Die Tat

Oppenheim, Mitte März 1945
Unmittelbar vor Ende des 2. Weltkrieges, etwa Mitte März 1945, gab es für die Deutsche Wehrmacht die Alarmstufe II. In Oppenheim wurde zu dieser Zeit ein Gefechtsstand eingerichtet. Kampfkommandant dieser Einrichtung war Hauptmann Hanske. Er erhielt auch die Befehlsgewalt über die Wehrmachtsverbände und den Volkssturm. Gleichzeitig war an der Fähre zum Kornsand eine Auffangstelle eingerichtet. Militär- und Zivilpersonen durften nur noch mit Genehmigung dieser Dienststelle über den Rhein setzen. Zu seinem Stab gehörten auch die Leutnante Kaiser, Wesemann und Funk. Funk hatte den Befehl, neu zugeführte sowie zurückweichende Soldaten zu sammeln und den am Brückenkopf am Kornsand eingesetzten Einheiten zuzuordnen.

17.03.1945

der Haftbefehl
Am 17. März 1945 mußte auf Befehl von Hauptmann Hanske ein Arbeitskommando, ausschließlich aus politischen Gegnern der Nationalsozialisten, zusammengestellt werden. Diese sollten für Schanzarbeiten auf der rechten Rheinseite eingesetzt werden. In einem entsprechenden schriftlichen Befehl waren folgende Personen namentlich benannt: Johann Eller, Cerry Eller, Georg Eberhardt, Jakob Schuch, Nikolaus Lerch, Ludwig Ebling, Andreas Licht, Philipp Spieß. Cerry (Caroline) Eller wurde von den Nationalsozialisten als Jüdin eingestuft. Nach ihrer Hochzeit mit Johann Eller war sie zum evangelischen Glauben konvertiert. Die fünf Kinder waren evangelisch getauft.

Der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Nierstein, Georg Ludwig Bittel, erhielt den entsprechenden Befehl und eine Namensliste sowie den Auftrag, weitere missliebige Personen ausfindig zu machen. Bittel eröffnete Bürgermeister Strub, Gemeindesekretär Lerch und dem stellvertretenden Ortsgruppenleiter Lobmüller, bei einer Einschließung des Ortes die "unruhigen Elemente" aus Sicherheitsgründen über den Rhein zu schaffen. Gleichzeitig soll er sich noch für weitere Verhaftungen für einen Arbeitseinsatz auf der rechten Rheinseite ausgesprochen haben. Bittel prüfte - offenbar zur Feststellung der genauen Anschriften der zu Verhaftenden - eine entsprechendes Adressbuch. Als die anderen sich gegen diese Maßnahme aussprachen, ließ Bittel von diesem Thema.

18.03.1945

die Verhaftung
Am Nachmittag des 18. März 1945 wurde Johann Eller, Cerry Eller, Georg Eberhardt, Jakob Schuch, Nikolaus Lerch und Ludwig Ebling von Sonderkommandos verhaftet und zur Bürgermeisterei gebracht. Als Andreas Licht verhaftet werden sollte, erwirkte sein Sohn Hans über Dr. Zimmermann, der für das Sanitätswesen in Nierstein zuständig war, bei dem Kampfkommandanten eine Haftverschonung. Auch Philipp Spieß konnte offensichtlich rechtzeitig gewarnt werden und entging so seiner Verhaftung.

Gegen 18.00 Uhr wurden die anderen Verhafteten durch acht bewaffnete Angehörige einer politischen Staffel zur Fähre und über den Rhein gebracht. Mit Militärlastwagen wurden die Niersteiner und die Bewacher nach Wolfskehlen gefahren. Von hier aus ging es zu Fuß nach Groß-Gerau. Dort erfolgte eine Überstellung an die Kreisleitung. Da man sich mit den Verhafteten nicht befassen wollte, schob man sie zur Polizeiwache Groß-Gerau ab. Hier wurde ihnen auf entsprechende Fragen geantwortet, dass sie, da sie Kommunisten seien, jetzt Polizeigefangene wären. In zwei Zellen untergebracht, blieben sie bis zum 20. März 1945.

Unter bewaffneter Aufsicht ging es zu Fuß von Groß-Gerau nach Darmstadt. Sie wurden an die Gestapo überstellt, vernommen in ein Gefängnis gebracht, wo sie die Nacht verbringen mußten. Der vernehmende Beamte zuvor erklärte, sie wären wegen Aufwiegelei verhaftet.

21.03.1945

die Freilassung
Am Morgen des 21. März 1945 wurden die Verhafteten mit der Bemerkung "ihr seid frei und könnt nach Hause zu euren Familien gehen" wieder entlassen. Ein Entlassungsschein wurde nicht ausgestellt.


am Kornsand
An diesem Morgen kam Hauptmann Hanske auf den Kornsand. Bei einer dort durchgeführten Besprechung mit den Offizieren seines Stabes erhält Leutnant Funk von ihm den Befehl, den Fährbetrieb über den Rhein zu leiten. Funk wurde auch befohlen, die Fähre beim Anrücken des Feindes zu sprengen. Außerdem wurde er auf die Annäherung freigelassener Personen aus Nierstein informiert. Ausdrücklich sollte er diese auf keinen Fall auf die andere Uferseite lassen. Später traf Funk Leutnant Kaiser dem er mitteilte, dass er die angekündigten Niersteiner kenne und diesen aufgrund ihres früheren politischen Agierens alles zutraue.

Funke traf gleichfalls auf Leutnant Alfred Schniering. Dieser hatte ursprünglich als Mitarbeiter des Reichsverteidigungskommissars West in Frankfurt politische Staffeln aus Amtsleitern der Partei und ihrer Gliederungen zusammengestellt. Schniering kam Mitte März in Oppenheim an und wollte sich Hauptmann Hanske unterstellen. Dieser lehnte dies jedoch ab, da Schniering nicht mehr im Wehrverhältnis stand. Er verwies ihn an den Bataillonsführer des Oppenheimer Volkssturms. Schniering übernahm deshalb am 20. März 1945 die Ortsgruppe Oppenheim. Seinen Volkssturmleuten teilte er mit, er sei der Stellvertreter des Gauleiters und führe das Kommando auf dem Kornsand. Er sei der letzte Mann in brauner Uniform und habe das Standrecht.

Etwa sechs Kilometer vor dem Kornsand wurden die Niersteiner von Georg Ludwig Bittel, der mit einem Offizier in seinem Fahrzeug, von Goddelau kam, überholt. Er sah die Freigelassenen, hielt aber nicht an. Ihm erzählte er die Hintergründe über die Niersteiner. Der Soldat gab Bittel den Auftrag, den Kampfkommandanten Hanske und Leutnant Funk über die bevorstehende Ankunft der Gruppe zu unterrichten. Bittel brauchte diesen Auftrag allerdings nicht auszuführen. Der Offizier tat dies doch selber.

Eintreffen der Freigelassenen am Kornsand
Gegen 11.00 Uhr trafen die freigelassenen Niersteiner Bürger erschöpft auf dem Kornsand ein. Sie hatten für ihren Rückweg von Darmstadt zuerst die Straßenbahn bis Griesheim benutzt. Zwei andere kürzere Teilstrecken wurden sie von vorbeikommenden Fahrzeugen mitgenommen. Den längsten Teil der Strecke mußten sie jedoch laufen. Cerry Eller konnte sich deshalb kaum noch weiter bewegen, sie hatte sich die Füße wund gelaufen.

An der Fähre erfuhr die Gruppe, dass der Fährbetrieb ausschließlich nur für militärische Aufgaben gedacht war. Sie versuchten mit einem in der Nähe liegenden Nachen über den Rhein zu setzen. Leutnant Kaiser hatte hierzu schon die Erlaubnis gegeben. Leutnant Funk, der dazutrat, wies Kaiser allerdings darauf hin, dass diese Leute "die größten politischen Verbrecher von Nierstein" seien. Sie mußten deshalb den Nachen verlassen. Sie gingen erneut auf die Fähre, um vielleicht doch noch überzusetzen zu können. Funk ging mit in Richtung Fähre. Dabei kam es zu einem kurzen Gespräch zwischen Funk und Schuch. Dieser fragte Funk, ob die Fähre denn nicht mehr fahre. Funk antwortete, er wisse es nicht.

Ludwig Ebling aus der Gruppe erhielt von einem Martin Markloff aus Nierstein dessen SA-Ausweis und machte sich auf der dem Oppenheimer Ufer zugekehrten Seite der Fähre hinter dem Wetterhäuschen zu schaffen, während die übrigen Personen in dem Häuschen selbst Schutz suchten.

Funk wies Schniering erneut auf die Gruppe hin und sagte, dass er die Personen auf keinen Fall übersetzen werde. Er betitelte die Gruppe als "unsere größten Stromer".

die erneute Verhaftung
Die Fähre wurde an diesem Tag auch von einem Soldaten gefahren. Dieser wollte die Niersteiner an das andere Rheinufer bringen. Leutnant Funk rief in Richtung des Oberfeldwebels und Schniering "Die dürfen nicht hinüber, das sind Kommunisten, wenn die rüber kommen, bringen sie unsere Eltern um, ich bin selbst von Nierstein". Schniering reagierte sofort mit den Worten: "Raus, die werden erschossen!".

Schniering gab einigen Volkssturmmännern noch den Befehl, die Männer zu verhaften.

Johann Eller, Georg Eberhardt, Jakob Schuch und Nikolaus Lerch wurden deshalb erneut in Haft genommen und in die Wirtschaft Wehner gebracht. Auch Cerry Eller wurde später ebenfalls in diese Wirtschaft gebracht. Ludwig Ebling wurde Gott sei Dank übersehen und konnte später mit der Fähre zum anderen Rheinufer gelangen.
Schniering verhörte die "Verhafteten", nahm ihnen die persönlichen Gegenstände ab und erklärte, sie würden erschossen. Er hielt ihnen vor, sie hätten "gesessen" und seien zudem Kommunisten. Einwände und Hinweise der Verhafteten, dass sie von der Gestapo in Darmstadt in ihren Heimatort entlassen wurden, fanden kein Gehör.

Die Verhaftung von Rudolf Gruber
Kurz nach dem Verhör traf Schniering auf den Volkssturmmann Rudolf Gruber aus Oppenheim. Dieser war am gleichen Morgen mit seinem Trupp in der Nähe in Stellung gegangen. Gruber, der natürlich keinen Urlaubsschein hatte, gab an, seinen von ihm in einem Gasthof vergessenen Rucksack von der anderen Rheinseite holen zu wollen. Schniering erklärte Gruber, dass er Fahnenflucht begehe habe und er deswegen erschossen wird. Auch er wurde zu den Niersteinern auf den Hof der Wirtschaft gebracht. Schniering beauftragte nun den Volkssturmmann Jertz, die Richtigkeit der Angaben Grubers zu prüfen. Er wiederum teilte zu einem späteren Zeitpunkt Schniering mit, dass tatsächlich bei einem Oppenheimer Gastwirt drei Rucksäcke gelegen hätten, aber in der Zwischenzeit weg waren. Schniering erklärte Jertz, Gruber habe ihm zwischenzeitlich die Fahnenflucht eingestanden.

Schniering unterhielt sich umgehend mit Kaiser über die Exekution der Opfer. Nachdem Kaiser die Wirtschaft verlassen hatte und Schniering einige Zeit sitzend an einem Tisch geschlafen hatte, verlangte jetzt nach Spaten. Dann versuchte er vergeblich, Leute des Volkssturms und Männer einer politischen Staffel zu überreden, die Erschießung durchzuführen.

Gegen 14.00 Uhr gab Schniering den Befehl, die Opfer in die etwa 800 Meter entfernte Stellung eines 3,7cm Flakzuges zu bringen. An einem Ort, ca. 100 Meter östlich dieser Flakstellung, mussten die Gefangenen aus Nierstein und der Gefangene aus Oppenheim unter Bewachung ihre Gräber ausschaufeln. Nach Beendigung dieser Arbeit wies Schnierung den vorher mit der Bewachung beauftragten Volkssturmmann an, die Opfer zu erschießen. Dieser lehnte jedoch ab. Deshalb gingen sie zurück zur Flakstellung. Nun waren die Gefangenen für einige Minuten unbewacht. Schniering wies den Flakzugführer Ertl an, seine Einheit antreten zu lassen. Diese und der zur Bewachung des Geschützes zurückgebliebene Soldat weigerte sich ebenfalls, die Exekution durchzuführen.

Auch Leutnant Kaiser und Leutnant Wesemann waren zu diesem Zeitpunkt bei Schniering. Diese berieten die Situation. Auch Wesemann lehnte es ab, eine Erschießung persönlich vorzunehmen.

die Ermordung
Am 21. März 1945, einem sonnigen Mittwoch, erklärte Kaiser sich dann bereit, die Erschießung durchzuführen. Er ging allein zu den an den Gräbern stehenden Gefangenen und tötete sie durch Genickschuß. Bevor er Cerry Eller erschoß, gestattete er ihr noch einen letzten Blick über den Rhein zu ihrem Heimatort Nierstein.

Russische Hilfswillige des Flakzuges mussten die Gräber dann zuschaufeln.

die Kapitulation von Oppenheim/Nierstein
Am gleichen Tag wurde am Kornsand die Fähre gesprengt.

Die Bewohner von Nierstein hißten auf dem Kirchturm die weiße Fahne. Auf Befehl von Schniering beschoß die deutsche Flak den Ort. Kurz danach fahren amerikanische Infanteristen durch das Oppenheimer Gautor.

Wie sich später herausstellte, wurden vor ihrer Ermordung Johann Eller, Jakob Schuch und Nikolaus Lerch körperlich misshandelt.

Opfer

Georg Eberhardt
Georg Eberhardt wurde am 21. Mai 1886 in Dexheim geboren. Er wuchs in der Hauptstraße der kleinen Gemeinde auf, absolvierte die Volksschule und ging einer geregelten Arbeit nach. Unter Freunden und Bekannten galt er als ruhiger und stiller Mann, der mit allen Menschen gut auskam.
Aber auch er litt unter den Wirtschaftsproblemen seiner Zeit und schloss sich 1924 mit großen Erwartungen der rheinhessischen Auswanderergruppe nach Brasilien an. Nach zwei Jahren harten Lebens im Urwald kehrte er mit seiner Frau und seiner Tochter Helene zurück. Er wohnte jetzt in Nierstein und fand Arbeit in der Nackenheimer Kapselfabrik.
1931 schloss er sich der KPD an. Auch er wurde verhaftet und ins KZ Osthofen geschafft. Wegen Fortsetzung der Arbeit in der verbotenen KPD wurde er zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, die er in Butzbach verbringen mußte. Nach seiner Entlassung fand er Arbeit bei Opel in Rüsselsheim und blieb dort bis zum Kriegsende.

Am 18. März 1945 stand er auf der Todesliste der Nazis.
Am 21. März 1945 wurde er in Sichtweite seiner Heimat auf dem Kornsand ermordet.

Cerry und Johann Eller

Caroline (Cerry) Hirsch wurde am 18. April 1891 in Chicago geboren. Nach der Rückkehr aus den USA betrieb ihr Vater, Herrmann Hirsch, in der Oppenheimer Vorstadt einen Altwarenhandel.
1911 heiratete sie den Schwabsburger Johann Eller II. (geboren am 30.1.1888) und trat zum evangelischen Glauben über.
Ihr Mann Johann, der wie sie aus einfachen Verhältnissen kam, war von Beruf Maurer. In Nierstein begann das Ehepaar ebenfalls einen Altwarenhandel. Doch die wirtschaftlichen Verhältnisse waren hart. Als im Jahr 1923 im rheinhessischen Raum deutsch-brasilianische Grundstücksagenten auftauchten und von der verlockenden Welt Südamerikas berichteten, waren die Ellers begeistert. Endlich ein Entrinnen aus dem von Wirtschaftskrisen geschüttelten Deutschland!
Sie verkauften ihr bescheidenes Geschäft und setzten alles auf eine Karte. Zusammen mit über zwanzig Familien aus Bodenheim, Dexheim, Nackenheim, Nierstein, Oppenheim und Schwabsburg brachen sie im Februar 1924 in der Hoffnung auf ein besseres Leben per Schiff nach Brasilien auf. Unter den Mitreisenden befanden sich auch die Familien der später ermordeten Freunde Jakob Schuch und Georg Eberhardt.
Aber schon in Rio de Janeiro mussten die Auswanderer erkennen, dass man sie betrogen hatte. Das versprochene Land wurde nicht zugeteilt. Außerdem gab es Schwierigkeiten mit den Einwanderungsbehörden. Das Ehepaar Eller mit seinen fünf Kindern stand, wie alle anderen, vor einem Nichts. Dennoch ließen sich die Auswanderer nicht entmutigen. Im Landes-innern rodeten sie den Urwald und legten eine kleine Kolonie an, die ihren Lebensunterhalt notdürftig sichern konnte. Tropenkrankheiten und Entbehrungen zwangen die Rheinhessen schließlich doch zur Aufgabe. Als eine der letzten Familien kehrten die Ellers im Dezember 1925 in ihre Heimat zurück und nahmen ihr altes Geschäft wieder auf. Noch hatte die Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt nicht erreicht, aber in Deutschland begannen sich die politischen Kräfte zu polarisieren.

Johann Eller, 1907 Mitbegründer des Schwabsburger Sozialdemokratischen Wahl Vereins, machte auch jetzt keinen Hehl aus seiner Gesinnung. Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten 1933 setzte der Terror gegen die "nicht-arische" Familie Eller ein. Ihr Geschäft wurde geschlossen, die SA machte überfallartige "Haussuchungen". Während man den ehemaligen stellvertretenden Feuerwehrkommandanten Johann Eller vom öffentlichen Leben ausschloss, waren seine Kinder als Kanonenfutter willkommen. Der älteste Sohn Hans fiel schon zu Beginn des Krieges in Frankreich, zwei weitere Söhne waren eingezogen.

Der mutige Eller nahm auch jetzt kein Blatt vor den Mund. Wo er nur konnte, wies er darauf hin, dass die großen "Kämpfer" der NSDAP alle noch zu Hause waren, seine Söhne aber an der Front standen. NS-Ortsgruppenleiter Bittel, der wegen seiner "Wehruntauglichkeit" Nierstein nie verließ, erklärte nach Ellers Verhaftung 1945: "Der Eller war schon immer ein frecher Mensch."

Auch die Familie Cerry Ellers hatte grausam unter dem Faschismus zu leiden. Ludwig Hirsch, Cerrys Bruder, wurde zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern abgeholt. Der eine Sohn starb nach brutalen Misshandlungen auf dem Transport in Frankfurt. Die anderen Familienmitglieder wurden ins KZ Theresienstadt verschleppt und später in einem Vernichtungslager vergast.

Am 21. März 1945 wurde sie in Sichtweite ihrer Heimat auf dem Kornsand ermordet.

Nikolaus Lerch
Nikolaus Lerch wurde am 16. März 1891 in Nierstein geboren. Er wuchs in seiner Heimatgemeinde auf, der er bis zu seinem gewaltsamen Tod treu blieb.
Nach dem Schulabschluss erlernte er den Beruf des Schiffers. Seine Fahrten führten ihn auch ins Ausland und vermittelten ihm täglich Kontakte mit fremden Menschen, mit neuen und unterschiedlichen Ideen, für die er aufgeschlossen war. So kam er auch mit der marxistischen Weltanschauung in Berührung.
Schon früh trat er der KPD bei und wurde deshalb am 3. April 1933 zusammen mit Andreas Licht und Philipp Spiess, die dem Kornsand-Massaker entkommen konnten, verhaftet. Sie gehörten zur ersten Gruppe von Niersteinern, die in das KZ Osthofen eingesperrt wurden.
Über seinen weiteren Lebensweg ist wenig bekannt.

Am 21. März 1945 wurde er in Sichtweite seiner Heimat auf dem Kornsand ermordet.

Rudolf Gruber
Als Uhrmachermeister in der Oppenheimer Krämerstraße war Rudolf Gruber ein angesehener Mann. Während der Nazizeit trat er politisch nicht in Erscheinung. Auch er freute sich im März 1945, dass der Krieg bald ein Ende haben würde. Dennoch wurde er zum Volkssturm eingezogen.
Etwa fünfzig Mann sollten auf der rechten Rheinseite die Panzersperren bewachen und neue Gräben ausheben. Sie standen unter der Leitung des Bataillonskommandeurs des Volkssturms Albert Nohl und seines Adjutanten Dr. Friedrich Horst. Wie die anderen militärischen Kräfte waren alle Volkssturmleute dem Kampfkommandanten des Brückenkopfes, Hanske, unterstellt. Wegen der Verwendung des Volkssturmes kam es vor dem Rathaus zwischen dem Oppenheimer Bürgermeister Dr. Scheller und dem kommandierenden General Runge zu einer scharfen Auseinandersetzung. Dr. Scheller bezeichnete die Verteidigung des Brückenkopfes als militärischen Unfug, der nur unnötiges Blutvergießen und gegebenenfalls die Zerstörung der Stadt bedeute. Er verbot den Einsatz der Oppenheimer Feuerwehr auf dem rechten Rheinufer und weigerte sich, die Frauen und Kinder dorthin zu evakuieren.
Viele Volkssturmleute sahen die Lage ebenso und wollten kurz vor Kriegsschluss nicht noch in einem Himmelfahrtskommando verheizt werden. In Höhe des Oppenheimer Strandbades kehrten die Dexheimer Hans Immel und Johann Wiegel über den Rhein zurück. Drei andere schlugen sich über Mannheim durch. Auch unter den Oppenheimern war Gruber nicht der einzige, der sich absetzen wollte.
An Gruber statuierte Schniering ein Exempel - für den "Endsieg", an den keiner mehr glaubte. "Wegen Feigheit vor dem Feind erschossen", ließ Schniering nach Grubers Ermordung in dessen Soldbuch eintragen.

Am 21. März 1945 wurde er in Sichtweite seiner Heimat auf dem Kornsand ermordet.

Jakob Schuch
Jakob Schuch wurde am 20. April 1888 in Nierstein geboren. Er besuchte die dortige Volksschule und wurde in einer christlichen Familie erzogen. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Feldwebel der Kavallerie teil. Nach dem Krieg arbeitete er als Winzer in einem größeren Niersteiner Weingut.
Aber auch ihn traf die Arbeitslosigkeit. So war es nicht verwunderlich, dass er sich in der Hoffnung auf eine neue Zukunft den Auswanderern nach Brasilien anschloss. Zusammen mit seiner Frau und vier Kindern landete er im Februar 1924 in Rio. Dass man sie gewissenlos betrogen hatte, traf die Familie schwer. Im Sommer 1926 kehrten sie schließlich nach Deutschland zurück. In Nierstein hatte man unterdessen eine Hilfssammlung für die mittellosen "Brasilianer" durchgeführt, die nach und nach wieder zuhause eintrafen.
Anfang der dreißiger Jahre trat Jakob Schuch dem sozialdemokratischen "Reichsbanner" bei, das sich unter den Leitworten "Aktivität, Disziplin und Einigkeit" gegen die zunehmenden Ausschreitungen der Nazis zur Wehr setzte. Er wurde einer der drei Zugführer und galt bei Freunden und Feinden als unerschrockener und entschlossener Kämpfer gegen den aufkommenden Nationalsozialismus.
1934 wurde Jakob Schuch von der Gestapo zum ersten Mal verhaftet und zusammen mit Heinrich Hock III. ins KZ Osthofen gebracht. Um seinen Widerstandswillen zu brechen, stellte man ihn an mehreren Tagen für längere Zeit in eiskaltes Wasser. Über das Darmstädter Gefängnis brachte man die beiden später in die Abteilung für "Linksradikale" des Konzentrationslagers Dachau. Sein Mitgefangener, Hock, berichtete, dass Jakob Schuch zeitweise an Händen und Füßen so fest angekettet wurde, dass er sich nicht bewegen konnte. Im Dezember 1935 ließ man die beiden Antifaschisten wieder frei. Haft und Folter hatten tiefe Spuren hinterlassen.
Doch die Nazis hatten die Familie Schuch nicht vergessen. Wegen "Landesverrats", wie man Widerstand gegen das Hitler-Regime zu nennen pflegte, wurde Schuchs Sohn Jakob (geb. am 20.4.1913) am 24. September 1942 in Berlin-Plötzensee enthauptet. Trotz unerträglicher Verfolgung war jedoch Jakob Schuchs Wille ungebrochen. In der Endphase des Krieges verteilte er die von alliierten Flugzeugen abgeworfenen Flugblätter in die Niersteiner Briefkästen.

Am 18. März 1945 wurde er von einem "Sonderkommando" zum letzten Mal abgeholt.
Am 21. März 1945 wurde er in Sichtweite seiner Heimat auf dem Kornsand ermordet.

Die Täter

Alfred Schniering
Alfred Schniering wurde 1911 in Essen geboren.
Im Jahre 1929 trat der Angeklagte bereits der NSDAP bei. Später war er bei der Gaupropagandaleitung in Köln angestellt und betätigte sich auch als Parteiredner im Gaugebiet. Im Jahre 1939 meldete sich Schniering freiwillig zum Wehrdienst und wurde im Januar 1942 zum Leutnant befördert. Nach einem Auswahllehrgang wurde er mit der Leitung eines Reichsschulungslagers der Partei in Wiesbaden beauftragt, in dem Amtsleiter der Partei für den Luftkriegseinsatz geschult wurden. Etwa im Oktober 1944 wurde dieses Lager unter seiner Leitung nach Oppenheim verlegt. Mitte Januar 1945 kam Schniering zum Stabe des Reichsverteidigungskommissars West in Frankfurt a. M. als Sachbearbeiter für Stellungsbau.

Georg Ludwig Bittel
Georg Ludwig Bittel wurde 1902 in Nierstein geboren.
Schon frühzeitig, am 1.1.1931, trat Bittel der NSDAP bei. Am Kriege nahm er wegen Wehruntauglichkeit nicht teil. Von etwa Anfang Mai 1933 bis zum 21.3.1945 war er Ortsgruppenleiter von Nierstein.

Hans Kaiser
Hans Kaiser wurde am 19.10.1926 in Mayen geboren.
Vor Abschluss seiner Schulausbildung wurde er im Herbst 1943 zum RAD eingezogen und im Kärntner Grenzgebiet zur Bekämpfung von Partisanen eingesetzt. Ende Januar 1944 wurde er zur Infanterie einberufen und kam nach viermonatiger Ausbildung an den Mittelabschnitt der Ostfront. Im Sommer 1944 nahm er an einem Unteroffizierslehrgang teil und wurde Zeuge, wie die der Teilnahme an den Vorgängen des 20. Juli verdächtigen Offiziere des Lehrgangs in der Nähe von Thorn kurzerhand durch Genickschuss liquidiert wurden. Im September 1944 wurde er durch doppelten Lungenschuss schwer verwundet. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett wurde er zur Kriegsschule in der Nähe von Prag abkommandiert, am 1.3.1945 zum Leutnant befördert und sodann nach Wiesbaden zur Führerreserve West versetzt. Von hier aus kam er als Offizier z.b.V. zum Kampfkommandanten des Brückenkopfes Oppernheim-Nierstein. Nach dessen Räumung nahm er noch aktiven Anteil an den rechtsrheinischen Abwehrkämpfen gegen die unaufhaltsam vordringenden Amerikaner.

Heinrich Funk
Heinrich Funk wurde 1911 in Nierstein geboren.
Bereits seit März 1930 gehörte er der NSDAP, ab 1934 der Hitlerjugend an. Er war Oberscharführer der SA und Gefolgschaftsführer der Hitlerjugend. 1937 meldete er sich freiwillig auf die Ordensburg der NSDAP in Krössinsee/Pommern. Nach einem Wechsel zur Ordensburg Vogelsang war er für kurze Zeit bei der Kreisleitung der NSDAP in Mainz tätig. Freiwillig meldete er sich bei Kriegsbeginn zur Wehrmacht. Der Überfall auf die Sowjetunion konnte ihn auf eine spätere Wirtschaftskarriere in den eroberten Gebieten des neuen "Lebensraumes im Osten" hoffen lassen. Ab September 1941 betätigte er sich in der Zivilverwaltung beim Reichskommissar für die Ukraine als Stabs- und Hauptabteilungsleiter. Dort war er zuständig für Fragen der Hauptabteilung Wirtschaft und Industrie. Nach einem halbjährigen Besuch der Waffenschule Murmeion im besetzten Frankreich wurde er später als Oberfähnrich entlassen und kurz darauf zum Leutnant befördert. Wegen einer Erkrankung erholte er sich zunächst in einem Prager Lazarett und danach im Taunus. Dort erfuhr er von der Bildung des Oppenheimer Brückenkopfes und ließ sich umgehend dorthin versetzen.

Die Obduktion

Der Obduktionsbefund im Wortlaut

Dr. med. H. Zimmermann
prakt. Arzt
Nierstein a. Rhein.

Nierstein. RH. den 18. April 1945

Gerichtsärztliches Zeugnis!

Im Auftrag des Herrn Polizeipräsidenten Steffan in Mainz habe ich heute Vormittag in dessen Anwesenheit und im Beisein des Herrn Hauptmann Kumpa, des Herrn Bürgermeister Licht und des Beigeordneten Herrn Gustav Adolf Schmitt aus Nierstein die gerichtsärztliche Leichenschau der an der Gemarkung Kornsand grausam ermordeten Personen vorgenommen.
Nach Freilegung der Grabstelle (identisch mit der Stelle der Ermordung) in einem Acker von Flur V des Kornsandes wurden die persönlich bekannten 6 Leichen zu Tage gefördert. Die Ermordeten lagen etwa 60 cm unter der Erdoberfläche und waren alle bekleidet. Die sichtbaren Körperteile zeigten bereits Anfänge von Verwesung, die Oberhaut war teilweise mazeriert, im Ganzen überall Anzeichen fortschreitender Leichenzersetzung. Nach den Angaben eines Augenzeugen soll die Ermordung in den ersten Nachmittagsstunden des 21. März 1945 stattgefunden haben.
Das Gesicht der Leichen zeigte nach gründlicher Reinigung von der anhaftenden Erde grünliche bis schmutzig-braune Verfärbung. Sämtliche 6 Leichen waren mit dem Gesicht nach unten in die Erde eingebettet.
Selbst für mich als Arzt war es ein grauenvoller und herzerweichender Anblick, diese so elend durch ruchlose Hand zu Tode gekommene Menschen, die mir persönlich als charakterlich anständig, arbeitsam und in ihrer politischen Gesinnung niemand verletzend oder aufreizend bekannt waren, in der Ackererde verscharrt aufzufinden. Daß die Mörder wehrlose bejahrte Familienväter und ehrliche Ernährer ihrer Angehörigen auf grauenhafte Weise erledigt haben, ist schon unmenschlich, - eine ehrbahre Frau und wohlbesorgte Mutter ihrer Kinder ohne ursächliche Begründung zu ermorden, zeugt von einer grenzenlosen Gefühlsrohheit.

Leichenbefund

Johann Eller aus Nierstein, Ringstrasse
Leiche bekleidet, die Jacke war ausgezogen und hat daneben gelegen. Im Oberkiefer fehlten sämtliche Schneidezähne, lediglich zwei frisch abgebrochene Stümpfe sind sichtbar. Die Oberkieferschleimhaut zeigt ein gequetschtes Aussehen, - prämortal muß durch rohe Gewalteinwirkung (Schlag mit einem festen Gegenstand) die Verletzung erfolgt sein.
Leichenflecken (diffuse fleckig-blaurote Stellen) besonders im Bereich des oberen Brustkorbes.
Im Nacken, am unteren Schädelrand, etwa an der Grenze des behaarten Kopfes, (Genick) ist die Einschußstelle eines Faustwaffengeschosses in einem Durchmesser von etwa 8-10 mm erkenntlich.
Mittels einer Sonde läßt sich der Schußkanal einwandfrei verfolgen. Kein Ausschuß. Als Zeichen vorhandener Schädelzertrümmerung Blutaustritt aus beiden Ohren.

Georg Eberhard aus Nierstein, Tiefer Weg.
Leiche bekleidet. Totenflecken besonders in Höhe der beiden Schulterblätter. Zähne und Mundschleimhaut weisen keine Verletzungen auf.
An der Schädelbasis im Genick, der Mitellinie entsprechend, in der selben Größe des Durchmessers, ist die Einschußstelle des Genickschusses sichtbar und mit der Sonde in die Tiefe zu verfolgen. Kein Ausschuß. Blutaustritt aus dem rechten Ohr u. aus der Nase, Schädelzertrümmerung.

Cery Eller aus Nierstein, Ringstrasse, Ehefrau von Johann Eller
Leiche bekleidet. Gesicht nach unten gerichtet.
Lückenhaftes Gebiß, das nach Aussage des abwesenden Sohnes Hermann zu Lebzeiten gegeben war. (Protesenträgerin). Keine Anzeigen einer prämortalen Körperschädigung.
Haare mit einem Netz zusammengehalten.
Ausgebreitete Leichenflecken zu beiden Seiten des Brutkorbes u. in den Schlüsselbeingegenden.
An der bereits erwähnten Stelle ist der Einschuß des Genickschusses sichtbar u. für die Sonde etwa 2 cm durchgängig. Kein Ausschuß. Blutaustritt aus dem linken Ohr,
(Schädelzertrümmerung).

Rudolf Gruber aus Oppenheim
Leiche in grauer Uniform (Volkssturm) bekleidet. Brille aufsitzend. Auf Brust und Rücken zerstreut Totenflecken sichtbar.
Rechte Augengegend stark blutig verschwollen.
Blutaustritt aus dem rechten Ohr, rechte Ohrmuschel oedematös aufgetrieben.
Der Genickschuß sitzt im vorliegenden Falle etwa 2 bis 3 cm von der Mittellinie abweichend. Kein Ausschuß.

Jakob Schuch aus Nierstein, Hindenburgstrasse
Leiche bekleidet.
Das linke Auge zeigt im Ober- und Unterlid eine besonders starke Verschwellung, von einem prämortalen Bluterguß herrührend. Die Nase mit ihrer Umgebung zeigt ebenfalls eine Schwellung und blau­rote Verfärbung. Die rechte Halsseite und die Gegend der unteren Wange (rechts) ist blutunterlaufen verdickt. Diese Körperschädigungen scheinen von Schlägen mit stumpfen Gegenständen bei wahrscheinlichem Widerstand von Sch. herzurühren.
Der Einschuß im Genick ist genau in der Mitte. Kein Ausschuß. Für die Sonde einige Zentimeter zugänglich.
Blutaustritt aus dem rechten Ohr (Schädelzertrümmerung). Leichenflecken besonders auf der rechten Brustseite sichtbar. Die linke Hand bei Faustschluß fest verkrampft.

Nikolaus Lerch aus Nierstein, Fäulingstrasse
Leiche bekleidet.
Die linke Gesichtshälfte zeigt etwa zweifingerbreit neben dem linken Auge blaurot verfärbte Eindellungen, die pfennig- bis markstückgroß sind. Das linke Ohr ist stark verschwollen.
Beide Lider des linken Auges sind stark verschwollen.
Diese Verletzungen scheinen von einer stumpfen Gewalteinwirkung vor dem Tode herzurühren.
Die Zähne sind intakt, auch keine Kiefer- oder Schleimhautverletzung im Mund.
Der in allen Fällen angewandte Genickschuß sitzt in der Mitte, dicht unterhalb der Grenze des behaarten Kopfes. Blutaustritt aus dem linken Ohr. (Schädelzertrümmerung) kein Ausschuß.

Beurteilung.
Nach dem Aussehen der Leichen der 6 Ermordeten ist anzunehmen, daß dieselben etwa 4 Wochen unter der Erde gelegen haben. Im Fall Johann Eller war in der Höhe des Kopfes noch frischrotes, flüssiges Blut im Erdreich sichtbar. In fast allen Fällen hat man den Eindruck, in der Umgebung des kreisrunden, Hautdefektes des Einschusses im Genick eine dunklere, von eingesprengten Pulverpartikelchen herrührende, Verfärbung der Haut wahrnehmen zu können, was allerdings durch teilweise Mazeration der Haut nicht ganz eindeutig festzustellen ist. Auf Grund dieser Tatsache, wie auch nach dem wohlgezielten Sitz des Einschusses in allen Fällen (mit Ausnahme einer kleinen seitliche Abweichung im Falle Gruber) ist ärztlicherseits anzunehmen, daß die Faustfeuerwaffe in nächster Nähe abgefeuert worden ist. Der Größe des Durchmessers der Öffnung nach zu urteilen scheint es sich um eine Pistole vom Kaliber 9 mm gehandelt zu haben.
Der Tod ist bei allen 6 ermordeten durch Zertrümmerung das Gehirns und des verlängerten Marks als Auswirkung der lebendigen Kraft des Geschosses eingetreten.
In den Fällen Johann Eller, Jakob Schuch und Nikolaus Lerch ist nach dem vorliegenden Befund anzunehmen, daß im Bereich des Gesichtes noch zu Lebzeiten körperliche Mißhandlungen mit stumpfen Gegenständen stattgefunden haben.

gez.
Dr. Zimmermann

Die Bergung und Bestattung der Opfer

Die Bergung und Bestattung der Opfer
Tage und Wochen nach der Ermordung am 21. März 1945 hatten die Angehörigen der Opfer noch immer keine Klarheit über das Schicksal der Verschleppten. In Nierstein kursierte nur das Gerücht, man habe sie auf dem Kornsand erschossen. Schließlich meldete der Wirt des Gasthauses Wehner seine Beobachtungen der amerikanischen Besatzungsbehörde.

Vier Wochen nach dem Mord, am 18. April 1945, grub man die Leichen aus. In Anwesenheit des früheren Reichstagsabgeordneten und jetzigen Polizeipräsidenten Steffan und des neuen Bürgermeisters Andreas Licht, der selbst dem Mordkommando entkommen konnte, nahm Dr. Zimmermann die Leichenschau vor.

Sein gerichtsärztliches Gutachten wurde zum Zeugnis für die Niedertracht und kriminelle Energie der Nationalsozialisten auch in unserer Heimat. Es ist ein lehrreiches und erschütternd anschauliches Dokument, beispielhaft für die ungezählten Verbrechen des deutschen Faschismus, die heute zum Teil verharmlost oder ganz geleugnet werden.

Unter starker Anteilnahme der Bevölkerung wurden die Ermordeten über den Rhein gebracht und in ihren Heimatgemeinden würdig beigesetzt.

Das Urteil

19. bis 24. September 1949:
Verhandlung gegen Bittel, Schniering und Kaiser

Es dauerte dreieinhalb Jahre, bis ein Teil der Mörder gefasst und vor Gericht gestellt war. Vom 19. bis 24. September 1949 tagte im Oppenheimer Amtsgerichtsgebäude die Erste Strafkammer des Landgerichts Mainz. Wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" saßen auf der Anklagebank: Georg Ludwig Bittel, Alfred Schniering, und Hans Kaiser.

Der NS-Ordensjunker Heinrich Funk war nach wie vor flüchtig und wurde per Haftbefehl gesucht. Sein Verfahren wurde deshalb von der Hauptverhandlung abgetrennt.

24. September 1949:
Die Urteile

Georg Ludwig Bittel
Bei der Urteilsverkündung am 24. September 1949 wurde der ehemalige Ortsgruppenleiter Bittel trotz erheblichen Tatverdachts freigesprochen - "mangels Beweises". Der Angeklagte habe in der Zusammenkunft der örtlichen Naziführung zwar ausdrücklich von der Verhaftung der acht Niersteiner gesprochen und sie auch namentlich benannt. Es könne aber nicht bewiesen werden, dass die Initiative von ihm ausgegangen sei. Aus der nachträglichen, offen ausgesprochenen Billigung der Verhaftungen und dem Bedauern über das Entkommen zweier Verfolgter könne keine Schuld abgeleitet werden, meinte das Gericht. Zwar habe er beim Überholen der Heimkehrer auf der Fahrt von Goddelau zum Kornsand dem mitfahrenden Offizier eine "aufklärende Antwort" über die Leute gegeben, das Gericht glaubte sich jedoch nicht überzeugt, dass sich Bittel über die schlimmen Folgen bewusst war.

Was den Angeklagten Bittel anbetrifft, so war dies auch nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die wohl fragwürdigste Entscheidung des ganzen Prozesses. Dem seit 1933 amtierenden Ortsgruppenleiter der NSDAP, der die Funktionsweise des nationalsozialistischen Herrschaftssystems aus eigener Anschauung und Praxis kannte, musste man ohne Zweifel unterstellen, dass er sich über das zu erwartende Schicksal der Verhafteten im klaren war. Sein Freispruch wirkt noch heute skandalös.

Alfred Schniering
Bei dem ehemaligen Leiter des Reichsschulungslagers der NSDAP in Oppenheim, Schniering, legten die Richter strengere Maßstäbe an. Als treibende Kraft, so stellte das Urteil fest, hatte er, unter Einschluss der Beeinflussung des jungen Kaiser, die Tat erst möglich gemacht, sie vorangetrieben und auch gewollt. Er war Angehöriger jenes Personenkreises von Führungsoffizieren, der an der Schaffung der "Endsieg"-Psychose aktiv beteiligt war. Dennoch war es ihm nicht gelungen, diese Endkampfstimmung auch auf dem Kornsand zu entfachen. Dem Mordbefehl aus seinem Mund widersetzten sich viele. Das Gericht wertete das Verbrechen auch nicht als einmaligen Exzess, wie der Versuch, den Oppenheimer Bürgermeister wegen dessen Kapitulationsvorbereitungen zu erschießen, bewiesen habe. Bei der großen Anzahl der Opfer müsse vor allem die Stärke seines verbrecherischen Willens hervorgehoben und angemessen berücksichtigt werden. Der Prozess im ganzen habe einen auf rücksichtslose Brutalität gegründeten Charakter offenbart, dessen unmenschliche Gesinnung seinesgleichen suche.

Unter dem ausdrücklichen Hinweis, dass die Todesstrafe nach dem neuen Grundgesetz nicht mehr möglich sei, verurteilte das Landgericht Schniering zur zulässigen Höchststrafe: lebenslanges Zuchthaus einschließlich Ehrverlust.



Hans Kaiser
Dem eigentlichen Mordschützen Kaiser hielten die Richter dessen Alter von achtzehneinhalb Jahren und seine durch Schule und Hitlerjugend geprägte Erziehung zugute. Trotz dieser Einflüsse hätte er aber in der Lage sein müssen, Gut und Böse zu unterscheiden und zu erkennen, welche Handlungen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstießen. Obwohl ihm ebenso wie den Flaksoldaten eine Verweigerung des Meuchelmordes möglich gewesen sei, habe er sich freiwillig zur Verfügung gestellt. Er habe demnach unter Vorsatz gehandelt und den Tod dieser Menschen aktiv gewollt. Das Gericht verurteilte Kaiser zu zehn Jahren Gefängnis und sah von einer Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit ab.

Auch bei diesem Urteil erscheint die Strafzumessung zweifelhaft. Selbst wenn man den Einfluss Schnierings berücksichtigt, so war es doch Kaisers eigener Entschluss und freier Wille, sechs unschuldige Menschen kaltblütig hinzumorden. Die Opfer starben von seiner Hand.



2. März 1950:
Revision gegen die Urteile

Ein halbes Jahr nach der Urteilsverkündung, am 2. März 1950, lehnte das Oberlandesgericht Koblenz die von den Verurteilten Schniering und Kaiser sowie von der Staatsanwaltschaft beantragte Revision ab. Die Bedenken der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch Bittels wurden mit der Begründung zurückgewiesen, die Besprechung der infrage kommenden Festnahme der sechs politischen Gegner könne allenfalls als straflose Vorbereitungshandlung angesehen werden. Außerdem stehe nicht fest, ob in dieser Besprechung der Naziführung die Verhaftungen veranlasst oder gefordert worden seien.
Die Revision der Urteile gegen Kaiser und Schniering wurde ebenfalls verworfen. Beide, erklärte das Gericht, hätten bewusst als Vertreter des nationalsozialistischen Machtsystems gehandelt und dieses in seinen letzten Kämpfen mit der Statuierung eines Exempels unterstützen wollen. Vorsätzlich und im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ihrer Tat hätten sie sich angemaßt, selbst zu richten und zu töten. Ihre Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit sei daher zu Recht erfolgt.



30. Januar 1950:
der Prozess gegen Heirich Funk

Am 30. Januar 1950 wurde schließlich auch der NS-Offizier Funk festgenommen. Fast fünf Jahre lang hatte er sich mit Hilfe verschiedener Verwandter und ehemaliger Parteifreunde jedem polizeilichen Zugriff entziehen können. Als Grund für sein Untertauchen gab er an, er habe kein Vertrauen in eine objektive Beurteilung seines Falles vor Gericht gehabt.

Vom 28.11. bis 7.12.1950 wurde auch Funk der Prozess gemacht. In der Öffentlichkeit erwartete man sich davon auch eine Klarstellung der im ersten Prozess offen gebliebenen Widersprüche. Der Angeklagte machte vor dem Mainzer Schwurgericht keinen Hehl aus seiner positiven Einstellung zur NSDAP. Er bezeichnete sich selbst als damals gläubigen Anhänger der Partei und glühenden Verehrer Adolf Hitlers. Auch eine Ortsbesichtigung mit anschließender Fortführung der Verhandlung in Oppenheim brachte keine absolute Klarheit im entscheidenden Handlungsablauf an der Fähre. Zwar hatten mehrere Zeugen, u.a. auch Schniering und Kaiser, übereinstimmend bestätigt, den Ausspruch Funks gehört zu haben, es handele sich "um die größten Verbrecher von Nierstein"; die Verteidigung versuchte jedoch, die Glaubwürdigkeit der Zeugen dadurch zu erschüttern, dass sie voneinander abweichende Zeugenaussagen über die Offiziersbesprechung zur Art der Erschießung in den Vordergrund schob.

Dennoch ließ das Gericht sich nicht beeindrucken und sah es unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Wal lauer als erwiesen an, daß Funk sowohl Zeuge als auch Teilnehmer eines Gesprächs über die Todesart der Opfer gewesen sei. Funk habe die fünf Niersteiner an der Überfahrt gehindert und sie dem Sonderbeauftragten des Gauleiters mit dem Hinweis ausgeliefert, es handele sich um kriminell und politisch belastete Personen, die aus dem KZ abgehauen seien. Er habe mit dieser Denunziation eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Festnahme und Ermordung geschaffen und die Opfer bewusst und gewollt den Kräften der Willkür überantwortet.

Konnte man dem Gericht in der Schuldbeurteilung des Ordensjunkers Funk nur zustimmen, so befremdete die abschließende Strafzumessung. Nach neunstündiger Beratung wurde der Angeklagte wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Noch im Gerichtssaal wurde er verhaftet.

Folgezeit:
Anträge auf Wiederaufnahme, Begnadigung, Aufhebung

Schniering und Kaiser bemühten sich wiederholt, aber erfolglos um eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Was aus ihnen wurde, liegt weitgehend im Dunkeln.

Bekannt ist lediglich, dass Schnierings "lebenslänglich" in eine fünfzehnjährige Zuchthausstrafe umgewandelt und ihm wegen einer Hüftoperation mit langwieriger Genesung Haftunterbrechung gewährt wurde.

Kaiser wurde begnadigt, eine Reststrafe von mehreren Jahren erlassen.

Funk war nach knapp eineinhalb Jahren wieder frei. Im Mai 1952 hob der Bundesgerichtshof sein Urteil mit der Begründung auf, das Kontrollratsgesetz Nr. 10, auf das sich der Schuldspruch stützte, sei für deutsche Gerichte nicht mehr anwendbar. In der Revisionsverhandlung wird er am 14. September 1953 nur noch wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit unterlassener Hilfeleistung zu einer Gefängnisstrafe von 11 Monaten verurteilt.

Inschrift auf dem Gedenkstein am Kornsand

21. März 1945
Im Anblick ihrer Heimat
wurden hier schuldlos erschossen:

Eberhardt, Georg aus Nierstein
Eller, Cerry aus Nierstein
Eller, Johann aus Nierstein
Lerch, Nikolaus aus Nierstein
Schuch, Jakob aus Nierstein
Gruber, Rudolf aus Oppenheim

Den Toten zum Gedächtnis!
Den Lebenden zur Mahnung!
Damit, was hier geschah,
sich nie wiederhole.