat unter anderem einen Verdienstausfall für 33 Tage mit je 46 Mark gleich 1.518 Mark erhalten. Dieser Verdienstausfall ist, wie ich zeigen werde, bei weitem übersetzt. Zweitens: Ella Salomon, die mit 3.122,80 entschädigt wurde, ist Lehrerin – oder Professorin, wie sie sagte – an einer höheren Schule. Sie ist Sprachlehrerin. Sie erhielt als Verdienstausfall für 33 Tage je 42,60 Mark, insgesamt 1.405 Mark. Dieser Verdienstausfall ist der Zeit und auch der Höhe nach übersetzt. Die Zeugin hat ihr monatliches Einkommen dem Kostenbeamten gegenüber mit 1.600 Lei angegeben. Umgerechnet sind das – aber gut umgerechnet – etwa 400 Mark. Die Zeugin hat aber täglich 42,60 und damit für 33 Tage – sie war einen Tag vor Gericht – sage und schreibe 1.405 Mark Verdienstausfall gefordert und erhalten, also für etwa ein Vierteljahr Gehalt.

Was wollen Sie von solchen Zeugen halten?

Der Zeuge von Sebestyén hat 3.000 Mark Entschädigung erhalten und noch weitere 3.626,91 verlangt. Er war nämlich 34 Tage unterwegs und verlangte für diesen Zeitraum die Zeugenentschädigung. Für 20 Tage wurde sie bewilligt. Die weitergehende Forderung hat das Schwurgericht abgelehnt. Den Beschluß hierüber vom 2.9.64 beantrage ich zu verlesen.

Viertens: Den Rekord in der Forderung stellte der Zeuge Glück auf, der neben einer gewährten Entschädigung von 2.374,40 Mark noch einen 14tägigen Erholungsurlaub für sich und seine Ehefrau beantragt hat, der ihm aber nicht bewilligt werden konnte.

Ich beantrage ferner, eine Auskunft bei den für die Zeugen Böhm und Salomon zuständigen Finanzämtern über deren Einkommen einzuholen. Die Auskünfte werden ergeben, daß die geltend gemachten Beträge für Verdienstausfall bei weitem übersetzt sind. Ich beantrage weiter, einen mit den Verhältnissen in Rumänien beauftragten wirtschaftlichen Sachverständigen, den das Statistische Bundesamt ernennen mag, darüber zu hören, daß die Einkommen in Rumänien weit unter denjenigen liegen, die die Zeugen Böhm und Salomon als Verdienstausfall geltend gemacht haben.

Es ließe sich hinsichtlich der einzelnen Zeugenabrechnung noch vieles anfügen. Zum Abschluß dieses Kapitels noch folgendes. In welchem Ausmaß eine Übervorteilung der deutschen Gerichtskasse stattgefunden hat, möchte ich noch durch einen eindeutigen vergleichenden Beweis vor Augen führen.

Erstens: Das durchschnittliche Monatseinkommen des männlichen Arbeiters im deutschen Baugewerbe beträgt 841 D-Mark monatlich, wie ich durch eine Auskunft des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung unter Beweis stelle. Zweitens: Die monatlichen Bruttolöhne in der kollektivierten Bauwirtschaft in Polen betragen umgerechnet 355 Mark, also weniger als die Hälfte, die gleichen Löhne in der Tschechoslowakei etwa 375 D-Mark und der Monatslohn aller Industriearbeiter und Angestellten in Rumänien monatlich zwischen – das ist das niedrigste Niveau – 178 und 378 D-Mark. Diese Zahlen stelle ich durch eine Auskunft der Bundesstelle für Außenhandelsinformationen in Köln unter Beweis.

Dieser Beweis besagt wohl das, was ich in diesem Zusammenhang behaupte: daß nämlich die Zeugen aus Polen, der Tschechoslowakei und auch Rumänien ihren Verdienstausfall mindestens zweimal, wahrscheinlich jedoch drei- bis viermal so hoch angegeben haben, als sie ihn in Wirklichkeit hatten. Ich glaube, daß ich damit nun das Kapitel abschließen kann. Es ist nach meiner Meinung wirklich vielsagend.

Verteidiger Laternser:

Hohes Gericht, die Frage der Identifizierung und ihrer Schwierigkeiten und Gefahren behandle ich am Beispiel des Zeugen Fabian im Falle Broad. Dieser Zeuge Fabian erhebt gegen den Angeklagten Broad den Vorwurf der angeblichen Teilnahme an der Erschießung von Frauen. Broad selbst bestreitet das auf das entschiedenste. Die einzige Aussage, die ihn in dieser Beziehung belastet, ist die des Zeugen Fabian.

Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer von diesem Angeklagten Broad ein Bild gezeichnet, das zweifellos nicht zutreffend ist. Ich bin zunächst sicher, daß das Schwurgericht von einer anderen als der von der Staatsanwaltschaft geschilderten Persönlichkeit ausgehen wird. Aber hierzu wird Kollege Steinacker morgen Stellung nehmen.

Was nun die Aussage Fabian mit der scheinbar so schweren Belastung anlangt, so führte Staatsanwalt Vogel aus, der Zeuge habe bei der Gegenüberstellung in einem dramatischen Wiedererkennen erklärt, er, Broad, ging auf Block 11 und habe dort geschossen. Staatsanwalt Vogel führte dann weiter aus, er werde den entsetzten Gesichtsausdruck nie vergessen können.

Nun, das weiß Staatsanwalt Vogel zunächst einmal nicht, ob er das nicht doch vergessen wird. Aber die Frage, ob er den Gesichtsausdruck nie vergessen wird, hat doch nichts, aber auch gar nichts, mit einer Würdigung der Zeugenaussage zu tun.

Er fügte dann an, daß auch das Schwurgericht sich dem Eindruck des Zeugen Fabian nicht habe entziehen können. Die Aussage sei so eindrucksvoll und überzeugend gewesen, daß das Gericht den Angeklagten in Haft genommen habe. Auch das ist keine Würdigung der Aussage Fabian durch die Staatsanwaltschaft.


Dann weiter: Mit dieser Aussage sei die Einlassung des Angeklagten Broad wie ein Spinnengewebe hinweggefegt worden. Auch damit hat Staatsanwalt Vogel noch nicht gewürdigt oder gar geprüft.

Richtig ist zwar, daß das Schwurgericht den Angeklagten Broad aufgrund dieser Aussage verhaftet hat. Ob aber die Aussage Fabian einer kritischen Überprüfung so standhalten kann, daß sie einem Urteil, und zwar einem schwerwiegenden Urteil, zugrunde gelegt werden kann, ist eine sehr schwierige Frage. Auf alle Fälle aber läßt sich diese Frage nicht lösen, wie es die Staatsanwaltschaft versucht beziehungsweise nicht versucht hat. Denn sie hat eine ernsthafte Prüfung und Würdigung dieser Aussage und des angeblichen Wiedererkennens nicht vorgenommen.

Alles, was Staatsanwalt Vogel vorgetragen hat, sind rein äußere Eindrücke. Und wenn er sie Ihnen schilderte, war das alles andere als eine Würdigung dieser Aussage, bei der doch der Versuch gemacht werden muß, sie zu prüfen und auch zu überprüfen. Eine solch eingehende Würdigung ist in Anbetracht der Beschuldigung, die ja einzeln geblieben ist und in das Bild des Angeklagten Broad so gar nicht paßt, ihm also absolut wesensfremd ist, unbedingt erforderlich und muß mit besonderer Sorgfalt und unter Heranziehung aller kriminalistischen Erfahrungen vorgenommen werden.

Wenn zum Beispiel der äußere Eindruck zu einer Würdigung von Zeugenaussagen oder eines behaupteten Wiedererkennens genügte, den Staatsanwalt Vogel in diesem Fall in Wirklichkeit meint, dann würde es das Problem der Würdigung von Zeugenaussagen gar nicht mehr geben können: Man muß nur gut hinsehen, der äußere Eindruck entscheidet.

Der äußere Eindruck kann aber falsch, er kann gespielt sein, er kann also täuschen. Zeugen, die zum Beispiel die Wahrheit sagen, können einen unsicheren oder schüchternen oder zögernden und damit negativen Eindruck machen. Während der raffinierte Lügner bisweilen, je nach seinem Geschick, einen zunächst sicheren und auch glaubhaften Eindruck machen kann. Das alles, also der rein äußere Eindruck, auf den es die Staatsanwaltschaft in diesem Fall allein abgestellt hat, kann nicht darüber entscheiden, ob man eine Aussage einem Urteil zugrunde legen kann oder nicht.

Ein jeder von uns kennt aus dem täglichen Leben – und die Berufsrichter aus der forensischen Erfahrung – eine Fülle von Irrtümern gutgläubiger Zeugen, die oft mit der größten Bestimmtheit irgend etwas bekunden, das sich nachträglich, oft auch nur durch Zufall, als unrichtig herausstellt. Ganz besonders lehrreich ist es aber, wenn man derartige Irrtümer bei sich selbst beobachtet und sich diese Vorkommnisse auch merkt. Denn nichts schützt mehr vor einer Überschätzung der Aussage, als wenn man sich selbst bei den größten Irrtümern schon einmal ertappt hat. Die Aussage eines Menschen über ein Erlebnis ist davon abhängig, ob er das Erlebnis richtig wahrgenommen hat, ob das Erlebnis richtig in seiner Erinnerung geblieben ist, und ob er imstande und auch willens ist, seine Erinnerung richtig wiederzugeben.

Zu diesen möglichen Fehlerquellen tritt dann im Falle Fabian noch das Problem des Wiedererkennens nach über 20 Jahren. Allein schon erkennen, von welchen Faktoren die Richtigkeit einer solchen Beschuldigung wie die des Zeugen Fabian, der den Angeklagten Broad dem Namen nach überhaupt nicht kennt, abhängig ist, führt dazu, daß man auf keinen Fall das Risiko eingehen kann, sie einem Urteil zugrunde zu legen, wenn eine solche Aussage nach 20 Jahren allein und einzeln geblieben ist.

Sehen Sie, diese großen Schwierigkeiten hat die Staatsanwaltschaft nicht erwähnt, sie wohl auch nicht gesehen. Sie meint, es sei dramatisch gewesen, und sie wird das nicht vergessen.

Ich werde auf die einzelnen Probleme gleich zurückkommen. Vorher möchte ich aber, so gut es mir möglich ist, dasjenige anführen, was der Zeuge bezüglich des Schützen, in dem er Broad wiedererkannt haben will, ausgesagt hat.

Bei der Identifizierung der Angeklagten – oder bei dem, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, was wir hier so genannt haben – deutete der Zeuge auf Broad und sagte: »Auch er ging zum Block 11. Er schoß, wenn Frauen zu erschießen waren, und sagte: ›Laß mir die, die ist jung.‹ « Darauf der Herr Vorsitzende: »Sie haben auf den Angeklagten Broad gedeutet und haben gesagt, er sei dabeigewesen, als Frauen erschossen worden seien.« Der Zeuge antwortet dann: »Ja, er stand«, also Broad stand, »am linken Flügel der angetretenen Formation und hat sehr häufig geschossen. Einmal wurden Frauen erschossen. Einer von den SS-Leuten wollte die Frauen erschießen. Daraufhin hat Broad gesagt: ›Warte einmal, das ist eine ganz junge‹ und hat dann einige erschossen.« Das sei bei der großen Hinrichtung gewesen, die im Sommer 1944 stattgefunden habe. Der Zeuge fügte hinzu: »Das weiß ich zu 100 Prozent.« Hohes Gericht, wenn ein Zeuge schon einen solchen Zusatz macht!


Der Zeuge Dowgint-Nieciuns ki hat zum Beispiel am 29.1.1965 ausgesagt, daß sich Broad sehr verändert habe.

Nun, zunächst mal einige Bemerkungen zur Aussage des Zeugen Fabian. Der Zeuge sagte in tschechoslowakischer Sprache aus. Der Umfang seiner deutschen Kenntnisse ist unbekannt geblieben. Für die angebliche Äußerung des späteren Schützen gibt der Zeuge zwei Versionen an. Und zwar, die erste: »Laß mir die, die ist jung.« Und dann die zweite: »Warte einmal, das ist eine ganz junge.«

Welche dieser beiden Versionen ist nun richtig? Hat der Zeuge überhaupt richtig verstanden? Wenn der Zeuge zwei Versionen anführt, dann bedeutet das doch, daß er nicht sicher ist, was der spätere Schütze in einer dem Zeugen möglicherweise nicht hinreichend bekannten Sprache überhaupt gesagt hat.

Es ist ferner nicht festgestellt worden, wo der Zeuge stand, als die angeblich gesprochenen Worte fielen, und wie groß die Entfernung zu dem Platz war, an dem der spätere Schütze gestanden haben soll, als er diese Bemerkung machte. Das ist doch alles sehr schnell gegangen.

Es ist ferner nicht festgestellt worden, wie oft der Zeuge etwa den späteren Schützen gesehen hat und bei welchen Anlässen und wann er ihn das erste Mal gesehen hat. Der Zeuge sagt dann aus, der spätere Schütze habe am linken Flügel gestanden. Broad war Rottenführer – der niedrigste Dienstgrad, den wir hier in diesem Verfahren kennengelernt haben. Welcher Flügel ist nun der linke und welcher der rechte? Das heißt, von wem aus gesehen soll das beurteilt werden? Wenn man bei einer angetretenen Formation vom linken Flügel spricht, wie Fabian, dann versteht man damit den Flügel, an dem die angetretene Formation beginnt. Wenn dort auf dem Platz eine Formation angetreten war, wie der Zeuge ja gesagt hat, dann standen am linken Flügel die Dienstgrade, sicher aber nicht Broad als Rottenführer.

Dann ein weiterer Punkt. An welchen Merkmalen glaubt der Zeuge, den Angeklagten Broad erkannt zu haben? Etwa nur an der Brille? Darüber hat er uns nichts gesagt. Solche Feststellungen hätten aber getroffen werden müssen.

Nun zur Auswertung der Aussage. Der Zeuge sagte am Anfang seiner Vernehmung, daß ein gewisser Jakob, Trainer von Schmeling, jeweils mit zwei zu Erschießenden aus dem Waschraum gekommen sei. Alles sei im Laufschritt geschehen. Wenn Broad, wie der Zeuge aussagt, am linken Flügel gestanden haben sollte, so mußte er bei der Eile des Vorgangs zunächst erkennen, daß eine junge Frau erschossen werden soll, dann zu den für die Exekution vorgesehenen Schützen laufen und – da der Zeuge diese Bemerkung gehört haben will – diese so laut aussprechen, daß eben auch der Zeuge Fabian sie gehört haben konnte. Steht dem nicht entgegen, daß dann auch das Opfer diese Bemerkung gehört haben müßte? Je nach der Entfernung des Fabian, aus der er die Bemerkung gehört haben will, hat er sie mehr oder weniger undeutlich in einer ihm nicht völlig geläufigen Sprache gehört.

Bei diesem Ereignis waren, wie der Zeuge später sagte, mehrere SS-Leute anwesend. Er nannte sogar mit Namen Aumeier, Grabner, Palitzsch, Stiwitz, Boger und Lachmann. Nun die Frage: Hat die Bemerkung nicht etwa ein anderer gemacht, falls sie gefallen sein sollte? Ausgerechnet jemand soll sie gemacht haben, den der Zeuge dem Namen nach nicht kennt.

Jedenfalls ist Tatsache, daß der Zeuge nach 20 Jahren die Bemerkung des späteren Schützen in zweifacher Version wiedergegeben hat. Die Bemerkung hat er also, wenn er schon zwei Versionen angibt, nicht sicher im Gedächtnis. Hätte er sie nämlich sicher im Gedächtnis, dann hätte er nur die eine ihm erinnerliche Version wiedergegeben. Das Gedächtnis und die Erinnerung des Zeugen scheinen also nicht sicher zu sein.

Und das ist beweisbar anhand der eigenen Aussage dieses Zeugen. Der Vorfall soll sich im Sommer 44 ereignet haben, und zwar in Anwesenheit von Aumeier, Grabner, Palitzsch, Stiwitz, Boger und Lachmann. Sicher aber ist, daß Aumeier, Grabner und Palitzsch im Sommer 1944 nicht mehr in Auschwitz waren, vielleicht auch nicht Palitzsch. Der Zeuge hat sich hier also ganz gewaltig geirrt. Und dieser Irrtum macht weitere Irrtümer wahrscheinlich.

Das Hauptproblem dieses Falles Fabian scheint aber in der Frage des Wiedererkennens nach 20 Jahren zu liegen. Die Fälle eines irrtümlichen Wiedererkennens sind deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie, wenn der Irrtum nicht erkannt wird, zu der Verurteilung eines Unschuldigen führen können. Ich möchte hier einen ganz bezeichnenden Fall aus der gerichtlichen Praxis vortragen, der, besser als theoretische Erörterung es vermag, in drastischer Weise vorführt, wie gefährlich das angebliche Wiedererkennen, auch durch eine Reihe durchaus glaubwürdiger Zeugen, sein kann.

Ich entnehme diesen Fall dem ausgezeichneten Werk des früheren Berliner Landgerichtsdirektors Hellwig, das nach meiner Meinung von außergewöhnlichem Wert ist. Jeder Referendar müßte dieses Werk unter Aufsicht lesen, damit man sicher ist, daß er es auch gelesen hat. Auf Seite 1539 führt eben Hellwig für die Fraglichkeit des Wiedererkennens folgendes Beispiel an. Hohes Gericht, es wird nicht zu lange dauern, aber ich glaube verpflichtet zu sein, Ihnen das kurz vorzutragen.

Ich zitiere jetzt, lasse aber überflüssige Worte aus, damit das Zitat kürzer wird: In einem bayrischen Marktflecken wurden am 6. Oktober 1891 der Bäckermeister B. und seine erwachsene Tochter während des Schlafs im Bett durch Beilhiebe getötet. Der Verdacht fiel sofort auf den Bäckerburschen Georg W., der seit dem 23. August 91 bei B., also bei dem Bäcker, beschäftigt gewesen war und am Tage des Mordes morgens um neun Uhr ohne Grund die Arbeit aufgegeben hatte. Und es kann auch nicht zweifelhaft sein, daß er tatsächlich der Täter gewesen ist.

Wenige Tage nach der Ermordung schoß sich in Bremen ein 19jähriger Bursche in selbstmörderischer Absicht drei Kugeln in die linke Seite der Brust. Notdürftig wiederhergestellt wurde er in ein im Rheinland gelegenes Genesungsheim geschafft. Er gab an, Georg Kotter zu heißen. Er wollte aus Frankfurt am Main gekommen sein, um von Bremen aus auszuwandern. Da seine Angaben verdächtig erschienen, wurde er auf Veranlassung der Polizeibehörde fotografiert. Am nächsten Tage entfernte er sich heimlich. Es stellte sich bei den Nachforschungen heraus, daß dieser Georg Kotter mit dem Bäckerburschen identisch war.

Im Jahre 1892 und 93 wurde W., das ist dieser Bäckerbursche, von einem früheren Kameraden zweimal im südlichen Bayern unter falschem Namen herumstromernd angetroffen. Gegen Ende 1900 wurde die Staatsanwaltschaft in Augsburg davon benachrichtigt, daß in Bozen ein etwa 26 Jahre alter Bursche festgenommen sei, der sich Szegt nenne. Es tauchte die Vermutung auf, daß dieser angebliche Szegt mit W., also dem Bäckerburschen, möglicherweise identisch sei.

Szegt wurde ausgeliefert und in Augsburg zahlreichen Personen gegenübergestellt, die ihn mit größter Bestimmtheit als den Bäckerburschen wiedererkannten. Das Hauptverfahren vor dem Schwurgericht in Augsburg wurde eröffnet. Selbst die in der Voruntersuchung dem Szegt gegenübergestellten leiblichen Eltern und Geschwister des W., also des Bäckerburschen, bestritten nicht etwa seine Identität, sondern verweigerten, bis auf einen, ihr Zeugnis. Und dieser eine, ein älterer Bruder des Bäckerburschen, bezeichnete die Möglichkeit einer Identität des Szegt mit seinem Bruder als nicht ausgeschlossen. Das war neun Jahre her seit der Tat.

Nun weiter: Eine andere Gruppe von Zeugen, nämlich sieben Personen, kannten den W., also den Bäckerburschen, weil er entweder bei ihnen in Arbeit gewesen war oder aber mit ihnen zusammen bei demselben Meister gedient hatte. Von diesen Zeugen behaupteten drei mit voller Bestimmtheit und vier mit großer Wahrscheinlichkeit die Identität mit W.


Nicht weniger als 20 Zeugen wurden ferner vorgeführt, welche den W., also den Bäckerburschen, aus seiner letzten Arbeitsstelle am Tatort kannten und welche während der sechs Wochen, während derer er bei dem ermordeten Bäckermeister in Stellung gewesen war, mehr oder weniger persönlich mit ihm verkehrt hatten. Von ihnen, also von diesen 20 Zeugen, erkannten 14 den Angeklagten mit voller Bestimmtheit als den Bäckerburschen wieder, vier fanden große Ähnlichkeit zwischen den beiden.

Endlich wurden noch sechs Zeugen vernommen, welche ihn entweder in Bremen oder während seines mehrmonatigen Aufenthalts im Genesungsheim kennengelernt hatten. Auch sie glaubten, die Identität oder mindestens doch eine auffallende Ähnlichkeit des Szegt feststellen zu können.

Wir haben also jetzt 23 Zeugen, die ihn mit Bestimmtheit – ich habe die anderen ausgeschieden – als den Bäckerburschen wiedererkannten, nach neun Jahren. 23 Zeugen, uninteressierte Zeugen.

Nun geht es weiter in diesem Fall: Die Angaben der Zeugen gewannen dadurch noch ganz besonderen Wert, daß die Zeugen fast durchweg auf Besonderheiten in der äußeren Erscheinung des Angeklagten ihr Urteil zu stützen vermochten. Nach ihren Angaben hatte der Bäckerbursche einen wiegenden Gang, vorgeschobene und beim Gang schaukelnde Schultern, einen schief geschnittenen Mund, das linke Auge mehr zugekniffen als das rechte, ein fahle Gesichtsfarbe, wulstige Augendeckel und einen stechenden Blick. Ganz dieselben Merkmale konnte man aber auch bei Szegt feststellen.

Wesentlich unterstützt wurden die Aussagen dieser Identitätszeugen noch dadurch, daß auch bei den verschiedenen körperlichen Erkennungszeichen in ganz auffallender Weise eine Übereinstimmung zwischen dem Bäckerburschen und Szegt festgestellt werden konnte. Bei Szegt hatte man am rechten Ellbogen eine anscheinend von einer Brandwunde stammende harte Narbe gefunden. Als den Zeugen dies mitgeteilt wurde, bestätigten drei voneinander völlig unabhängige, an verschiedenen Orten lebende Zeugen, die den Bäckerburschen auch zu verschiedenen Zeiten kennengelernt hatten, daß sie eine vollkommen gleiche Narbe seinerzeit auch bei dem Bäckerburschen wahrgenommen hatten. Der angebliche Szegt selbst wollte über die Herkunft dieser Narbe nichts angeben können.


Nun kommt noch etwas ganz Erstaunliches: Bei seiner Vernehmung gab ein Friseur, welcher kurz vor dem Morde dem Bäckerburschen die Haare geschnitten hatte, an, der angebliche Szegt, den man also als den Bäckerburschen zu haben glaubte, müsse, falls er wirklich mit dem Bäckerburschen identisch sei, auf dem Kopf unter dem Haar eine Anzahl länglicher Schnittnarben haben. Als man Szegt fragte, ob er auf dem Kopfe Narben habe, stellte er dies in Abrede. Nachdem man ihm aber die Haare abgeschoren hatte, fanden sich tatsächlich solche Narben, von deren Herkunft Szegt angeblich wieder nichts wissen wollte.

Wir haben also 23 Zeugen, die ihn nach neun Jahren mit völliger Bestimmtheit wiedererkannt haben wollten. Die Aussagen waren unterstützt durch körperliche Kennzeichen, durch Narben am Arm und auf dem Kopf. Wenn nun dieser Szegt, den man da hatte vor Gericht, vor dem Schwurgericht in Augsburg, tatsächlich unschuldig war, dann konnte ihm ja wohl nichts mehr helfen.

Zur allgemeinen Überraschung gab der Verteidiger Szegts die Erklärung ab, der Angeklagte heiße in Wirklichkeit Anton K., er habe seinen richtigen Namen bisher verschwiegen, weil er in Österreich Diebstähle begangen habe und seine angesehene Familie habe schonen wollen. Er habe um die fragliche Zeit ständig in einer Wiener Brauerei in Arbeit gestanden. Die angestellten Ermittlungen ergaben einwandfrei, daß der Angeklagte die Wahrheit gesagt hatte. Das Schwurgericht sprach ihn daher frei.

Die Erfahrungen, Hohes Gericht, die man aus diesem Fall, den ich zitiert habe, ziehen muß, sind sicher sehr ernster Natur. Jedoch können die Erfahrungen nicht etwa zu dem Ergebnis führen, daß man nun grundsätzlich auf das Wiedererkennen durch Zeugen überhaupt nichts mehr gibt. Das kann nicht das Ergebnis sein. Aber diese Erfahrungen mahnen uns, einem Wiedererkennen, zum Beispiel nach so langer Zeit von 20 Jahren, nicht von vornherein zu trauen, wie es die Staatsanwaltschaft und, nehmen Sie es mir bitte nicht übel, leider auch das Schwurgericht bei der Verhaftung des Angeklagten Broad getan haben, sondern einem solchen angeblichen Wiedererkennen zunächst mit dem größten Mißtrauen entgegenzutreten und allen Zweifeln nachzugehen, die aufgetaucht sind und die auftauchen können, und das insbesondere nach 20 Jahren.

Sie wissen noch, daß die Verteidigung der ersten Art und Weise der jeweiligen Identifizierung der Angeklagten entgegengetreten ist, als die Angeklagten auch hier noch im Gallus-Haus aufstehen mußten, die Zeugen durch die Reihen gingen und dabei auch Gelegenheit hatten, von den Nummern, die vor den Angeklagten standen, Kenntnis zu nehmen. Sicher konnten sie sich, wenn sie das wollten, vorher über die Sitzordnung orientieren. Die dann später folgende Art der Identifizierung geschah dadurch, daß die Angeklagten ihren Platz verließen und im Mittelraum des Saales Aufstellung nahmen. Dies erfolgte am Schluß der jeweiligen Vernehmung des Zeugen.

Man hätte zum Beispiel auch daran denken können, die Identifizierung jeweils zu Beginn der Vernehmung durchzuführen, bevor der Zeuge während der Vernehmung und in den Pausen Gelegenheit hatte, sich umzusehen und in Verbindung mit Bildern, die er in der Presse gesehen hatte, Kombinationen anzustellen. Es gibt Meinungen, daß man bei solchen Gegenüberstellungen Wahlgegenüberstellungen vornehmen müßte, wie das schon in der italienischen Strafprozeßordnung bindend vorgeschrieben ist. Nun, das ist alles vorüber.

Nach dieser Abschweifung bitte ich Sie, einmal zu versuchen, sich in die Lage des Zeugen Fabian zu versetzen. Er hat, wie er es sagt, den Angeklagten, dessen Namen er ja nicht kennt, einige Male gesehen, und zwar bei Erschießungen. Das ist mehr als 20 Jahre her. Es ist nach meiner Meinung eine absolute Unmöglichkeit, nach 20 Jahren jemanden mit, wie der Zeuge sagt, hundertprozentiger Gewißheit wiederzuerkennen, den man nur wenige Male und dann zeitlich nur kurz gesehen hat und von dem der Zeuge Dowgint-Nieciunski gesagt hat, er habe sich sehr verändert.

Wir haben hier Zeugen zum Teil ein bis zwei Tage lang vernommen. Ich bin sicher, daß sie die meisten von ihnen nicht mehr wiedererkennen würden, jedenfalls nicht mit dieser Sicherheit, wie es der Zeuge Fabian zu können vorgegeben hat. Und Sie aber haben die Zeugen erst vor kurzem gesehen, während der Zeitraum, nach dessen Ablauf der Zeuge Fabian den Angeklagten Broad wiedererkannt haben will, über 20 Jahre zurückliegt, also etwa zwanzig- bis dreißigmal so lang ist wie der Zeitraum, der Ihnen selbst zum Vergleich zur Verfügung steht.

Es ist eine nahezu absolute Unmöglichkeit. Und ich bitte Sie, bei der Frage, ob ein angeblich dramatisches Wiedererkennen, an das Staatsanwalt Vogel glaubt, möglich ist, ihre eigenen Fähigkeiten für ein Wiedererkennen der hier vernommenen Zeugen in Vergleich zu setzen. Das mindeste, was sich bei einem solchen Vergleich für den Angeklagten Broad ergeben müßte, ist ein Zweifel daran, ob ein solches Erkennen nach 20 Jahren diesem Zeugen überhaupt noch möglich gewesen ist. Und das Ergebnis von solchen Zweifeln muß darin bestehen, daß sie von der Behauptung des Zeugen, er habe Broad bei diesem besonderen Anlaß gesehen, nicht voll überzeugt sein können und dürfen, zumindest in Anwendung des Rechtssatzes »Im Zweifel für den Angeklagten«. Auf eine einzeln gebliebene Aussage von solcher Tragweite können Sie ein Urteil mit ruhigem Gewissen nach 20 Jahren nicht bauen.

Eigentlich müßte das alles zu dieser Frage schon genügen. Aber auch ich muß besonders vorsichtig sein. Ich frage daher: Wissen Sie, woran der Zeuge den Angeklagten Broad wiedererkannt hat? Sie wissen es nicht. Das hätte der Zeuge aber dem Gericht sagen müssen, damit es eine Kontrollmöglichkeit für dieses angebliche Wiedererkennen zur Verfügung hat. Vielleicht waren alle Prozeßbeteiligten im Augenblick der Aussage so entsetzt, daß die ruhige Überlegung, wie man eine solch schwerwiegende Aussage überprüfen könnte, nicht angestellt worden ist. Diese Frage, woran der Zeuge Broad wiedererkennen will, hätte aber auf alle Fälle gestellt werden müssen.

Wie wäre es zum Beispiel, wenn man jetzt den Zeugen Fabian, und zwar in Abwesenheit des Angeklagten Broad, den Angeklagten Broad beschreiben ließe? Aber auch das wäre unzuverlässig. Der Zeuge könnte sich mit Leichtigkeit ein Bild des Angeklagten Broad beschaffen, was er möglicherweise auch schon vor seiner Vernehmung bei Gericht getan hatte. Man wird als vorsichtiger Richter und bei der Publizität dieses Verfahrens mit dieser Möglichkeit rechnen müssen, so daß diese Frage also niemals zuverlässig wird geklärt werden können.

Dann die nächste Frage, die nicht geklärt worden ist: Trug der Schütze eine Brille? Welche Uniform trug er, welche Kopfbedeckung, welchen Dienstgrad hatte der Täter? Auch darüber hat der Zeuge nichts gesagt.

Und noch etwas zum Wiedererkennen: Der Zeuge Fabian war zusammen mit dem gleichfalls aus der Tschechei kommenden Zeugen Weis an Gerichtsstelle. Beide waren am 6.11.1964 erschienen. Ich weiß nicht, ob die beiden Zeugen gemeinsam gereist sind. Das ist aber wohl anzunehmen. Ich halte es für absolut sicher, daß sich diese beiden Landsmänner über ihre Aussage spätestens in Frankfurt am Main unterhalten haben. Das ist ja ganz natürlich.

Der Zeuge Weis war sich aber nicht im klaren, wen er kenne, ob er Broad oder Dylewski kenne. Zunächst bezeichnete der Zeuge Weis Dylewski als denjenigen, den er vom Block 11 her kenne. Später rückte er davon ab und bezeichnete nunmehr Broad. Quasi als Entschuldigung für dieses Verwechseln bemerkte er dann, ich zitiere wörtlich: »Die Angeklagten sehen sich sehr ähnlich«, er habe den einen für den anderen gehalten.

Ob das eine dem Gericht einleuchtende Erklärung für den Irrtum dieses Zeugen sein wird, kann ich dem Gericht mit Ruhe überlassen. Man sieht daran, was man von diesem angeblichen Wiedererkennen zu halten hat. Jedenfalls ist die Bemerkung des Zeugen Weis eine bloße Ausrede, weil keinerlei Ähnlichkeiten zwischen beiden, also Broad und Dylewski, vorhanden sind. Eines ist wichtig: Beide Angeklagten, also Broad und Dylewski, tragen Brillen. Danach hat sich der Zeuge Weis wahrscheinlich orientiert und ist dabei mit seinen Aussagen durcheinander gekommen.

Hohes Gericht, nehmen Sie einmal folgenden an sich sehr naheliegenden Fall an: Weil der Zeuge Fabian sich mit dem Zeugen Weis anhand von Bildern unterhalten hatte, hat auch er sich beim angeblichen Wiedererkennen lediglich über die Brille orientiert. Das ist doch durchaus möglich. Was will er denn nach 20 Jahren noch wissen?

Ein weiteres Indiz dafür, daß sich Fabian und Weis eingehend über ihre Aussagen unterhalten haben, und gleichzeitig ein weiterer außergewöhnlicher Widerspruch: Der Zeuge Weis wird von Staatsanwalt Vogel bezüglich Broad befragt, zunächst, ob er ihn wiederholt gesehen habe. Er bejahte das. Die nächste Frage – übrigens eine klare Suggestivfrage – lautete, ob er Broad bei Erschießungen von Frauen gesehen habe. Die Antwort lautete: ein glattes Ja. Aber auf die spätere Frage des Vorsitzenden antwortete der Zeuge Weis, er kenne den Namen von Broad nicht. Und auf die weitere Frage des Herrn Vorsitzenden, ob dieser Mann, also Broad, auf Frauen geschossen habe, antwortet dieser Zeuge im Gegensatz zu der Antwort auf die Frage des Staatsanwalts Vogel: »Das weiß ich nicht.«

Eine solche Differenz in einem so wichtigen Punkt der Aussage ist letzten Endes einfach unerklärlich. Es bleiben doch nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Zeugen haben sich über Frauenerschießungen unterhalten, und Weis ist mit dem, was er sagen wollte, wirklich durcheinander gekommen. Das ist das Wahrscheinliche. Oder seine Antwort zeigt die Auswirkungen suggestiver Fragen. Ich meine damit die Frage des Staatsanwalts Vogel. Ein solcher Widerspruch in einer Zeugenaussage muß aber dazu führen, daß man ein solches Zeugnis einem Urteil niemals zugrunde legen kann.

Was nun die Glaubwürdigkeit des Zeugen Fabian anbelangt, so hatte ich auch beantragt in meinen früheren Ausführungen, die Reisekostenrechnungen durchzusehen, die ich im einzelnen bereits erörtert habe. Ich beantrage weiter bezüglich Fabian, die Auskunft des für diesen Zeugen zuständigen Finanzamts einzuholen, und zwar über die Höhe seiner Bezüge. Es wird behauptet, daß der Zeuge mindestens dreimal soviel Verdienstausfall geltend gemacht hat, als ihm in Wirklichkeit entstanden sein kann. Ich beantrage weiter, einen mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in der Tschechoslowakei vertrauten Sachverständigen zu vernehmen, daß ein Schlosser einen Tagesverdienst von 60 Mark umgerechnet in tschechische Kronen in der Tschechoslowakei auf keinen Fall erreichen kann.


Und ich beantrage ferner, durch Vernehmung eines medizinischen Sachverständigen, den die medizinische Fakultät der Universität Frankfurt am Main benennen mag, ein Gutachten darüber einzuholen, daß das ohne die Anführung etwaiger Gründe behauptete Wiedererkennen des Angeklagten Broad durch den Zeugen Fabian nach dem Ablauf von 20 Jahren so viele Fehlerquellen in sich birgt, daß nach den hierfür geltenden Forschungsergebnissen einem solchen vermeintlichen Wiedererkennen keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden kann, insbesondere, nachdem es außerdem feststeht, daß der Zeuge irrtümlich drei Personen als bei diesem Ereignis anwesend bezeichnet hat, die im Sommer 1944 nicht mehr in Auschwitz waren, nämlich Aumeier, Grabner, Palitzsch, vielleicht auch Stiwitz. Es ist außerdem bezeichnend und sicher in diesem Zusammenhang von Bedeutung, daß auch die Auschwitz-Hefte, deren Verlesung ich für den Sommer 1944 beantrage, diese von dem Zeugen erwähnte angebliche Erschießung der Frauen in ihrem »Kalendarium« nicht anführen.

Nach alledem können Sie dem Zeugen Fabian nicht glauben. [Pause]

Nun zu den Selektionen und ihrer Würdigung. Die Staatsanwaltschaft vertritt die Meinung, daß ein Angeklagter, der an einer Selektion an der Rampe teilgenommen habe, der Beteiligung am Mord schuldig sei. Die Frage, ob darin Beihilfe oder Mittäterschaft gesehen werden kann, spielt in diesem Zusammenhang jetzt keine Rolle. Darauf komme ich später zurück.

Es hat sich zunächst in diesem Verfahren nicht mit endgültiger Klarheit feststellen lassen, ob der Begriff der Selektion schon damals in Auschwitz als Wortbegriff bekannt und gebräuchlich war und was der einzelne Zeuge heute jeweils unter der Tätigkeit des Selektierens verstanden wissen will. Diese letztere Frage ist zum Beispiel von Bedeutung, wenn ein Zeuge behauptet, ein Angeklagter habe selektiert, jedoch im einzelnen nicht angegeben hat oder angeben konnte, was im einzelnen er unter diesem Selektieren versteht und was er in dem jeweiligen Falle als Tätigkeit damit wirklich meint. Jetzt, nachdem der Prozeß seit über einem Jahr andauert und die gesamte Presse des In- und Auslandes den Begriff Selektion verbreitet hat, ist wohl kein Zeuge mehr ohne das Wissen, was in diesem Strafverfahren unter Selektion verstanden werden soll: nämlich bei den auf der Rampe in Birkenau ankommenden Transporten jüdischer Menschen zu bestimmen, wer Aufnahme im Lager finden und wer den schweren Gang in die Gaskammern zur Vergasung antreten sollte.

Hohes Gericht, es ist eine historische Tatsache, daß die von Hitler geplante und auch zum überwiegenden Teil durchgeführte sogenannte Endlösung der Judenfrage die physische Vernichtung aller im deutschen Machtbereich befindlichen Juden bedeutete beziehungsweise bedeuten sollte. Diesen Standpunkt hat auch Oberstaatsanwalt Großmann in seinem Plädoyer eingenommen. Und er kann auch nach den verschiedenen Bestätigungen, insbesondere der Posener Rede Himmlers an die Gauleiter im Jahre 1944, einfach nicht mehr zweifelhaft sein. Diese Endlösung bedeutete also die Ermordung aller jüdischen Menschen innerhalb des deutschen Machtbereichs. Und diese traurigen Taten wurden in erheblichem Ausmaße in den Gaskammern von Auschwitz durchgeführt.

Die Sachlage bestand also in folgendem: Da der Befehl Hitlers dahin lautete, es sollten sämtliche Juden innerhalb des deutschen Machtbereichs ermordet werden, so stand es beim Einlaufen eines Transportes in Birkenau fest, daß sämtliche Juden dieses Transports in den jederzeit aufnahmebereiten und als Bäder getarnten Gaskammern vernichtet werden sollten. Wir haben auch von Zeugen gehört, daß manche Transporte zur Gänze in die Gaskammern geführt wurden. Auch die Tatsache, daß die Transporte, soweit sie nicht ins Lager kamen, nicht registriert wurden, zeigt die geschichtlich feststehende Absicht des nationalsozialistischen Regimes, alle Juden zu töten. Im Ergebnis sollte jedenfalls kein Jude, vielleicht von wenigen einzelnen, zufälligen Ausnahmen abgesehen, in Europa den Krieg lebend überstehen.

Hätte also auf der Rampe in Birkenau eine Selektion, das heißt das Aussuchen einer vorher durch Befehl bestimmten Anzahl von Arbeitsfähigen nicht stattgefunden, so wäre jeweils der gesamte Transport der Vernichtung anheimgefallen. Ohne die Selektion Arbeitsfähiger zu einem jeweils wohl bestimmten Zweck wären also mehr jüdische Menschen ermordet worden als dann tatsächlich zu Tode kamen. Die Selektion auf der Rampe in Birkenau führte also in Wahrheit zu einer Verminderung der an sich geplanten und befohlenen vollständigen Vernichtung. Das Auswählen von Personen, die ins Lager kommen sollten, war demnach eine Handlung, die dem Plan, sämtliche Juden in Europa zu vernichten, jedenfalls die ausgewählten Personen entzogen hat. Die Selektion auf der Rampe bedeutete also, einen Entzug dieser ausgewählten Personen von der Ermordung gleich nach ihrer Ankunft. Insoweit wurde also der Mordplan nicht durchgeführt.

Das Auswählen von Personen, die ins Lager kommen sollten, konnte also eine Beteiligung am Mord nicht sein, weder Beihilfe noch Mittäterschaft. Denn die ausgewählten Personen wurden nicht ermordet. Wenn sie später auf andere Weise zu Tode gekommen sein sollten, dann war derjenige, der sie auf der Rampe in Birkenau für die Aufnahme ins Lager auswählte, für deren Tod nur dann verantwortlich, wenn er für diesen etwaig späteren Tod eine zusätzliche wirksame Bedingung gesetzt hätte.

Man könnte diesem Standpunkt entgegenhalten, der auf der Rampe Tätige habe dadurch, daß er nicht mehr oder gar alle Angehörigen des Transports für das Lager auswählte, den Tod der nicht für die Aufnahme ins Lager ausgewählten Personen verursacht. Ein solcher Standpunkt könnte aber nicht zutreffend sein. Der Befehl Hitlers lautete auf Vernichtung sämtlicher festgenommener Juden. Wenn also eine Selektion nicht stattgefunden hätte, würden sämtliche Angehörige der Transporte ermordet worden sein. Einer Entscheidung oder Bestimmung, wer ins Gas geschickt wird, bedurfte es gar nicht mehr, weil diese Entscheidung durch den Befehl Hitlers endgültig getroffen worden war. Aus diesem Grund konnte die Selektion auch nur den Zweck haben, einen gewissen, durch Befehl vorher bestimmten Personenkreis von der Vernichtung auszunehmen, da die Vernichtung selbst bereits vor der Selektion angeordnet worden war, und es für die Vernichtung selbst keinerlei Handlungen des Selektierenden mehr bedurfte.

Dieses nach meiner Meinung nur mögliche Wesen der Selektion an der Rampe in Birkenau ist bisher nur gestreift worden. Die bisher von der Staatsanwaltschaft und Nebenklage vertretene Meinung verkennt die Situation auf der Rampe nach meiner Meinung völlig. Sicher kann nicht geleugnet werden, daß die für die Selektion eingeteilten Personen dem Massenmord gewissermaßen begegneten, seinen Ablauf in der Phase auf der Rampe mit ihren eigenen Augen sahen, also sich in größter Nähe eines Verbrechens befanden.

Aber alle Angehörigen eines Transports waren doch deswegen so bedauernswert, weil sie ihrem sicheren Tod entgegenfuhren, ohne es selbst zu wissen. Die Gaskammern in Auschwitz standen bereit, um sie aufzunehmen und zu töten. Das wurde doch nicht auf der Rampe entschieden, sondern einzig und allein durch Hitler selbst, der über das Schicksal solcher Transporte bereits zuvor entschieden hatte und die nötigen Vorbereitungsmaßnahmen durch Schaffung der Gaskammern und Krematorien hatte bauen lassen. Wer anders als Hitler hätte in jenem Regime einen Befehl von so weittragender Bedeutung überhaupt geben können? Alles in diesem Zusammenhang war und konnte auch nur der Befehl Hitlers sein.

Infolgedessen kann die Situation auf der Rampe in Auschwitz der wahren Sachlage nach einfach nicht so gewesen sein, was die Selektion anlangt, daß erst dort, also auf der Rampe, über Leben und Tod entschieden wurde. Über Tod war schon entschieden, darüber entschied doch nicht der Selekteur. Durch die Selektion wurden dann einige vor dem sicheren Tod bewahrt. Der Selekteur hat also nicht entschieden, ob nach rechts oder links zu gehen sei und daß das eine den Tod und das andere das Leben bedeutete. Nein, der Selekteur hat aus zum Tode geweihten Personen einige wenige ausgenommen, die nach rechts oder links gewiesen wurden, je nachdem, wie der Transport angekommen war, während die anderen den schon im Transportzug begangenen Weg in die Gaskammern fortsetzten, ohne daß eine Bestimmung des Selekteurs dazu noch etwa erforderlich gewesen wäre.

Hohes Gericht, daraus ergibt sich, daß Sie diejenigen, die zum Selektieren eingeteilt waren, nicht etwa so beurteilen können, als ob sie alle diejenigen, die sie nicht ausgewählt haben, in den Tod geschickt haben. Das können Sie ihm einfach nicht anrechnen, weil dieser Weg in den Tod bereits beschritten war und der Selekteur ihn nur in einer vorher bestimmten Anzahl oder zu einem vorher bestimmten Prozentsatz ändern konnte. Man wird doch nicht etwa behaupten wollen, daß der Selekteur das von Hitler befohlene Verbrechen, die Juden von Europa zu vernichten, auf der Rampe angesichts der aufnahmebereiten Gaskammern noch hätte verhindern können. Das wäre doch eine völlige Verkennung der Situation auf der Rampe in Birkenau. Dort wurde nicht über Tod entschieden.

So, wie diese Situation bisher beurteilt wurde, scheint mir eine völlig ungerechte Verteilung der Gewichte vorzuliegen, die einer gerechten Beurteilung hindernd im Wege steht. Sehen Sie, man kann sogar die Meinung vertreten, daß der Selekteur dann dem einen oder dem anderen sogar ein Lebensretter war, wenn er ihn über das ihm für die bevorstehende Selektion befohlene Maß hinaus von der Gaskammer ausgenommen haben sollte, insoweit also die Durchführung des Befehls von Hitler verhindert hat.

Weshalb erörtere ich das? Doch nur, um Ihnen so klar und deutlich wie nur denkbar die Situation aufzuzeigen, in die Sie versuchen müssen, sich hineinzuversetzen, wenn Sie über den einen oder anderen Angeklagten, der angeblich selektiert haben soll, ihr Urteil sprechen. Ein so Beschuldigter ging auf Befehl zur Rampe in Birkenau. Er beteiligte sich dadurch, daß er Arbeitsfähige der Zahl nach aussuchte, nicht an einem im Gang befindlichen Verbrechen, sondern er verkleinerte es um die als arbeitsfähig Ausgewählten.


Indem sich ein so Beschuldigter zur Rampe begab, kam er, wie bereits vorgetragen, mit dem Ablauf dieses Verbrechens in die Nähe, sogar in die nächste Nähe, jedoch noch nicht in juristischem Sinne in eine solche Berührung, die man als Teilnahme werten könnte. Nur diese nächste Nähe ist überhaupt die erkennbare Ursache dafür, in dem Aussuchen von Arbeitsfähigen gleichzeitig ein Bestimmen der Nichtausgesuchten zum Tode zu sehen, obwohl eine solche Annahme nach den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt sein kann.

Ich bin aus diesen Gründen auch der Meinung, daß die Angeklagten, soweit sie sich gegen die Anordnung, an Selektionen teilzunehmen, zu wehren versuchten, dies nicht etwa taten, weil sie an einem Verbrechen nicht teilnehmen wollten und sich dagegen sträubten. Mit diesem Sträuben wollten sie sich der ungeheuerlichen Situation an der Rampe entziehen, diese armen Menschen zu sehen, die zum größten Teil nichtsahnend ihrem nahen Tod entgegengingen, die noch ihre Verwandten suchten, mit ihrer Familie zusammenbleiben wollten und über ihr künftiges Schicksal rätselten, dem sie ganz nahe gegenüberstanden. Das ist doch die beste und die natürliche Erklärung für das Sträuben, an den Selektionen teilzunehmen.

Ich bin also der Meinung, daß die Angeklagten, soweit sie befohlen waren, an einer Selektion teilzunehmen, gar nicht auf den Gedanken kommen konnten, einen verbrecherischen Befehl durchzuführen. Ganz im Gegenteil. Wer die gesamte Situation damals richtig durchschaute, mußte der Überzeugung sein, er werde aus dem Kreis endgültig zum Tode Geweihter einige heraussuchen können. Dieses Ergebnis ist, wenn man das wahre Wesen der Selektionstätigkeit zu klären versucht, sicherlich etwas verblüffend, berücksichtigt man die Tatsache, daß einige der Angeklagten im wesentlichen nur wegen ihrer Tätigkeit auf der Rampe angeklagt worden sind.

Bei dieser meiner Beurteilung, Hohes Gericht, bestehen auch rechtlich keine Bedenken. Eine Mittäterschaft, wie sie die Staatsanwaltschaft – noch dazu mit völlig neuer Begründung, auf die ich noch eingehen werde – festgestellt wissen will, scheidet ohne weiteres aus. Die auf Befehl der höchsten Stelle des nationalsozialistischen Regimes nach Auschwitz verbrachten Juden sollten nach dem Befehl Hitlers im ganzen vernichtet werden. Diesem Vernichtungsbefehl mit seiner in allen Einzelheiten vorbereiteten Durchführung konnte keiner der Angeklagten irgend etwas mit Erfolg entgegenstellen. Sollte nun einer der Angeklagten, was sie zudem bestreiten, auf der Rampe in Birkenau zum Zwecke der Selektion eingesetzt worden sein, um dort befehlsgemäß einen ungefähren Prozentsatz oder eine ungefähre Zahl von Arbeitsfähigen auszuwählen, so kann darin keine Mittäterschaft bei der Ermordung gesehen werden, weil, ganz im Gegenteil, mit dieser Selektion die Morde der Zahl nach verringert wurden. Von Mittäterschaft kann sonach überhaupt keine Rede sein.

Das gleiche gilt auch für die Frage, ob in der Selektion eine Beihilfe zum Mord gesehen werden kann. Die objektive Seite der Beihilfe verlangt es, daß der Gehilfe die Tat durch ein bestimmtes Verhalten tatsächlich gefördert haben muß, Rat oder Tat. Einen Rat, also intellektuelle Beihilfe, hatte Hitler leider nicht in Anspruch genommen. Eine Tat, nämlich das Bestimmen eines Angehörigen des Transports für den Gastod ist nicht erfolgt und konnte auch nicht mehr erfolgen, weil Hitler den Befehl für die Ermordung aller Juden in Europa bereits erteilt hatte und eine Verringerung der Zahl durch Auswählen für das Lager den Mord nicht gefördert, sondern ganz im Gegenteil die Zahl der Opfer verringert hat.


Die rechtliche Beurteilung der Selektion durch die Staatsanwaltschaft mit der Änderung, daß das bloße Dortsein auf der Rampe, ohne etwas dort zu tun, schon eine Beteiligung in Form der Mittäterschaft sei, läßt sich, wie ich darlegen werde, auf keinen Fall auch nur annähernd halten.10

Ich habe mich gewundert und einige der anderen Prozeßbeteiligten wohl auch, daß die Staatsanwaltschaft in der Frage der Tätigkeit auf der Rampe kürzlich diesen Stellungswechsel vorgenommen hat. Bis zum Tage des ersten Plädoyers von Staatsanwalt Kügler meinte die Staatsanwaltschaft immer – so hat sie auch die Anklage erhoben –, der Vorwurf bezüglich Rampe müsse darin gesehen werden, daß der betreffende Angeklagte nach der Ankunft jüdischer Häftlingstransporte an der Rampe in Birkenau Aussonderungen durchgeführt habe. Seit dem Plädoyer des Staatsanwalts Kügler hat sich dieser Standpunkt geändert. Es habe sich bei dem Lager Auschwitz um ein Vernichtungslager und eine Vernichtungsanstalt gehandelt; das wird niemand bestreiten können. Allein die stummen Zeugen würden die Angeklagten überführen; das müssen wir Verteidiger ganz energisch bestreiten. Die Staatsanwaltschaft wird damit auch bei Gericht kein Gehör finden. Ich weiß im übrigen nicht, was sie unter diesen stummen Zeugen versteht.

Auch wenn die Angeklagten bestreiten, an Selektionen beteiligt gewesen zu sein, so würde das bloße Herumstehen an der Rampe, ohne etwas zu tun, die Mittäterschaft am Mord ergeben – das ist doch wohl die neue Theorie. Staatsanwalt Kügler wiederholte dann, dadurch, daß die Angeklagten ein Glied in der [Maschinerie] waren, ein Rad an entscheidender Stelle, das sich mitdrehte, seien sie schuldig der Teilnahme [am] Mord. Aber die Staatsanwaltschaft vergaß dabei anzuführen, was das Rädchen tun sollte und ob es sich dann tatsächlich auch gedreht hat. Diesem Beweis müßten wir noch entgegensehen.

Angeklagt sind die Angeklagten wegen einer Handlung, die in der Aussonderung an der Rampe bestehen sollte. Sie hätten dadurch Beihilfe begangen. Während die Staatsanwaltschaft jetzt der Meinung ist, es genügte für eine Bestrafung – nunmehr aber wegen Täterschaft –, wenn die Angeklagten lediglich auf der Rampe anwesend gewesen seien.

Den Rahmen des Verfahrens bestimmt der Eröffnungsbeschluß, jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht. Der Vorwurf bezüglich einer Tätigkeit an der Rampe besteht nach wie vor darin, selektiert zu haben. Das ist die Handlung, die den Angeklagten angelastet wird. Wenn nunmehr als angeschuldigte Handlung auch das bloße Dortsein auf der Rampe angesehen werden sollte, dann wäre zunächst zu prüfen, ob auch dieser Sachverhalt, falls er überhaupt einer ist, von dem Eröffnungsbeschluß erfaßt wird.

Aber auch das kann dahingestellt bleiben. Das bloße Dortsein ohne irgendeine Tätigkeit kann rein begrifflich keine Teilnahme an einer strafbaren Handlung darstellen. Strafbar ist immer nur – ich werde das jetzt begründen, Herr Vorsitzender – eine vorwerfbare Handlung des Täters, die als historischer Vorgang oder als Geschehen in einem Tun oder Unterlassen bestehen kann, aber eine Handlung muß es sein. Wenn also in den Fällen Schatz, Frank und Capesius die Staatsanwaltschaft meint, schon das bloße Dortsein sei Mittäterschaft, so ist diese Meinung rechtlich unhaltbar.

Daran wird auch nichts geändert durch die Behauptung, das Dortsein sei für die kleinen Henker der personifizierte Befehl Hitlers gewesen, wie Staatsanwalt Kügler vorgetragen hat, auf die sie geschaut hätten. Auch darin liegt keine Handlung der beschuldigten Täter im Sinne der Bestimmung über die Teilnahme. Eine strafbare Handlung liegt also nicht vor.

Der neuste Standpunkt der Staatsanwaltschaft läßt nur folgende Erklärung offen oder vielleicht auch folgende Erklärung offen: Sie will möglicherweise mit diesem Standpunkt auch die Bestrafung des Angeklagten Doktor Schatz erzwingen, dem sie zugestandermaßen eine Selektion nicht nachweisen kann. Andererseits besteht auch durchaus die Möglichkeit, daß die Staatsanwaltschaft nach nunmehr näherer Prüfung selbst zu dem Ergebnis gelangt ist, es sei fraglich, ob das Selektieren eine strafbare Handlung ist, weil sie eben die von Hitler befohlene strafbare Handlung nicht etwa begünstigte oder förderte, sondern dem Umfange nach sogar verkleinerte.

Ich darf noch folgendes ergänzen: Das bloße Dortsein ist, wie ich bereits vorgetragen habe, keine Handlung im Sinne des Strafrechts. Es ist vielmehr ein Zustand, der allerdings durch eine Handlung der Fortbewegung herbeigeführt worden ist. Das Dortsein, wie es die Staatsanwaltschaft behauptet, ist also keine Handlung, sondern ein Zustand. Bestraft werden können aber bei Tätigkeitsdelikten, zu denen Mord gehört, nur Handlungen, nicht aber ein Zustand. Ausstrahlungen aus diesem Zustand des Dortseins auf andere Personen, wie es die Staatsanwaltschaft zum Beispiel hier behauptet, sind aber keine Handlungen, sondern höchstens Folgen dieses Zustandes. Das kann aber keine strafbare Handlung sein.

Geht man also mit der Staatsanwaltschaft davon aus, es komme auf das Selektieren an der Rampe gar nicht an, es genüge schon das bloße Dortsein, so kommt man bei genauerer Prüfung zu dem Ergebnis, daß in dem Dortsein eine Handlung im Sinne des Strafrechts nicht vorliegt. Liegt aber keine Handlung vor, so kann ich die Frage nach einer Strafbarkeit überhaupt nicht stellen.

Der Standpunkt der Staatsanwaltschaft hat sich an die von dem dritten Nebenklägervertreter eingenommene Meinung einer Todesfabrik, einer Mordverschwörung ziemlich unselbständig angehängt. Er ist aber – sehen wir einmal davon ab, daß überhaupt keine Handlung vorliegt – völlig unzutreffend. Die Teilnahmeform regelt unser Strafgesetzbuch erschöpfend. Es gibt die Teilnahmeformen der Beihilfe, Anstiftung und Täterschaft. Alles, was sich hierin nicht unterordnen läßt – natürlich rechtlich gerechtfertigt –, ist entweder straflose Vorbereitungshandlung oder eine Handlung nach vollendeter Tat, die aber keine Teilnahme begründet.

Der Bundesgerichtshof, 2. Strafsenat, hat in seinem Urteil vom 15.5.1963 in Sachen Hunsche ausdrücklich ausgeführt – das ist auf Seite 20, zweiter Absatz –, daß das deutsche Strafrecht eine Beihilfe zu einem Massenverbrechen, und das meinte wohl Staatsanwalt Kügler, aber nicht kennt. Bei der Auslegung, die Sie, Hohes Gericht, den Vorgängen auf der Rampe zuteil werden lassen müssen, werden Sie die Angeklagten Doktor Frank, Doktor Schatz und Doktor Capesius freisprechen müssen. [Pause]


Nun zu einer von dem dritten Nebenklägervertreter angeschnittenen Rechtsfrage. [Pause] Die Ausführungen völkerrechtlicher Art fand ich nicht, wie der zweite Nebenklägervertreter, hochinteressant, sondern ich fand sie ausgesprochen unzutreffend und auch gegen fundamentale Rechtsprinzipien verstoßend.

Der dritte Nebenklägervertreter meinte, die Angeklagten seien aufgrund des Völkerrechts zu bestrafen, und zwar auf der Rechtsgrundlage des Artikels 6 des Status für den Internationalen Militärgerichtshof, der kein Sonderrecht darstelle, vielmehr das seit langem bestehende Völkerrecht zum Ausdruck bringe. Die Anwendung des Artikels 6 des Status sei für das Schwurgericht zwingend; der Artikel 6 stehe zu § 211 StGB im Verhältnis der Spezialität. So war es doch wohl gemeint.

Nun, ich werde meine Ausführungen zu diesem Punkt kürzen, weil es mir tatsächlich schwerfällt, auf solch unzutreffende Ausführungen überhaupt zu antworten. Aber ich muß doch einige Bemerkungen dazu machen, damit Sie sehen und einen Maßstab finden für dasjenige, was Ihnen von dem dritten Nebenklägervertreter vorgetragen worden ist.

Zunächst meinte der dritte Nebenklägervertreter, das Potsdamer Abkommen – an dem übrigens Deutschland nicht beteiligt sein konnte – ergebe die völkerrechtliche Verpflichtung zur Verfolgung der nationalsozialistischen Verbrechen. Das ist wohl ein Irrtum. Der dritte Nebenklägervertreter hat Potsdam mit London verwechselt.

In Potsdam wurden die Oder-Neiße-Linie und die Ausweisung aus den Ostgebieten beschlossen. Stalin verlangte dort unter anderem auch zunächst die Erschießung von 50.000 deutschen Offizieren. Das konnte noch von den anderen verhindert werden. Es war aber die Jalta-Konferenz Anfang 45, auf der die Alliierten den Willen erklärten, alle Kriegsverbrechen zur Bestrafung zu bringen. Und diese in Jalta erklärte Absicht wurde durch das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 in die Tat umgesetzt. Man einigte sich auf die Bildung eines Internationalen Militärgerichtshofs zur Aburteilung der Kriegsverbrechen und auf ein Statut, das das gleiche Datum trägt.

Um was für eine Rechtsgrundlage es sich bei dem Statut handelt, dessen Anwendung Ihnen der dritte Nebenklägervertreter vorgeschlagen hat, das muß ich doch kurz erörtern, um Ihnen zu zeigen, auf welche Weise damals das Recht gehandhabt wurde.

Das Londoner Abkommen ist abgeschlossen worden zwischen Großbritannien, Frankreich, den USA und der Sowjetunion. Und folgendes ist höchst interessant: Für Großbritannien unterzeichnete Jowitt, für die USA Jackson, für Frankreich Falco und für die Sowjetunion Nikitschenko. Von den vier Unterzeichneten waren drei, die ich soeben genannt habe, am späteren Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof unmittelbar beteiligt. Jackson war der amerikanische Hauptankläger; das braucht vielleicht nicht so sehr bedenklich zu sein, aber ein rechtlicher Schönheitsfehler ist es auf jeden Fall. Falco war aber der zweite französische Richter und Nikitschenko sogar der sowjetische Hauptrichter. Die Verfasser eines solch außergewöhnlichen Sonderrechts waren also zur Hälfte als Richter in dem anschließenden Gerichtsverfahren tätig.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß unter normalen rechtlichen Umständen hier ein durchschlagender Ablehnungsgrund gegeben gewesen wäre. Aber auch dafür hatte man Vorsorge getroffen, es kam ja nicht so genau drauf an. In Artikel 3 des Statuts ist bestimmt, daß weder der Gerichtshof noch seine Mitglieder oder Stellvertreter von der Anklagebehörde oder dem Angeklagten oder seinem Verteidiger abgelehnt werden können. Auch das Statut, das das bestimmte, stammte von den gleichen Personen, die das Londoner Abkommen unterzeichnet haben. Zwei Richter haben also damit selbst bestimmt, daß sie nicht als befangen abgelehnt werden können. Das Recht betraf eben damals die Besiegten, und man hat die große Chance verpaßt, von dem Schlußpunkt des Krieges an, das Prinzip der Macht und Gewalt durch das Prinzip des Rechts zu ersetzen. Das ist die große verpaßte Gelegenheit an diesem Zeitpunkt.

Von allen Bedenken, Hohes Gericht, gegen dieses Statut, das ja der Dritte Nebenklägervertreter Ihnen anzuwenden vorschlägt, von allen Bedenken ist das größte Bedenken das, daß es sich dabei um ein Gesetz handelt, das gegen das Prinzip verstößt, daß niemand wegen einer Tat bestraft werden darf, die nicht bereits zur Zeit ihrer Begehung ein Verbrechen war. Geht man von diesem grundlegenden Rechtssatz aus, dann konnte [+ man] im Artikel 6, der ja all die Straftatbestände enthält, eine Bestrafung wegen Planens und Führens eines Angriffskriegs nur dann aussprechen, wenn diese Tatbestände schon vor Erlaß des Londoner Abkommens und des Status eine völkerrechtlich strafbare Handlung waren. Diese Frage ist aber ganz klar zu verneinen. Man sucht vergeblich nach einer solchen Bestimmung oder gar einem völkerrechtlichen Brauch, der ja auch in diesem Zusammenhang von rechtlicher Bedeutung wäre.

Es soll nicht in Abrede gestellt werden – und das hat der dritte Nebenklägervertreter ja auch behauptet –, daß ein unter Bruch des Briand-Kellogg-Paktes geführter Krieg eine Verletzung des Völkerrechts darstellt. Man kann aber nicht auf den Nachweis verzichten, daß der Briand-Kellogg-Pakt als Reaktion auf die Verletzung seiner Grundsätze ein Verbrechen im Sinne des Strafrechts in das Völkerrecht einführte. Dieser Nachweis ist nirgends und mit nichts zu führen. Vor allem sind nach dem Abschluß dieses Pariser Vertrags – spricht sich besser aus als Briand-Kellogg-Pakt – mehrere Kriege geführt worden, ohne daß sich jemals die Frage einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit der beteiligten Staatsmänner erhoben hätte. Es sei nur an die Kriege Italien gegen Abessinien, Rußland gegen Finnland erinnert, insbesondere aber an die Beteiligung Rußlands am Kriege gegen Polen im Jahre 1939.

Bei all diesen Auseinandersetzungen war notwendigerweise auf der einen oder anderen Seite ein Bruch des Briand-Kellogg-Paktes gegeben, ohne daß die Frage der kriminellen Bestrafung verantwortlicher Personen jemals erhoben wurde. Dann aber gehen das Londoner Abkommen und das Statut und auch das Kontrollratsgesetz Nummer 10, in dem sie das Planen und Führen von Angriffskriegen für strafbar erklären, über das bisher geltende Völkerrecht hinaus. Sie sind Strafgesetze mit rückwirkender Kraft, deren Anwendung sich nach allgemeinen Grundsätzen verbietet.

Das Statut bedroht den Angriffskrieg, den Hitler im Jahre 1939 gegen Polen unternommen hat, mit schwerer Strafe, obwohl feststeht, daß Rußland, das ebenfalls zu den Signatarmächten des Briand- Kellogg-Paktes gehört, als eine der Kontrollmächte, die die Verantwortung wiederum für das Statut tragen, an diesem Angriffskrieg selbst teilgenommen hat. Es liegt also der Fall vor, daß eine Strafnorm erlassen oder mit erlassen wird von einem Mittäter des inkriminierten Delikts. Sicher eine ganz kuriose Rechtslage.


Das ist der letzte Punkt, den ich im Zusammenhang mit dieser Rechtsfrage erörtere und die ich nur erörtere in Antwort auf die Ausführungen des dritten Nebenklägervertreters: Er hat nämlich dann noch den Artikel 8 des Status erwähnt, der den höheren Befehl als Strafausschließungsgrund ausschaltet. Hohes Gericht, damit diese Bestimmung überhaupt zustande kommen konnte, war sie von amerikanischer und auch britischer Seite vorbereitet worden. Mitte des Jahres 1944, also kurz vor Kriegsende, setzten Bestrebungen unter dem Einfluß einiger Vertreter des Völkerrechts ein, durch die die Bestimmungen über die Wirkungen des gegebenen Befehls geändert werden sollten. Bis zum Jahre 1944 räumten nämlich sowohl das britische Manual of Military Law als auch die amerikanischen Kriegsregeln der Berufung der Angeklagten auf höheren Befehl die Wirkungen voller Entlastung ein. Im letzten Stadium des Krieges wurden in beiden Handbüchern diese Bestimmungen gestrichen und – welch ein Zufall gleichzeitigen Handelns zweier Staaten – im Statut ebenso wie im Kontrollratsgesetz die strafbefreiende Berücksichtigung des höheren Befehls ausdrücklich untersagt.

Nun nur kurz, wie es dazu kam. Der Anlaß liegt klar. Den Anstoß zu diesen einschneidenden Änderungen haben zwei Autoren gegeben, und zwar Professor Glueck von der Harvard-Universität und Professor Lauterpacht von der Universität Cambridge. Diese beiden Wissenschaftler waren es, die die bestehenden Vorschriften zu Fall gebracht und damit die Verteidigung aller künftigen Angeklagten erschwert haben. Bliebe es bei dem bisherigen Recht, so argumentierten sie, so stünde zu vielen die Möglichkeit offen, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen. Das dürfe nicht sein, und daher müsse das Gesetz schleunigst geändert werden, dessen Standpunkt auch sie bisher geteilt hatten.

Professor Lauterpacht hatte noch im britischen Jahrbuch von 1944 folgendes geschrieben: »Es ist eine interessante Glosse zu der Verwickeltheit des Problems«, nämlich des höheren Befehls, »daß in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten der Einwand des höheren Befehls im ganzen ohne entscheidende Wirkung im inneren Straf- und Verfassungsrecht ist, obwohl er augenscheinlich als volle Rechtfertigung behandelt wird in bezug auf Kriegsverbrechen. Und wenn man die Gründe prüft, die für diesen Übergang zu einer realistischeren Regelung angeführt worden sind, so findet man nur reine Zweckmäßigkeitsgründe.«

Professor Smith von der Universität London, übrigens ein richtiger Professor, bemerkt zu dieser Gesetzgebung: »Sie hat eine augenfällige Ähnlichkeit mit Hitlers Lehren über Taten, die dem gesunden Volksempfinden widersprechen.« In seinem Aufsatz führt Professor Smith an, daß man bereits im Jahre 1815 in London daran gedacht habe, Napoleon wegen Entfesselung des Angriffskrieges vor Gericht zu stellen, aber, und nun wörtlich Professor Smith: »Die britische Regierung zog es vor, lieber der Meinung der Rechtsgelehrten zu folgen als dem Geschrei der Menge.«

Und hinsichtlich der Abschaffung der Berufung auf höheren Befehl erklärte Professor Smith: »Es ist wohl nicht unfair, daran zu zweifeln, ob Professor Lauterpacht, der sich verdientermaßen in diesem Land einen Namen als bemerkenswerter Gelehrter erworben hat, es gewagt hätte, nach der von ihm jetzt aufgestellten Lehre zu handeln, als er in der österreichischen Armee diente.« Er fährt dann weiter fort: »Es ist gänzlich unvereinbar mit den Traditionen unserer Auffassung von Gerechtigkeit, in dieser Angelegenheit den Hauptboden der Verteidigung abzuschneiden.«


Ein Statut, das auf diese Weise zustande gekommen ist, in dem also Straftatbestände mit rückwirkender Kraft unter Strafe gestellt wurden, insbesondere auch unter Beteiligung der Sowjetunion, die selbst an dem Angriffskrieg gegen Polen teilgenommen hatte, in dem die strafausschließende Wirkung des höheren Befehls rückwirkend ausgeschlossen wurde... das alles macht ein solches Statut, das Ihnen der dritte Nebenklägervertreter zur Anwendung vorgeschlagen hat, in vollem Umfange nichtig. Sie sehen einmal mehr, daß es damals, 1945, auf eine wirkliche Rechtsgrundlage gar nicht so genau angekommen ist, obwohl man das gar nicht nötig hatte. Man hatte sich zwar von diesen Nachkriegsprozessen, deren Rechtsgrundlage das Statut und das Kontrollratsgesetz bildeten, damals zunächst erhofft, daß sie eine neue Ära einleiten würden, als eine neue Ära des Rechts einleiten würden. Diese Hoffnung hat sich aber leider dann nachträglich nicht erfüllt.

Bei einer solchen Beurteilung des Statuts mit dem Maßstab des Rechts kommt man aber zu dem Ergebnis, daß eben die Alliierten den gleichen Fehler begingen, der vor ihnen schon häufig gemacht worden war. Ich erinnere Sie zum Beispiel an das Gesetz van der Lubbe, durch das nachträglich die Todesstrafe durch Erhängen eingeführt worden war und auch an das Autofallen-Gesetz. Und der gleiche Fehler ist jetzt auch nachträglich noch begangen worden. So hat ihn unser Bundestag gemacht, indem er die am 8.5.1965 ablaufende Verjährungsfrist dadurch verlängert hat, daß er den Beginn für die Berechnung dieser Frist willkürlich, also ohne rechtlichen Grund, auf den 1.1.1950 zurückverlegt hat.

All diese Fehler, Hohes Gericht, und Rechtsverletzungen haben einen großen Nachteil. Man fürchtet sich schon vor der nächsten Rechtsverletzung, weil solche Beispiele eben leider Schule machen. [Pause] Jedenfalls handelt es sich

Vorsitzender Richter [unterbricht]:

Herr Rechtsanwalt, wollen wir

Vorsitzender Richter:

Darf ich Sie bitten, fortzufahren.

Verteidiger Laternser:

Ja. Herr Präsident, meine Damen und Herren Richter und Geschworenen, ich habe jetzt nur noch drei Komplexe, die nicht umfangreich sein werden. Und zwar werde ich Stellung nehmen noch zu der Frage Täterschaft oder Beihilfe. Ich werde mich dabei kurz fassen. Ebenso in der Frage des Paragraph 47 und schließlich dann noch zum Befehlsnotstand. Das sind die drei Komplexe, die ich jetzt noch behandeln möchte. Und ich behandle als ersten den Komplex Täterschaft oder Beihilfe.

Zu dieser Frage nur kurz folgende Hinweise: Zunächst verweise ich auf die Feststellungen des Bundesgerichtshofs im Staschyinskij-Prozeß. Er hat dort ausgeführt, daß die Täter, die auf Befehl einer autoritären Regierung beziehungsweise [+ eines autoritären] Machtapparates handeln, dies nicht aus einem kriminellen Trieb heraus täten. Die Triebe zum Handeln seien noch nicht erforscht.

Dann ein weiterer Hinweis: Alles Handeln eines Staates beziehungsweise seiner Regierung ist die Betätigung des politischen Willens. Folglich sind bei allen Handlungen, die auf Weisungen der Regierungsspitze erfolgen, politische Momente niemals ganz auszuschalten. Der einzige Unterschied des vorliegenden Verfahrens zu politischen Prozessen, die sich mit dem Komplex des Landesverrats oder des Hochverrats befassen, ist meines Erachtens doch wohl nur der, daß in diesen die Täter gegen die politischen Ziele des betroffenen Staates handeln, während die Angeklagten dieses Prozesses den politischen Zielen des damaligen Staates sich unterordnen zu müssen glaubten. Und diese Unterschiede sind meines Erachtens zugunsten der Angeklagten zu beachten. Denn sie handelten dann nicht aus eigenem vorwerfbaren Wollen, ihr Tun war vielmehr dem des damaligen Regimes untergeordnet.

Wenn also erstens der Bundesgerichtshof meint, daß die Täter, die auf Befehl einer autoritären Regierung handeln, dies nicht aus kriminellem Trieb heraus täten, und zweitens die Angeklagten glaubten, sich den politischen Zielen des Systems unterordnen zu müssen, dann haben sie nicht aus eigenem vorwerfbaren Wollen gehandelt. Schon diese Feststellungen, die nicht bestreitbar sein werden, sind wichtige Indizien für die Entscheidung der Frage, ob eine Mittäterschaft angenommen werden kann oder ob bei den vorliegenden Fällen in der Regel nur Beihilfe vorliegt.

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs über die Abgrenzung der Mittäterschaft und der Beihilfe – Hohes Gericht, ich möchte wirklich kein leeres Stroh dreschen – geht es um folgende Begriffe. Und dazu will ich nur kurz dann in Anwendung auf den Fall kurze Bemerkungen machen. Da ist als erstes der eigene Tatwille im Gegensatz zu Unterordnung unter fremden Willen, zweitens die Tatherrschaft und der Wille und die Möglichkeit, sie überhaupt auszuüben, und dann drittens die Vorstellung des Täters, eine eigene Tat auszuführen im Gegensatz zur Vorstellung, eine fremde Tat zu fördern. Das ist kurz gesagt das Wesentliche, um das es hier geht.

Wenn man zunächst einmal überprüft, ob bei den Tätern, denen zum Beispiel Tätigkeit auf der Rampe vorgeworfen wird, eigener Tatwille oder nur eine Unterordnung unter fremden Willen vorgelegen hat, so kommt man bei der Prüfung dieser ersten Begriffsvoraussetzung ohne weiteres und ohne irgendwelche Bedenken zu dem Ergebnis, daß ein eigener Tatwille nicht vorgelegen hat, vielmehr eine Unterordnung unter fremden Willen.

Bei dem Entschluß, die Juden in Europa zu vernichten, hat keiner dieser Angeklagten etwa auch nur im entferntesten mitgewirkt. Das haben Hitler, Himmler oder noch der eine oder andere seiner Trabanten ganz allein getan. Keiner der von mir vertretenen Angeklagten hat auch nur das geringste zu diesem Entschluß beigetragen. Ein eigener Tatwille war also nie vorhanden und ist daher auch in keiner Weise betätigt worden. Die Angeklagten wurden vielmehr in den Komplex hineingestellt und glaubten, sich dieser Tätigkeit nicht entziehen zu können.

Die Staatsanwaltschaft – das fällt mir gerade ein – hat in ihrem Plädoyer behauptet, daß der Bednarek in das KZ »hinein geprügelt« worden sei. Ich kann zum Beispiel bezüglich des Angeklagten Doktor Capesius ohne weiteres sagen, er ist hinein befohlen worden.

Was nun die Tatherrschaft anlangt und den Willen und die Möglichkeit, diese Tatherrschaft überhaupt auszuüben, so kann auch hier nicht im entferntesten die Rede davon sein, daß einer der von mir vertretenen Angeklagten in der Lage gewesen wäre, zum Beispiel die Vernichtung der Juden in Auschwitz zu verhindern. Das wäre aber dann der Fall, wenn die Tatherrschaft gegeben wäre. Es ist eigentlich unnötig, über diesen Komplex weitere Ausführungen zu machen.

Und was nun die Vorstellung des Täters anlangt, ob er mit seinem Tun, falls er überhaupt ein Tun entwickelt hat, eine eigene Tat ausführen wollte, so kann in diesem Zusammenhang auch wieder nur darauf verwiesen werden, daß die teuflische Idee, die Juden zu vernichten, ein Gedanke ist, der ausschließlich von der obersten Spitze des damaligen Regimes herrührt. Das war doch ausschließlich die Tat Hitlers.

Zu der Frage, ob Täterschaft oder Beihilfe, möchte ich, am Schluß dieses Kapitels bereits angelangt, zur Ergänzung ein sehr interessantes, nach meiner Meinung richtiges, weil den Tatbestand ehrlich wertendes Urteil des Schwurgerichts Freiburg vom 12. Juli 1963 erwähnen. Bei diesem Fall handelte es sich um folgendes – ich zitiere jetzt nur wenige Sätze: »Der Angeklagte R. war im Jahre 1941 Chef einer Polizeikompanie, der Angeklagte H. Zugführer in einer anderen Polizeikompanie. Beide wirkten im Oktober 1941 bei der Massenerschießung jüdischer Einwohner der Stadt M. in Rußland mit, die vom Einsatzkommando X der Einsatzgruppe X geleitet wurde.« Das Schwurgericht hat sie vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen.

Zu der Frage Beihilfe hat das Schwurgericht folgende Ausführungen gemacht – die werden auch ganz kurz sein. Ich zitiere jetzt wörtlich aus dem schwurgerichtlichen Urteil: »Die ganze Aktion, beginnend vom Herausholen der jüdischen Männer, Frauen und Kinder bis zu deren Erschießung, ging auf den Befehl Hitlers zur sogenannten Endlösung der Judenfrage, auf die Mitwirkung der am Zustandekommen dieses Befehls und an der organisatorischen Planung beteiligten Personen seiner nächsten Umgebung, auf die Mitwirkung der obersten SS-Führung, insbesondere Himmlers und Heydrichs, sowie auf den unmittelbar auf diese Aktion hinzielenden Befehl Nebes zurück. Jedenfalls diese Personen sind Täter«, »mittelbare« in Klammern, »der ohne irgend einen rechtfertigenden Grund begangenen Massentötung. Die Mitwirkung der Angeklagten hat dagegen lediglich die rechtliche Bedeutung einer Beihilfe zu diesen Tötungsverbrechen. Beide Angeklagten waren eingeordnet in den untersten Bereich der Befehlshierarchie innerhalb des organisatorischen Apparats, der von den Machthabern zur Ausführung der Tötungsverbrechen an den Juden eingesetzt wurde.« Jetzt wird es nach meiner Meinung wichtig: »Sie hatten keinen Einfluß auf die Auswahl der Opfer, auf Ort und Zeit der Tat und auf die Art der Tatausführung. Lediglich die letzten, für die Wertung des Tatbildes nicht wesentlichen Einzelheiten der in ihrem Ablauf festgelegten Tatausführung bestimmte sich nach ihren Anweisungen, die sie befehlsgemäß erteilten. Eine Ausnahme hiervon könnte nur die vom Angeklagten H. möglicherweise ohne Befehl erteilte Anweisung bilden, im Rahmen des Möglichen die Leichen der Erschossenen mit Erde abzudecken, eine Maßnahme, die jedoch der Milderung der den jeweils nachfolgenden Opfern zugefügten seelischen Qualen diente. Daß es dem Angeklagten H. möglicherweise gelungen ist, von sich aus durch diese Maßnahme das Geschehen ein wenig zu mildern, kann auch nicht als hinreichendes Anzeichen dafür dienen, daß es ihm oder dem Angeklagten R. möglich gewesen wäre, weitere Milderungen zu erreichen, was sie etwa pflichtwidrig unterlassen hätten. Beide Angeklagten waren durch die ihnen erteilten Befehle in den nicht von ihnen gelenkten Ablauf des Geschehens eingespannt, der insbesondere durch das Tempo des Heranführens neuer Opfer und durch deren Zahl bestimmt wurde. Beiden Angeklagten fehlte jedes eigene Interesse an der Tötung dieser unschuldigen Menschen. Sie standen ihr und der Mitwirkung des Bataillons vielmehr ablehnend gegenüber. Ihre eigene Mitwirkung ist gekennzeichnet durch ihre völlige Unterordnung unter den Willen ihrer unmittelbaren und mittelbaren Befehlsgeber, dem sie sich nur widerstrebend beugten.« Ich lasse jetzt etwas aus, es steht aber gerne zur Verfügung. Ich möchte Sie nur nicht mit zu vielem belasten. »An dieser Beurteilung«, also daß Beihilfe vorliege, »ändert auch der Umstand nichts, daß der Angeklagte R. in zwei Fällen, der Angeklagte H. in einer größeren Zahl von Fällen eigenhändig Nachschüsse auf möglicherweise nicht tödlich getroffene Opfer abgegeben haben. Darin liegt keine das befehlsbestimmte Maß der Mitwirkung überschreitende Beteiligung in Richtung der Tat.«


Diese zwei Polizeioffiziere sind freigesprochen worden. Die Revision ist vom Bundesgerichtshof zurückgewiesen worden. Also das Urteil ist rechtskräftig, und der Freispruch erfolgte wegen Vorliegens des Befehlsnotstandes. Das werde ich, wenn ich dieses Kapitel dann behandle, auch noch zitieren, weil auch das von ganz besonderer Wichtigkeit ist. Und zwar deswegen, weil man, wenn man dieses Urteil liest, zwar ein nicht eindeutiges Gefühl hat. Wenn man an die Opfer denkt, dann ist ein freisprechendes Urteil sicherlich ein Hindernis, das man bei der Beurteilung des Urteils überspringen muß. Aber wenn man an die Täter denkt in diesem Falle, wie er hier liegt, dann halte ich das für eine ehrliche Wertung des damals gegebenen Sachverhalts.

Nun noch zu Paragraph 47. Dann verbleibt nur noch das Problem des Befehlsnotstandes. Hohes Gericht, das Problem des Paragraph 47 ist auch in diesem Verfahren von erhöhter Bedeutung. Im Falle des SS-Führers Hunsche hatte das erste Schwurgericht, das den Angeklagten verurteilte, die Meinung vertreten, die Vorschrift des Paragraph 47 sei nicht anwendbar. Der Geltungsbereich des Militärstrafgesetzbuches erstrecke sich nicht auf diesen Angeklagten. Für die Anwendung sei keine Norm erkennbar. Das gelte auch für die Verordnung über die Sondergerichtsbarkeit »bei besonderem Einsatz« vom 17.10.1939. Denn mit »besonderem Einsatz« sei »kriegsmäßiger Einsatz« gemeint. Und mit einem solchen kriegsmäßigen Einsatz habe die Liquidierung wehrloser Menschen nichts zu tun.

Mit der eingelegten Revision rügte ich damals, daß das Schwurgericht die Anwendung des Paragraph 47 nicht geprüft habe. Die Revision hatte damit auch Erfolg. Der Bundesgerichtshof vertrat mit der Revision die Meinung, daß das Schwurgericht den Begriff »bei besonderem Einsatz« falsch ausgelegt habe. Er hält diese Verordnung vom 17.10.39 und die dazugehörigen Erlasse vom 9.4.40, 8.8.42 – die werden Sie haben – für rechtswirksam. Das Schwurgericht hätte also die Anwendbarkeit dieser Verordnung und damit des Paragraph 47 nicht aus den Gründen verneinen dürfen, die es als maßgeblich angesehen hatte. Das Urteil in Sachen Hunsche wurde aufgehoben, damit, wie der BGH in seinem Urteil ausgeführt hat, das Schwurgericht Gelegenheit erhalte, die infolge seiner irrigen Rechtsauffassung bisher unterbliebene Prüfung nachzuholen.

Es müssen auch also hinsichtlich der in diesem Verfahren zur Entscheidung stehenden Fälle jeweils die Voraussetzungen des Paragraph 47 geprüft werden. Durch die Bestimmung des Paragraph 47 sollte die Gehorsamspflicht nicht etwa verwässert werden. Der ausschließliche Zweck des Paragraph 47 besteht darin, die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Vorgesetzten und Untergebenen beim Handeln auf Befehl zu regeln. Es handelt sich bei dieser Vorschrift um rein strafrechtliche Bestimmungen.

Verteidiger Laternser:

[+ So hat der Paragraph 47 MStGB nichts zu tun 1. mit der prinzipiellen Frage, ob und wann für den Untergebenen eine Gehorsamspflicht gegenüber rechtswidrigen Befehlen besteht, und 2. mit der ebenfalls grundsätzlichen Frage, ob und inwieweit eine Prüfungspflicht oder gar ein Prüfungsrecht des Untergebenen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des ihm erteilten Befehls] gegeben ist. Wenn im Paragraph 47 bestimmt wird, daß den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers treffe, falls ihm bekannt gewesen ist, daß der Befehlende die Begehung eines Verbrechens bezweckte, so meint der Gesetzgeber das auch so, wie es in Paragraph 47 niedergelegt ist. Die Bestimmung ist ausdrücklich so gefaßt worden, um den Untergebenen möglichst weit zu decken. Die Rechtsprechung hat diesen Schutz des Untergebenen sehr zu Recht auch dadurch noch gefestigt, daß sie die Haftung des Untergebenen auf die seltenen Fälle sicheren Wissens, daß der Vorgesetzte die Begehung eines Verbrechens beabsichtige, eingeschränkt hat unter Ausschluß der Fälle bloßen Zweifels und unter Ausschluß der Fälle des bloßen Kennenmüssens. Also bedingter Vorsatz oder Fahrlässigkeit genügen nicht.

Hohes Gericht, die Vorstellung allein, daß die Ausführung des Befehls objektiv die Begehung eines Verbrechens zur Folge hat, genügt nicht. Der Vorgesetzte muß sie beabsichtigt haben, und dem Untergebenen muß diese Absicht auch bekannt gewesen sein. Das ergibt sich ohne jeden Zweifel aus dem Wortlaut und insbesondere auch dem Sinn des Paragraph 47.

Bei jeder Handlung eines Angeklagten, die Sie auf ihre Strafbarkeit hin überprüfen, ist auch der Frage nach der Anwendung des Paragraph 47 nachzugehen. Gesetzt den Fall, das Schwurgericht würde hinsichtlich eines von mir verteidigten Angeklagten zu dem Ergebnis kommen – ich unterstelle das zunächst einmal der Argumentation halber –, er habe auf der Rampe in Birkenau selektiert – ich zweifle zwar sehr daran, weil grundsätzlich das Ärzte tun sollen, wie uns sehr viele Zeugen hier gesagt haben –, so scheint es weiter klar zu sein, daß die Einteilung zu einer solchen Selektion aufgrund eines Befehls des Standortarztes Doktor Wirths geschehen ist, der in einem Dienstplan niedergelegt worden ist. Der für eine Selektion Eingeteilte ging also aufgrund eines Befehls zur Rampe.

Einmal unterstellt, das Schwurgericht würde im Selektieren auf der Rampe entgegen meinen Ausführungen, die ich vorhin gemacht habe, eine strafbare Beteiligung sehen, so erhebt sich die Frage: Ist Paragraph 47 anwendbar? Hohes Gericht, der für eine Selektion Eingeteilte würde sich, weil eben 47 grundsätzlich anwendbar ist, nur strafbar gemacht haben, erstens, wenn er den erteilten Befehl überschritten hätte – dieser Fall scheidet zunächst aus, Anhaltspunkte sind in keinem Fall gegeben –, oder, zweitens, wenn ihm bekannt gewesen ist, daß der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein Verbrechen bezweckte.

Was war nun demjenigen bekannt, der sich als für die Selektion Eingeteilter auf dem Weg zur Rampe befand? Er wußte, daß ein Transport jüdischer Menschen eintreffen wird, die nach dem Befehl Hitlers in den Gaskammern in Auschwitz zu vernichten waren. Ein Vorgang oder ein sicher zu erwartendes Ereignis, an dem der Eingeteilte nicht das geringste dem Grundsatz nach ändern konnte. Der Befehl, an der Rampe von Birkenau zu selektieren, also Personen auszusuchen, die nicht getötet werden sollten, konnte doch nur darin bestehen, entweder alle Arbeitsfähigen von der Vernichtung auszunehmen... Ein solcher Befehl kann doch unmöglich gegeben worden sein. Denn wenn es mit einem solchen Befehl, zum Beispiel aus rein egoistischen Gründen, ernst gemeint gewesen wäre, dann hätte die Auswahl sorgfältiger geschehen müssen, um möglichst viel Arbeitsfähige für den eigensüchtigen Zweck zu bekommen. Da aber, wie wir immer gehört haben, die Selektionen stets sehr rasch vorgenommen worden sind, kann ein etwaiger Befehl für die Auswahl von Personen nur so gelautet haben, entweder eine ungefähre Zahl Arbeitsfähiger oder einen ungefähren Prozentsatz von Arbeitsfähigen aus dem Kreis der Ankömmlinge auszuwählen, der ja auch eine ausrechenbare Zahl ergibt, weil man jeweils wußte, wie stark der zu erwartende Transport sein würde.

Es können also jeweils nur folgende Situationen vorgelegen haben. Erstens: Entweder ging der ganze Transport ohne Ausnahme in die Gaskammer; wir haben das verschiedentlich von Zeugen gehört. Die Anwesenheit von Personen zur Durchführung einer Selektion war ja dann nicht erforderlich. Oder, zweitens: Es sollte aus dem zum Tode bestimmten Personenkreis entweder eine bestimmte Anzahl oder ein bestimmter Prozentsatz ausgewählt werden, die dann dem Tod in der Gaskammer entgingen. Wenn also ein zur Durchführung einer Selektion eingeteilter Angehöriger der SS zur Rampe ging, dann ging er hin, um eine vorher bestimmte Anzahl von Personen auszuwählen, die nicht in die Gaskammern gehen sollten.

Bei dieser Situation – man muß sich in die des Täters hineindenken – konnte der Betreffende nicht auf den Gedanken kommen, mit der Durchführung des ihm gegebenen Befehls etwa ein von seinem Vorgesetzten bezwecktes Verbrechen zu begehen oder sich daran zu beteiligen. Nein, er konnte der Ansicht und der Überzeugung sein, ein in Durchführung befindliches Verbrechen um diejenigen Opfer zu verkleinern, die er aus einer noch größeren Anzahl von Personen, bestehend aus solchen, die arbeitsfähig oder nicht arbeitsfähig waren, als arbeitsfähig für einen bestimmten Zweck heraussuchte. Ich meine, daß das die wirkliche Lage war, in der sich der zur Selektion eingeteilte damals befunden hat.

Ich weiß, daß man mir entgegenhalten wird, der Selekteur habe über Leben und Tod entschieden und habe diejenigen, die er nicht ausgewählt hat, in den Tod geschickt. Ich bin aber der Meinung, daß diese Auffassung die wirkliche Situation völlig verkennt. Sicher kann nicht geleugnet werden, daß die für die Selektion eingeteilten Personen dem Massenmord sehr nahe waren. Aber alle Angehörigen eines Transportes waren dem Tode zunächst geweiht. Die Gaskammern standen bereit, um sie aufzunehmen und zu töten. Das wurde doch nicht auf der Rampe entschieden, sondern einzig allein durch Hitler selbst, der über das Schicksal der Angehörigen solcher Transporte bereits zuvor entschieden hatte. Das war der Entschluß und Befehl Hitlers, und jede andere Auslegung tut der gesamten Situation Zwang an. Infolgedessen kann die Situation auf der Rampe in Auschwitz der wahren Sachlage nach einfach nicht so gewesen sein, daß erst dort über Leben oder Tod entschieden wurde.

Selbst wenn Sie in dem Selektieren zum Beispiel eine Beihilfe zum Mord sehen sollten, so hindert der Paragraph 47 eine Bestrafung. Infolge des erteilten Befehls, eine gewisse Anzahl Arbeitsfähiger aus dem Kreise der zum Tode bestimmten Personen auszuwählen, ging der Selekteur in dem Bewußtsein zur Rampe, die Zahl der zu Tötenden zu verringern. Bei der Durchführung dieses Befehls konnte dem einzelnen Angeklagten im Sinne des Paragraph 47 nicht bekanntgeworden sein, die Durchführung dieses speziellen Befehls, also einige Leute herauszusuchen, bezwecke ein Verbrechen. Ich meine damit die Durchführung des erteilten Befehls, Arbeitsfähige herauszusuchen. Dieser Befehl und seine Ausführung ist also auf alle Fälle durch Paragraph 47 gedeckt, falls man überhaupt in der Selektion eine strafbare Handlung erblicken könnte, woran ich ernsthaft zweifle und was ich sogar ausschließen möchte.


Die Anwendung des Paragraph 47 ist im übrigen auch hinsichtlich aller weiteren Anschuldigungen zu prüfen. Angenommen, ein Angeklagter sollte sich an einer Erschießung an der Schwarzen Wand beteiligt haben. Bei jeder Beteiligung muß das Gericht versuchen, den Fall aufgrund derjenigen Sachlage zu beurteilen, in der sich der jeweilige Angeklagte damals befunden hat. Ging der Angeklagte zum Beispiel davon aus, daß die Erschießung aufgrund eines Urteils erfolgt? Ging er etwa davon aus, daß die Erschießung aufgrund eines standgerichtlichen Urteils erfolgt? Oder ging der Angeklagte davon aus, daß die Erschießung aufgrund eines Befehls des RSHA erfolgte? Und was bewirkte die Kenntnis eines solchen Umstandes in der Vorstellung des Täters?

Ich habe bereits vorgetragen, daß nur ein sicheres Wissen davon, daß die Durchführung des gegebenen Befehls die Begehung eines Verbrechens bezweckt, zur Bestrafung als Teilnehmer führen kann. Allein schon Zweifel, ob es noch rechtmäßig ist oder sein kann, befreien den Ausführenden nach Paragraph 47 von einer Verantwortlichkeit als Teilnehmer. Wie sollen solche Fälle überhaupt noch gerecht gelöst werden, wenn man die Gründe für die einzelnen Fälle nicht mehr feststellen kann.

Wohl könnte zum Beispiel eine auffallende Häufung von Erschießungen bei den Ausführenden Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit erregen. Aber diese Bedenken genügen, wie ich bereits vorgetragen habe, allein nicht, eine Verantwortlichkeit herbeizuführen. Es wäre nicht unbedenklich, schon aus der Häufung von Erschießungen auf eine Rechtswidrigkeit zu schließen. Denn jeder Fall muß doch für sich allein in jeder Beziehung zur Gewißheit nachgewiesen sein. Man kann doch nicht aus einer Anzahl nicht ganz aufgeklärter Fälle an Erschießungen den Schluß ziehen: weil so viele nicht ganz aufgeklärte Erschießungsfälle vorliegen, bedarf es nicht mehr des sicheren Beweises über die Sachlage für den einzelnen Fall. Das wäre doch ein Trugschluß, vor dem man sich auf alle Fälle wird hüten müssen. Es türmen sich eben Schwierigkeiten über Schwierigkeiten.

Aber, wie ich bereits einmal gesagt habe, diese Schwierigkeiten, und wenn sie sich noch so häufen, dürfen nicht dazu führen, daß Sie Ihr richterliches Gewissen, wie Oberstaatsanwalt Großmann einmal gesagt hat, von möglicher Beschwer befreien. Nein, diese Beschwer wird durch solch aufgeworfene Bedenken immer mehr vergrößert. Und sie führt schließlich dazu anzunehmen, daß die Ihnen durch das Gesetz zugefallene Aufgabe, zu richten, in Fällen dieser Art einfach unlösbar wird, wenn Sie alles das bedenken, was der einzelne Fall an sicheren Feststellungen erfordert. Wie wollen Sie über diese Schwierigkeiten hinwegkommen?

Ich komme nun zum letzen Kapitel des Befehlsnotstandes. [Pause]

Die ungemein wichtige Frage des Befehlsnotstandes hat die Staatsanwaltschaft durch Oberstaatsanwalt Großmann zunächst für alle Angeklagten pauschal und nach meiner Meinung nicht ausreichend geprüft. Die ebenso wichtige Frage in diesem Zusammenhang, nämlich ob etwa Fälle des Putativnotstandes gegeben seien, hat er überhaupt nicht geprüft. Denn wenn man lediglich behauptet, die Angeklagten dieses Verfahrens können sich auf Putativnotstand nicht berufen, dann man hat dieses ebenso wichtige Problem wie das des Befehlsnotstandes nur erwähnt, im gleichen Augenblick aber schon ohne jegliche Prüfung und Einlassung darauf abgelehnt. So geht es nun wirklich nicht. Die Ausführungen der Staatsanwaltschaft befinden sich in diesem Punkte auf einer Ebene, von der aus man auch zu dem Schluß hätte kommen können, die Diktatur Hitlers habe zu keinem Zeitpunkt bestanden. Man hätte sich ohne Gefahr allem entziehen können, man habe nur den Willen dazu haben müssen.

Wenn man dieses Problem allerdings so ansieht, dann kann auch das Ergebnis nicht verwundern. Oberstaatsanwalt Großmann ging bei seiner Behandlung dieses Problems zunächst wieder von der für alle Angeklagten pauschalen Behauptung aus, ihre Einlassung sei steter Rückzug gewesen, an dessen Beginn Schweigen, Bestreiten, Bagatellisieren gestanden habe und an dessen Ende die Flucht in den Befehlsnotstand oder Putativnotstand stehe. Das Schwurgericht habe das Gutachten des Doktor Buchheim und die Aussage des sachverständigen Zeugen Hinrichsen gehört. Das Ergebnis sei eindeutig. Das Problem konzentriere sich im wesentlichen, wie dann ausgeführt worden ist, auf die Frage, ob den Angeklagten bei Nichtausführung eines rechtswidrigen Befehls eine wirkliche Gefahr für Leib oder Leben drohte. Das sei zu verneinen. Der Versuch der Verteidigung, durch Zeugen eine solche Notstandssituation als gegeben oder zumindest naheliegend nachzuweisen, sei fehlgeschlagen. Hohes Gericht, als ob die Angeklagten irgend etwas nachzuweisen hätten.

Und jetzt kam das Erstaunlichste: In allen Fällen, also auch bei allen Angeklagten, sei keine Gefährdung von Leib oder Leben eingetreten. Und jetzt bitte ich Sie, gut zuzuhören: Eine Bestätigung und Abrundung hätten die an sich schon eindeutigen Aussagen, also Buchheim und Hinrichsen – obwohl ein Staatsanwalt aus Ludwigsburg als sachverständiger Zeuge für solche Fragen sicherlich nicht in Frage kommt –, durch die Bekundungen des Zeugen Musmanno gefunden, der als Nürnberger Richter nach dem Kriege zahlreiche Nationalsozialisten zur Frage der Befehlsverweigerung und ihrer Folgen vernommen und mehrfach gehört habe, daß man sich Mordbefehlen ohne eine Gefährdung für Leib oder Leben entziehen konnte.

Da haben wir es. Ein amerikanischer Richter, der in der Zeit, als diese Vorgänge spielten, weder Deutschland noch seine damals erbarmungslose Diktatursituation kannte, kam auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main übers Meer nach Deutschland zu dem Zweck, uns hier in diesem Prozeß die erstaunliche Mär zu verkünden, man habe sich in der Diktatur Hitlers Befehlen ohne Gefährdung von Leib oder Leben entziehen können, und das auch noch im Kriege. Und diesen Schluß – es ist ja insoweit gar keine verwertbare Zeugenaussage – entnahm der Zeuge aus Vernehmungen oder Unterhaltungen, die er nach dem Kriege in seiner Eigenschaft als Nürnberger Richter mit zahlreichen ehemals prominenten Nationalsozialisten geführt hatte. Das ist wahrlich ein kriminalistisches Meisterstück der Staatsanwaltschaft.

Es ist übrigens erstaunlich, daß sich der Zeuge für eine solche Aussage überhaupt hergegeben hat. Er kommt aus Amerika nach Deutschland, um vor einem deutschen Gericht erstens ein Urteil über Dinge abzugeben, die er gar nicht kennen kann, weil zu der Zeit, als sie sich ereigneten, ein großes Meer zwischen ihm und ihnen gelegen hat, zweitens er erkennbar dieses Urteil auf reines Hörensagen aufbaut, und zwar auf für uns unkontrollierbares Hörensagen, was er in einer Sitzung vor seinem Gericht nicht zuließe. Und schließlich drittens dieses Hörensagen, das er von damals in Haft befindlichen NS-Führern gehört hat, die ihm – übrigens sogar verständlicherweise – als Angehörigem der Besatzungsmacht doch dasjenige mitgeteilt haben werden, was sie als für sich günstig angesehen haben. Für den amerikanischen Richter galt also uns gegenüber nicht der Satz »Hearsay is not evidence«. Es kommt ja auch nicht so genau drauf an.

Man stelle sich vor: Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt, deren leitende Vertreter zu jener Zeit doch auch in Deutschland lebten und tätig waren, läßt unter erheblichem Kostenaufwand aus den USA einen Zeugen für die Frage des Befehlsnotstandes kommen, der erstmals Deutschland betreten hat, als der ganze Spuk, Gott sei Dank, vorüber war. Die Staatsanwaltschaft hätte sich nur zurückerinnern brauchen, um sich die Verhältnisse, wie sie damals geherrscht haben, vor Augen zu führen. Man braucht nämlich dann für die Frage des Befehlsnotstandes oder des Putativnotstandes keinerlei Zeugen mehr. Man muß nur ehrlich an die Verhältnisse denken, wie sie damals in dieser Diktatur geherrscht haben.

Es gehört ein Maß von Ehrlichkeit dazu. War es damals nicht die Zeit, in der Hitler auf jedem Gebiet die letzte Entscheidung für sich in Anspruch nahm und sie auch durchsetzte? War es damals nicht so, daß die Staatsanwaltschaft durch die Lage des jeweiligen Falles nicht gerechtfertigt hohe Strafen beantragte und die Gerichte bisweilen diesen ungerechtfertigten Anträgen auch stattgaben? Weiß die Staatsanwaltschaft denn nicht mehr, daß sich damals bisweilen in den Akten ein Vermerk befand, nach dem rechtzeitig vor dem Ablauf einer Strafhaft dieser Zeitpunkt der Gestapo bekanntzugeben war, damit sie dann vor dem Gefängnistor warten konnte, um den gerade Entlassenen wieder zu verhaften? Ich kann mich noch gut der ohnmächtigen Wut, die ich damals darüber hatte, erinnern.

Weiß die Staatsanwaltschaft denn nicht mehr, daß sie selbst gegen flagrante Rechtsbrüche wie die Zerstörung der jüdischen Geschäfte und Wohnungen im November 1938, die Tötung der Geisteskranken und schließlich die Ermordung der Juden nicht eingeschritten ist? Sie wußte doch damals schon – oder etwa nicht? –, daß es sich dabei um Verbrechen handelte. Warum ist sie denn nicht eingeschritten? Welcher Richter oder Staatsanwalt hat damals protestiert oder gar seinen Dienst verlassen? Warum ist denn nicht Sonntag für Sonntag von allen Kanzeln beider christlicher Konfessionen, die das sicher gern getan hätten, gegen die Verbrechen protestiert worden, wie das zum Beispiel der Erzbischof Graf Galen, eine damals dafür bewunderte Persönlichkeit bisweilen in dem einen oder anderen Punkte auch getan hat?

Die einzige Erklärung, Hohes Gericht, dafür liegt doch nur in der unumstößlichen Tatsache, daß wir in einer Diktatur leben mußten, gegen die der einzelne machtlos war, gegen die der einzelne noch nicht einmal ohne größere Nachteile für seine Person protestieren konnte. Wer hätte es denn wagen können, öffentlich, zum Beispiel durch Ausgabe eines Flugblattes, gegen die so erbarmungslose Behandlung der Juden zu protestieren? Das ist nur deswegen nicht geschehen, weil es einem Selbstmord gleichgekommen wäre. In unserem Volke ist doch der Anteil anständiger Menschen nicht höher und nicht niedriger als bei den anderen großen Nationen.


Und das alles gilt schon für die Zeit vor dem Kriege – und nun erst im Kriege. Bei irgendwelchen offenen Weigerungen gegenüber Befehlen und Anordnungen hatte doch jeder Staatsbürger mit schwersten Strafen, Freiheitsentzug oder gar dem Tod zu rechnen. Das alles ist doch allein die Situation, wie sie damals geherrscht hat. Es gab eben nur die Möglichkeit, sich mit vorgegebenen Gründen auf eine besonders geschickte Manier aus der Affäre zu ziehen. Und wenn das nicht gelungen war, dann gab es keinen Ausweg mehr, es sei denn unter Hinnahme schwerster Nachteile, einschließlich der Einbuße des Lebens.

Und nun kommt auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft in Frankfurt ein amerikanischer Richter, der Deutschland erst nach dem Kriege kennengelernt hat, und versucht uns zu erklären, wie es damals bei uns gewesen ist. Und die Staatsanwaltschaft wagt es, uns so etwas anzubieten und sich auch noch darauf zu berufen.

Wir brauchen keine Zeugen und Sachverständigen, um die damals gegebene Lage zu erforschen. Es ist nun einmal geschichtliche Tatsache, die gar nicht eines Beweises bedarf, daß wir erstens in einer Diktatur ohne Gnade lebten und zweitens eine gegebene Anordnung insbesondere im Krieg nur unter Gefahr für Leib und Leben unausführbar bleiben konnte. Drittens: Die Möglichkeiten bestanden nur darin, durch Vorwände oder Geschick einen vorübergehenden Ausweg zu suchen. Viertens: Es bestand auch keine praktische Möglichkeit, sich auf Paragraph 47 Militärstrafgesetzbuch mit Erfolg zu berufen. Alles andere widerspricht der damaligen Situation, in die alle deutschen Staatsbürger hineingestellt waren.

Und es muß größtes Erstaunen erregen, wenn gerade die Staatsanwaltschaft die damals gegebene Situation zu bestreiten versucht. Es ist auch sehr schwer zu erkennen, warum sie das tut. Sie ist doch frei in ihrer Meinungsbildung hierüber, oder ist sie es nicht? Noch in ihrem Plädoyer hat sie selbst das Schwurgericht an seine innere Unabhängigkeit und den ernsten Mut zur Entscheidung erinnert. Warum geht sie diesen Weg? Liegen etwa Weisungen vor? Es ist meine Pflicht, solche Erwägungen anzustellen in einem Plädoyer. Glaubt sie etwa, daß sie einer starken Kritik ausgesetzt würde? Fürchtet sie eine solche Kritik? Spielt die Stellungnahme des Auslandes dabei eine Rolle?

Wenn es so gewesen wäre, wie die Staatsanwaltschaft nunmehr behauptet, daß nämlich bei einer Befehlsverweigerung, insbesondere gegenüber Mordbefehlen, eine Gefährdung für Leib oder Leben nicht gegeben war, dann hätte ja nur laut protestiert zu werden brauchen, natürlich ohne jede Gefahr für Leib oder Leben, und all das namenlose Unglück wäre unterblieben. Es hätte also dann nur an einigen wenigen Protesten gefehlt. Wir haben uns also nur vorgetäuscht, in einer Diktatur zu leben. Wenn sich – so trug Staatsanwalt Vogel vor – nur alle in der Kette geweigert hätten, hätten die Taten nicht durchgeführt werden können. Man ist tatsächlich versucht, hierauf eine ganz drastische Antwort zu geben.

Um die Frage des Befehlsnotstandes richtig, den damaligen Verhältnissen entsprechend, die allein dafür maßgeblich sind, und fair und ehrlich beurteilen zu können, darf man sie nicht etwa vom Ergebnis her beurteilen. Man darf also die Anwendung des Befehlsnotstandes nicht etwa deswegen versagen, weil sie dann in dem einen oder anderen Fall zum Freispruch führt. Ich weiß mit Sicherheit, daß solche Gedanken das Schwurgericht von sich weisen würde.

Hohes Gericht, mit der Frage des Befehlsnotstandes hat sich das Schwurgericht Freiburg in seinem bereits erwähnten Urteil wiederum in vorbildlicher und nach meiner Meinung den damaligen Umständen gerecht werdender Weise auseinandergesetzt. Und ich zitiere aus diesem Urteil: [Pause] »Nach den vom Schwurgericht getroffenen Feststellungen kann den Angeklagten R. und H. nicht widerlegt werden, daß sie im sogenannten Befehlsnotstand gehandelt haben und daß ihre rechtswidrige Mitwirkung an der Ermordung der Juden bei M. dadurch entschuldigt ist. Nach den Feststellungen muß davon ausgegangen werden, daß beide Angeklagten unter dem Druck der Drohung standen, im Falle einer Befehlsverweigerung«, es handelt sich dabei also um diese beiden Polizeioffiziere, »alsbald oder, wenn auch später, so doch unentrinnbar selbst das Leben zu verlieren. Diese Drohung wurde zwar nicht besonders in bezug auf die Mitwirkung an dieser Tötungsaktion ausdrücklich ausgesprochen. Sie war aber unverkennbar und zwangsläufig mit der Befehlserteilung verbunden. Denn nach den allgemeinen Belehrungen über die Folgen einer Befehlsverweigerung«, hier werden jetzt die Paragraphen 92, 94 [+ MStGB], das ist also Befehlsverweigerung im Kriege, zitiert, »und in der von der SS-Führung erzeugten Atmosphäre der Angst lag allgemein die Drohung, eine Befehlsverweigerung ziehe die Todesfolge nach sich. Diese Drohung bezog sich ersichtlich auch auf Befehle, mit denen die Machthaber die Durchsetzung des verbrecherischen Ziels der Judenausrottung bezweckten, obgleich auch nach dem damals geltenden Recht es nicht zulässig gewesen wäre, die Todesstrafe wegen einer solchen Befehlsverweigerung zu verhängen. Nach der bereits im einzelnen dargelegten Auffassung des Schwurgerichts muß bei der Entscheidung auch davon ausgegangen werden, daß diese Drohung ernst gemeint war, daß die Angeklagten also mit größter Wahrscheinlichkeit damit rechnen mußten, eine Weigerung, sich an der Tötung der Juden befehlsgemäß zu beteiligen, nicht lange zu überleben. Die den Angeklagten somit unwiderlegt drohende gegenwärtige Lebensgefahr war auf keine andere Weise als durch Ausführung der erteilten Befehle abzuwenden. Weder eine Gegenvorstellung bei den dafür in Betracht kommenden Vorgesetzten, noch ein anderer Versuch, die Mitwirkung ihrer Einheit oder die eigene Mitwirkung zu verhindern oder zu umgehen, hatte nach den getroffenen Feststellungen Aussicht auf Erfolg. Nach der Beweislage muß auch davon ausgegangen werden, daß die Vorstellung einer ihnen unmittelbar drohenden Gefahr für das eigene Leben und das Bewußtsein der Unausweichlichkeit der Befehlsausführung zur Abwendung dieser Gefahr der tragende Beweggrund dafür war, daß die beiden Angeklagten sich an der Erschießung beteiligt haben. Der als wahrscheinlich festgestellte Umstand, daß die Angeklagten von einer Verbindlichkeit des als verbrecherisch erkannten Befehls ausgegangen sind, steht hierzu nicht im Widerspruch.«

Ich lasse jetzt... Nein, ich will vollständig sein. [Pause] »In Anbetracht der Schwere der ihnen abgenötigten Straftaten hatten die Angeklagten in besonderem Maße die Pflicht, zu prüfen, ob ihnen ein anderer Ausweg als die Begehung der Straftat bliebe und sich mit allen Kräften darum zu bemühen, ihren der Befehlsausführung entgegenstehenden Willen auf einem etwaigen anderen Weg durchzusetzen. Eine Feststellung, daß die Angeklagten die hiernach erforderliche gewissenhafte Prüfung ihrer Lage und der ihnen etwa zu Gebote stehenden Möglichkeiten unterlassen hätten, ist, wie im einzelnen bereits ausgeführt wurde, nicht möglich. Der Umstand, daß der Angeklagte R. im Zusammenhang mit der Aktion M. Gegenvorstellungen gegenüber Vorgesetzten überhaupt nicht erhoben hat, und daß der Angeklagte H. bei seinen unwiderlegten Einwendungen gegenüber Hauptmann J. nicht alle ihm zu Gebote stehenden Kräfte aktiviert hat und nicht noch zusätzlich bei Major N. vorstellig geworden ist, steht bei der inneren Lage der Angeklagten der Annahme des Befehlsnotstandes nicht entgegen. Beide Angeklagten haben unwiderlegt eine stärkere, nach außen hin in Erscheinung tretende Wirksamkeit, die auf eine Entbindung von den empfangenen Befehlen hinzielte, nur deswegen nicht entfaltet, weil sie vor der zutreffenden Erkenntnis der Aussichtslosigkeit resignierten. Wer die Aussichtslosigkeit jeder Gegenvorstellung oder einer noch nachdrücklicheren Einwendung als der von ihm bereits erhobenen erkennt, ist nicht verpflichtet, solche Gegenvorstellungen und Einwendungen lediglich zum Zwecke einer besonders nachdrücklichen Demonstration seines dem Befehl entgegenstehenden Willens zu erheben. Das Recht verlangt von dem widerstrebenden Empfänger eines mit Lebensbedrohung verbundenen verbrecherischen Befehls lediglich solche Vorstellungen, die im Hinblick auf den erstrebten Zweck, dem Zwang zur Ausführung des Befehles zu entgehen, sinnvoll sind und vom dem Befehlsempfänger für sinnvoll gehalten werden. Daß die Angeklagten bei der Befehlsausführung im Rahmen ihrer tatsächlichen Möglichkeiten nicht die mildeste Form gewählt hätten oder daß sie die Möglichkeit gehabt hätten, wenn auch unter Eingehung eines zumutbaren Risikos für sich selbst, wenigstens einzelne Opfer von der Ermordung zu verschonen, konnte nicht festgestellt werden. Daß die Angeklagten Nachschüsse auf möglicherweise nicht tödlich getroffene Opfer teils selbst abgegeben haben, teils angeordnet haben, belastet sie nicht und führt insbesondere nicht dazu, daß ihnen der Entschuldigungsgrund des Befehlsnotstandes verloren ginge, weil sie mehr getan hätten, als ihnen befohlen worden sei oder was zur Abwendung der ihnen drohenden Gefahr erforderlich war.« Ende dieses Zitats.

Gegen dieses Urteil, und insbesondere wegen der Begründung des Befehlsnotstandes, hat die Staatsanwaltschaft in Freiburg Revision eingelegt. Über diese Revision hat der Bundesgerichtshof entschieden und diese Revision zurückgewiesen. Zur Frage des Befehlsnotstandes führt der 1. Strafsenat in seinem Urteil vom 14. Januar 1964, das Aktenzeichen ist 1 StR 498/63, ich stelle es gerne zur Verfügung, wenn es gewünscht wird... hat der Bundesgerichtshof in der Begründung folgendes ausgeführt: »Nach den Feststellungen des Schwurgerichts hätten auch in eindringlichster Form erhobene Gegenvorstellungen der Angeklagten bei ihren Vorgesetzten nicht den Erfolg gehabt, daß sie von der Teilnahme an der Tötungsaktion freigestellt wurden. Es hält auch für erwiesen, daß für die Angeklagten im Falle einer Befehlsverweigerung die ernste Gefahr bestand, selbst den Tod zu erleiden. Auch sonst gab es keinen gangbaren Ausweg, den sie ohne unmittelbar drohende Lebensgefahr hätten beschreiten können.


Das Schwurgericht sieht es weiterhin aufgrund einer eingehenden Beweiswürdigung als unwiderlegt an, daß für beide Angeklagte die Angst um ihr eigenes Leben der entscheidende Beweggrund für ihre Mitwirkung bei der Tat war und daß beide nach besten Kräften Möglichkeiten erwogen haben, dem Befehl aus dem Wege zu gehen. Unter diese Umständen ist die Anwendung des Paragraph 52 StGB nicht zu beanstanden. Sie hält sich an die Auslegung, die der Bundesgerichtshof gerade auch für Fälle dieser Art entwickelt hat.

Die Meinung der Staatsanwaltschaft, daß die Anwendung der Paragraphen 52, 54 zu entfallen habe, weil den Angeklagten angesichts der Ungeheuerlichkeit der Tat, insbesondere der großen Zahl der Opfer, die Preisgabe ihres Lebens zuzumuten gewesen sei, findet in der Rechtsprechung keine Stütze. Diese ist vielmehr stets davon ausgegangen und dabei geblieben, daß die Entschuldigung nicht von einer Höherwertigkeit des gefährdeten Rechtsguts abhängt und demnach auch durch die Höherwertigkeit der mit der Tat verletzten Rechtsgüter nicht ausgeschlossen wird. Die Rechtsprechung hat nach dem Gewicht der Tat vielmehr nur die Anforderungen bemessen, die an die Bemühungen des Täters um einen Ausweg aus der Gefahrenlage zu stellen sind. BGH, Band 18, Seite 311.

Auch die Meinung der Staatsanwaltschaft, die Angeklagten seien kraft ihrer besonderen Rechtsstellung als Angehörige der Polizei verpflichtet gewesen, die Gefahr zu bestehen und könnten sich aus diesem Grunde nicht auf Notstand berufen, vermag der Senat nicht zu teilen. Wo Angehörigen bestimmter Berufe wie Polizeivollzugsbeamten, Feuerwehrmännern, Seeleuten, Ärzten und Krankenpflegern die Bereitschaft zum Lebensopfer abverlangt wird, bezieht sich das immer nur auf den Bereich, der mit der jeweiligen Berufstätigkeit in notwendiger Weise verbundenen typischen Gefahren, bedeutet aber nicht, daß Angehörigen solcher Berufe über diesen Rahmen hinaus die Berufung auf die Paragraphen 52, 54 StGB versagt sein könnte.

Der Polizeivollzugsbeamte muß unter Umständen sein Leben einsetzen, wenn er an der Festnahme eines bewaffneten Verbrechers oder an der Niederschlagung eines Aufruhrs beteiligt ist. Die Lage, in der sich die Angeklagten befanden, läßt sich damit nicht vergleichen. Denn ihnen drohte die Lebensgefahr nicht im Zusammenhang mit einer weisungsgemäß vorgenommenen, im Rahmen ihrer normalen Berufsausübung liegenden Diensthandlung, sondern sie erwuchs ihnen daraus, daß sie, eine gänzlich aus dem normalen Rahmen fallende Lage, von hoher Hand zur Mitwirkung bei einem Verbrechen befohlen wurden.« Das ist die Begründung, mit der der Bundesgerichtshof das wegen Vorliegens des Befehlsnotstandes freisprechende Urteil des Freiburger Schwurgerichts bestätigt hat.

Ich komme nun zum Schluß. [Pause]

Am Ende seines Plädoyers hat der erste Nebenklägervertreter die Ansicht geäußert, daß diese Prozesse und Prozesse dieser Art so lange geführt werden müssen, als nicht der Ruf nach Schluß mit diesen Prozessen aufhöre. Auch so lange dürfe eine Verjährung nicht eintreten. Eine gänzlich neue Version für diese Probleme, deren Erfindung jeder rechtlich denkende Jurist sicherlich gerne dem ersten Nebenklägervertreter belassen wird.

Was sind das aber für Auffassungen, die mit dem geltenden Recht aber überhaupt nichts mehr zu tun haben! Lediglich Zweckmäßigkeitserwägungen sind es, wobei aber die Zweckmäßigkeit zu bestimmen der erste Nebenklägervertreter in diesem Falle auch noch für sich in Anspruch nimmt. Er scheint eben Vorgänge dieser Art nicht mit dem Maßstab des Rechts messen zu wollen.

Ich hatte Ihnen, als ich mich mit den unzutreffenden Strafanträgen der Nebenklage befaßte, vorgeschlagen, aus diesen Anträgen den Maßstab zu entnehmen, mit dem Sie die Ausführungen der Nebenklage messen sollten. Die eben behandelte Äußerung des ersten Nebenklägervertreters bestätigt diesen Maßstab erneut mit einer ganz besonderen Deutlichkeit. Es geht ihm eben nur um die Zweckmäßigkeit oder jedenfalls um das, was er als solche ansieht, auch wenn sie rechtlich nicht gedeckt ist.

Diese Prozesse müssen, so bestimmt es unser Recht, so lange geführt werden, als den Staatsanwaltschaften nicht verjährte Taten bekannt werden. Es sei denn, unser Parlament entschlösse sich zu einer Amnestie. Der Ruf, Schluß zu machen, also eine Amnestie anzuregen, wird insbesondere auch deswegen weiter ergehen, weil keiner der anderen Staaten im entferntesten daran denkt, vor seiner eigenen Tür zu kehren. Diese mangelnde Rechtsgleichheit führt zu dieser Einstellung und auch das Sehnen des deutschen Volkes, nun endlich von all dem Schrecklichen, das ihm der Nationalsozialismus und der Krieg gebracht haben, nach Ablauf einer Generation befreit zu sein. Soll etwa dieser Wunsch verwerflich sein?

Nach großen Kriegsereignissen war es immer Brauch und üblich, einen großen Strich zu ziehen. Und wenn dann der erste Nebenklägervertreter ausgeführt hat, solange noch der Ruf »Schluß mit den Prozessen!« erschalle, solange dürfe auch keine Verjährung eintreten, so ist das wieder mal ein neues, aber rechtloses Argument für eine wohl noch weitere Verlängerung der Verjährungsfristen.

Zwar hat unser Bundestag – und dafür noch hochgelobt – die Verjährungsfrist willkürlich und fundamentalen Rechtsgrundsätzen zuwider verschoben und damit verlängert, obwohl auch hervorragende Juristen in ihm vertreten sind. Leider ist bei dieser Beschlußfassung der politische Machtwille zur Wirkung gekommen, statt in reinen Fragen des Rechts nur das Recht entscheiden zu lassen. Ein Tag im Bundestag, an dem der Blick für das unwandelbare Recht in erheblichem Maße getrübt war. Es gibt aber – und wie ich sage, Gott sei Dank – noch Richter in Karlsruhe.