Der Düsseldorfer Majdanek-Prozess

Am 15. November 1974 erhob die Kölner Staatsanwaltschaft durch Staatsanwalt Wolfgang Weber vor dem Landgericht Düsseldorf Anklage gegen zehn Angehörige der Wachmannschaft im Konzentrationslager Lublin-Majdanek wegen Mordes und Beihilfe zum Mord (ZSt Köln 130 Js 200/62 [Z]). Gegenstand der Klagsschrift waren sowohl die in Majdanek gemeinschaftlich begangenen Massenverbrechen als auch zahlreiche Einzeltaten durch folgende Personen:
Hermann Hackmann, geb. 11.11.1913, ehem. SS-Hauptsturmführer, Beruf: kaufmännischer Angestellter
Günther Konietzny, geb. 30.9.1918, ehem. SS-Unterscharführer, Beruf: Rentner
Hildegard Lächert, geb. 19.3.1920, ehem. Aufseherin, Beruf: Hilfsarbeiterin
Alice Orlowski, geb. Elling, geb. 30.9.1903, ehem. Aufseherin, Beruf: Sozialrentnerin
Wilhelm Reinartz, geb. 17.3.1910, ehem. SS-Unterscharführer, Beruf: Krankenpfleger
Hermine Ryan, geb. Braunsteiner, geb. 16.7.1919, ehem. SS-Aufseherin, Beruf: Hausfrau
Rosa Süß, geb. Reischl, geb. 16.9.1920, ehem. Aufseherin, Beruf: Kontrolleurin
Thomas Ellwanger, geb. 3.3.1917, ehem. SS-Unterscharführer, Beruf: Materialprüfer
Charlotte Mayer, geb. Wöllert, ehem. Aufseherin, Beruf: Hausfrau
Heinrich Schmidt, geb. 27.3.1912, ehem. SS-Hauptsturmführer, Beruf: praktischer Arzt

Gegen weitere sieben Personen liefen die Ermittlungen weiter, bis Staatsanwalt Weber am 11. Juli 1975 (ZSt Köln 130 [24] Js 200/62) auch gegen sie Anklage erheben konnte:
Heinrich Groffmann, geb. 19.5.1920, ehem. SS-Unterscharführer, Beruf: Hausmeister
Heinrich Petrick, geb. 22.1.1913, ehem. SS-Oberscharführer, Beruf: Kassenverwalter
Heinz Villain, geb. 1.2.1921, ehem. SS-Unterscharführer, Beruf: Vorarbeiter
Hermine Böttcher, geb. Brückner, geb. 26.4.1918, ehem. Aufseherin, Beruf: Hausfrau
Emil Laurich, geb. 21.5.1921, ehem. SS-Rottenführer, Beruf: Kaufmann
Robert Seitz, geb. 14.1.1911, ehem. SS-Unterscharführer, Beruf: Rentner
Arnold Strippel,, geb. 2.6.1911, ehem. SS-Oberscharführer, Beruf: Fakturist

Am 26. November 1975 eröffnete Richter Günther Bogen die Hauptverhandlung am Landgericht Düsseldorf. Mit 474 Verhandlungstagen stellt sie den längsten Strafprozess der deutschen Rechtsgeschichte dar. Unter den 350 Zeuginnen und Zeugen befanden sich auch 215 ehemalige Häftlinge. Grund für die lange Dauer war neben der Fülle an zu vernehmenden ZeugInnen u.a. die Verzögerungstaktik einer Reihe von Verteidigern, die teilweise dem rechtsradikalen Milieu zuzuordnen waren und dem Gericht sowie dem historischen Sachverständigen Wolfgang Scheffler Befangenheit unterstellten, sowie die Berufung einiger Angeklagter auf Verhandlungsunfähigkeit, die immer wieder neue medizinische Gutachten erforderten.

Am 19. April 1979 ergingen nach vorangegangener Ausscheidung aus dem Verfahren die ersten Urteile, nämlich Freisprüche für die Angeklagten Rosa Süss, Charlotte Mayer, Hermine Böttcher und Heinrich Schmidt.
Das Ergebnis der Beweisaufnahme konnte laut Urteilsbegründung die Anklagepunkte nicht mit der zu einer Verurteilung ausreichenden Sicherheit bestätigen. Die Schwierigkeiten in der Beweisführung lagen demnach beim Alter der ZeugInnen, dass manche/r Belastungszeugin/Belastungszeuge mittlerweile verstorben war, dass sich die ZeugInnen teilweise widersprochen hatten, an der Länge der Hauptverhandlung und dass sich die Angeklagten nicht mehr genau erinnern konnten. Außerdem wurden die drei Frauen von einigen ZeugInnen als nicht ganz so unmenschlich, teilweise sogar als hilfsbereit bezeichnet. Böttcher beispielsweise hatte von den Häftlingsfrauen den Spitznamen „Perlchen„ bekommen. Staatsanwalt Ambach betonte in seinem Schlussplädoyer, dass die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung zwar die angelasteten Mordtaten nicht mit der Sicherheit nachweisen konnte, die für eine Verurteilung in einem rechtsstaatlichen Verfahren erforderlich sei, aber „Sie selbst […] werden wissen, inwieweit Sie in das Unrecht verstrickt gewesen sind„.7 Und auch Richter Bogen stellte im Urteil fest, dass der Freispruch nicht bedeuten würde, dass die drei ehemaligen Aufseherinnen niemals misshandelt hätten, sondern dass sie „nur nicht gar so grausam waren wie die anderen„.

Am 30.6.1981 verkündete der Vorsitzende das Urteil gegen die verbliebenen Angeklagten.
Urteilsausmaß (jeweils unter Freisprechung von allen weiteren Anklagepunkten): Hermine Ryan: lebenslange Freiheitsstrafe wegen gemeinschaftlichen Mords in zwei Fällen (Beteiligung an einer Selektion von mindestens 80 weiblichen jüdischen Häftlingen im Mai 1943 auf dem Appellplatz des Feldes V, Teilnahme an einer „Kinderaktion„ im Frühjahr 1943 im Feld und einer weiteren Kinderaktion im Sommer 1943)

Hildegard Lächert: Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord in zwei Fällen (Beteiligung an der Selektion von mindestens 80 weiblichen jüdischen Häftlingen im Mai 1943 auf dem Appellplatz des Feldes V, Teilnahme an einer „Kinderaktion„ im Frühjahr 1943 im Feld V)

Hermann Hackmann: Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord in zwei Fällen (Teilnahme an der „Fleckfieberaktion„, Mitwirkung an der nächtlichen Erschießung der 41 auf Feld II zurückgebliebenen sowjetischen Kriegsgefangenen)

Emil Laurich: Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord in fünf Fällen (Mitwirkung an der gruppenweisen Erschießung von Männern, Frauen und Kindern in der Nähe des so genannten neuen Krematoriums bei fünf Exekutionen)

Heinz Villain: Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord in zwei Fällen (Tötung von zwei jungen jüdischen Häftlingen, Beteiligung an der Aktion „Erntefest„)

Heinz Petrick: Freiheitsstrafe von vier Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord (Mitwirkung an der nächtlichen Erschießung der 41 auf Feld II zurückgebliebenen sowjetischen Kriegsgefangenen)

Arnold Strippel: Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord (Mitwirkung an der nächtlichen Erschießung der 41 auf Feld II zurückgebliebenen sowjetischen Kriegsgefangenen)

Thomas Ellwanger: Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord (Teilnahme an der „Fleckfieberaktion„)

Heinrich Groffmann: Freispruch

Urteil LG Düsseldorf (8 Ks 1/75) v. 19.4.1979 (Landesarchiv Nordrhein-Westfalen / Abteilung Rheinland, Staatsanwaltschaft Düsseldorf, Gerichte Rep. 0432/402)

NS-Verfahren Von einer, die das Blut liebte

Düsseldorfer Landgericht
Die Angeklagte
Hildegard Lächert im Maidanek-Prozeß

In diesem Prozeß ist alles schon passiert: Der Vorsitzende der 17. Großen Strafkammer am Düsseldorfer Landgericht brach zusammen (Kreislaufkollaps), in Ersatzrichter lag mit Bandscheibenschaden wochenlang im Krankenhaus, eine Angeklagte und ein Ersatzschöffe sind inzwischen verstorben, ein Verteidiger legte sein Mandat nieder, weil ihm der Ausschluß drohte, Angeklagte und Zeugen kollabierten, aus dem Hauptverfahren mußten Einzelverfahren wegen Erkrankung abgetrennt werden, manchmal hatte das Gericht nach Ablehnungsanträgen der Anwälte stundenlang über sich selber zu verhandeln. Nichts, so scheint es, ist in diesem Verfahren wegen Mord und Mordbeihilfe im Vernichtungslager Maidanek-Lublin unmöglich — nicht einmal die quälende Prognose, daß in diesem seit vier Jahren geführten und daher bisher längsten NS Prozeß vielleicht keine Urteile mehr gefällt, zumindest die doch noch Verurteilten ihres Alters oder ihrer Gebrechen wegen die Strafe nicht antreten oder verbüßen können. Dieser Monsterprozeß ist auch ein Musterprozeß: Wie kann, über dreißig Jahre nach verbrecherischen Taten, Recht gefunden und Recht gesprochen werden? Gibt es vielleicht sogar eine Gerechtigkeit, die ungewollt ungerecht ist?
Das Verfahren gegen Hackmann und andere", der Maidanek Prozeß, wird auch in seinem fünften Jahr fortgesetzt, auch nach jenem 380. Verhandlungstag, an dem sich dieses zutrug: Seit zwanzig Minuten liest der historische Sachverständige — er ist zum drittenmal im Gerichtssaal — aus dem Schlußteil seines Gutachtens vor. Da hebt der Verteidiger der Angeklagten Hildegard Lächert den Finger. Seiner Mandantin sei unwohL Landesmedizinaldirektor Hindringer, der wichtigste Prozeßbeteiligte, stellt fest: Die Angeklagte sei vorläufig nicht mehr verhandlungsfähig. Der Vorsitzende Richter unterbricht das Verfahren für eine Stunde.
Nach Ablauf der Pause wird dem Gericht mitgeteilt: Die Angeklagte Lächert mußte eilends ins Krankenhaus transportiert werden; sie habe Symptome eines Herzinfarktes und könne mehrere Tage nicht am Prozeß teilnehmen. Die Ankläger stellen den Antrag, das Verfahren gegen die Erkrankte abzutrennen, um mit dem historischen Gutachten und der Zeugenbefragung fortfahren zu können. Das Gericht legt eine weitere Pause ein, um zu beraten. Dann lehnt es den Antrag ab. Der Haftbefehl gegen Hildegard Lächert indessen wird auf Vorschlag der Staatsanwälte für die Zeit des Krankenhausaufenthaltes „außer Vollzug gesetzt".
Es ist inzwischen kurz vor elf. Für diesen Zeitpunkt ist die Fortsetzung der Befragung von Helena Kurcusz vorgesehen, einer 65jährigen polnischen Zeugin. Sie war jahrelang Opfer in Maidanek, überlebte als Architektin, die für den Bau von Wegen und Kanälen zuständig war, hat viel gesehen, war schon einmal vergeblich in Düsseldorf gewesen — die Protokolle ihrer Aussagen vor einem polnischen Gericht waren nicht rechtzeitig eingetroffen — und hatte einen Tag zuvor bei der Gegenüberstellung mit den Angeklagten im Gerichtssaal einen Nervenzusammenbruch erlitten Über Hildegard Lächert, die im Lager den Schreckensnamen „blutige Brigida" trug, hatte sie ausgesagt: „Sie ist immer erst zufrieden gewesen, wenn bei ihren Schlägen unc Tritten (mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln) Blut floß Ein weibliches Opfer sei von ihr blutig geschlagen worden, weil es sich gegen die Kälte Zeitungspapier unter das dünne Häftlingskleid gesteckt hatte. An diesem 380. Verhandlungstag sollte die Zeugin weiter über Hildegard Lächert aussagen.
Der Vorsitzende Richter erklärt ihr, was in der Zwischenzeit vorgefallen war und fragt Helena Kurcusz, ob sie bereit wäre, zu einem anderen Termin ein drittes Mal nach Düsseldorf zu kommen. Sie nickt zustimmend mit dem Kopf. Die Ankläger stellen daraufhin den Antrag, die Zeugin beim nächsten Befragungstermin des Gerichts in Polen vorzuladen, um ihr die Strapazen einer neuen Reise zu ersparen. Wieder zieht sich das Gericht zur Beratung zurück, wieder wird der Vorschlag abgewiesen. Und wieder wird der Prozeß vertagt. Die Zahl der Unterbrechungen und Vertagungen dieses Prozesses läßt sich nur noch schätzen.
Die eine Gruppe der Angeklagten fährt nach Hause, die andere wird in die Untersuchungshaftanstalt gebracht. Die Schöffen eilen zum Mittagessen, die Verteidiger in ihre Kanzleien. Als die Staatsanwälte das Gerichtsgebäude verlassen, trauen sie ihren Augen nicht: Ober den Hof geht, in Begleitung von zwei Wachtmeistern, Hildegard Lächert. Die Ärzte im Krankenhaus wollten sie nicht weiter behandeln; ihre Symptome seien nicht bedrohlich, hieß es. Sofort wird der Haftbefehl erneuert. Der Prozeß indessen kann an diesem Tag nicht fortgeführt werden. Die Angeklagte v ird in das Bochumer Gefängnishospital eingeliefert.
Schon wenige Tage nach Beginn dieses Prozesses hatte Simon Wiesenthal von einem „Zirkus" gesprochen. Ein anderer Kritiker hatte das umständliche, zeitraubende Verfahren als „Tragofarce" bezeichnet.
Hat die Angeklagte Hildegard Lächert ihren Schwächeanfall simuliert? Dafür fehlen die Indizien. Hat sie sich in den Zustand eines nahenden Kollapses hineingesteigert? Dafür spräche ihre berechtigte Furcht, von der polnischen Zeugin noch stärker belastet zu werden. Es war nicht das erstemal, daß eine der Angeklagten in diesem Verfahren unter der Last dtr Beschuldigungen zusammenbrach, es war auch bei Hildegard Lächert nicht das erstemal.
Sie ist eine der Hauptangeklagten und muß mit „Lebenslänglich" rechnen. Die heute 59jährige Hilfsarbeiterin aus Heidelberg, die in einem Bordell auch als Putzfrau angestellt gewesen war, zwei uneheliche Kinder hat und letztes Jahr von ihren Gesinnungsfreunden der „Aktionsgerneinschaft Nationales Europa" auf Platz 4 der Liste dieser rechtsradikalen Gruppe zur Europawahl gesetzt worden war, ist verdächtig, in mindestens 1196 Fällen Mordbeihilfe geleistet zu haben. Sie war bei Selektionen aktiv, führte Opfer zur Vergasung, beteiligte sich an „Kinderaktionen" (wobei sie die Kinder mit Zuckerstücken auf Lastwagen gelockt haben soll, die zu den Gaskammern fuhren). Jeder kannte die „blutige Brigida", jeder hatte Todesangst vor dieser damals „stattlichen jungen Frau", deren Hände, Stiefel und Augen bis heute keiner der Überlebenden vergessen konnte „Sie liebte Blut", erinnerte sich eine Zeugin; eine andere sagte über sie mit zitternder Stimme: „Auf der ganzen Welt gab es keinen schlimmeren Menschen Am 7. März 1978, dem 243. Verhandlungstag, gab Lore Schadur aus Tel Aviv zu Protokoll: „Sie war eine schlimme Frau. Die Peitsche war ihr in die Hand gewachsen Heute beklagt diese Frau, die eine Furie war, ihr Schicksal: „Ich konnte doch damals nicht anders "
Wenn das so weiter geht vor der 17. Großen Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichts, dann kann vielleicht 1981 mit den Urteilen gerechnet werden, dann ist die „blutige Brigida " Hildegard Lächert, eine der Jüngsten unter den Angeklagten, sechzig Jahre alt — dann ist sie vielleicht so schwach und krank, daß sie in keiner Zelle mehr büßen muß. War das dann der Sinn dieses aufwendigen, zeit- und kraftraubenden Prozesses? War sonst nichts gewesen, außer Pausen und Prozeduren? Es war dann, trotz allem, ein Stück grausamer Geschichte geschrieben worden. Es war versucht worden, Gerechtigkeit zu üben. Es war versucht worden.