Heine Lieselotte (Lilo) geb. Rosenbaum

* 20.12.1909

Heine Lieselotte (Lilo) geb. Rosenbaum * 20.12.1909 Förste (Förste liegt etwa 7 km von Osterode am Harz entfernt im Sösetal am Fuße des Höhenzuges Lichtenstein. Mit der Gebietsreform von 1972 wurde Förste in die Stadt Osterode am Harz eingemeindet.
Lieselotte war die Tochter von Rosenbaum Julius und Klara geb. Hanauer. Sie hatte noch einen jüngeren Bruder, Kurt * 1912 Förste. Ca. ein Jahr nach der Geburt des Sohnes starb Julius und seine Frau Klara musste sich und die Kinder Lieselotte und Kurt mit einem kleinen Kaffeehandel allein durchbringen. Lieselotte begann nach erfolgreichem Besuch der Handelsschule eine Ausbildung zur Sekretärin, diese Ausbildung schloß sie mit Erfolg ab. Ihr Bruder Kurt, machte 1932 Abitur und anschließend eine Kaufmännische Ausbildung im Textilhaus Herz(t) in Münster. Nach der Machtübernahme (1933) war die Familie Rosenbaum den Anfeindungen durch die Nazis immer stärker ausgesetzt, so das Klara Rosenbaum mit ihrer Tochter Lieselotte ebenfalls ins westfälische Münster zog.
Durch ihren Bruder Kurt, bekam Lieselotte eine Anstellung in der Buchhaltung im Textilhaus Hertz, welches aufgrund seines guten Rufes von den Auswirkungen des Boykottes jüdischer Geschäfte weitestgehend verschont blieb. Doch nicht lang: 1937 mussten die jüdischen Inhaber auf Druck von außen das Geschäft aufgeben, welches anschließend „arisiert“ wurde und alle jüdischen Angestellten ihre Stellung verloren. Auch Kurt gehörte zu denjenigen, welche mehr oder weniger „freiwillig“ ihren Beruf aufgaben. Er emigrierte mit Hilfe eines holländischen Beamten Ende 1936 in die Niederlande und von dort aus im Januar 1937 nach Südafrika, wo er bis heute lebt.
Dort heiratete er die Münsteranerin Hilde Steinberg.
Die Mutter folgte kurze Zeit später ihrem Sohn, jedoch als einzige der Familie, da die Einreise weiterer Verwandten seitens der Südafrikanischen Regierung verboten war.
Lilo und ihre Tanten Fiebelmann Goldine geb. Hanauer (Familie Fiebelmann) und Hanauer Frieda (Familie Hanauer) blieben in Deutschland zurück und mussten nun mit den immer stärker werdenden antisemitischen Bedingungen in Deutschland zurechtkommen. Nachdem Lieselotte ihren Arbeitsplatz verloren hatte, hat sie seit 1937 als Stenotypistin bei der jüdischen Gemeinde auf dem Gelände der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem gearbeitet. Zu ihren Aufgaben gehörte u.a. das Erstellen der Deportationslisten der "evakuierungsfähigen" hannoverschen Juden. Ab dem 1. September 1939 wohnte sie bei der jüdischen Familie Berliner, (Berliner Cora, Wirtschaftsexpertin und Wirtschaftswissenschaftsprofessorin).
Bereits im September 1941 muß sie diese Wohnung zwangsweise räumen, und wird auf Anordnung der Nazi-Behörden in das "Judenhaus"
Körnerstraße 24 zwangseingewiesen. Hier lernt sie Martin Heine, ihren späteren Ehemann (am 09.04.1942, Abends um 10 Uhr fand im Ghetto Warschau durch den ebenfalls inhaftierten Kantor Spier aus Hildesheim die jüdische Trauung statt, eine standesamtliche Hochzeit, konnte nicht mehr vollzogen werden, da Martin am 10.04.1942 ins Vernichtungslager Treblinka überstellt wurde), und seine Eltern, Heine Rosa geb. Berg und Heine Hermann (Familie Heine, Familie Berg) kennen. Nachdem am 16.02.1942 das Gebäude „geräumt“ bzw. entjudet“ (Sprachgebrauch der Nazis) war, wurde Lilo und die Familie Heine in das "Judenhaus" Bergstraße 8 umgesiedelt.
Als Angestellte der jüdischen Gemeinde Hannover gehörte Lilo, ebenso wie der Vater von Martin Heine, Heine Hermann zur „Reichvereinigung der Juden in Deutschland Zweigstelle Hannover“. Diese mussten selbst die Listen der zu deportierenden Juden anfertigen (dies war eine weitere Demütigung der Nazis gegenüber den jüdischen Mitbürgern), dies war Lilos Aufgabe.
Der erste Zug verließ am
15. Dezember 1941 Hannover in Richtung Riga.
Die Listen mussten jeweils genau 1.000 Namen umfassen, und während Lilo die zweite Liste des Zuges Da 6 tippte, musste sie auch den Namen ihres Verlobten – Martin Heine (es handelt sich hier um den Deportationszug DA 6 dieser startete am
31.03.1942 in Gelsenkirchen, nahm in Münster 400 Juden auf, dann 500 aus dem damaligen Bezirk Hannover, Hildesheim und Göttingen, und als letztes 116 in Braunschweig. Anschließend setzte man die Fahrt direkt nach Warschau fort, wo man dann direkt in das Ghetto kam) mit aufnehmen. Da sie selbst als „unabkömmlich“ eingestuft und so vor einer Deportation zu diesem Zeitpunkt sicher war, setzte Lilo aus Liebe zu ihrem Verlobten freiwillig ihren Namen auf die Deportationsliste. Ziel des Zuges war das Lager Trawniki (Das als Ziel angegebene Ziel Trawniki, wurde von den Nazis angegeben, um ein Auffinden der deportierten zu erschweren, diese vorgehensweise kann immer wieder festgestellt werden, und ist eine deutsche Eigenart). Ihre Zeit bis zum Eintreffen sowie ihre Zeit im Ghetto beschreibt Lilo in ihrem Brief vom 27. April 1943 an ihre Mutter. (siehe nächsten Abschnitt).
Zum 16. April bekam Lieselotte eine Stellung im Büro bei der Danziger Firma Fritz Emil Schultz & Co., Pelzkonfektion die fast nur Juden beschäftigte (siehe Firma Schultz). Lilo mußte sich am 14. August auf dem Umschlagplatz am Güterbahnhof (das westliche Gebiet des Bahnhofs, das direkt an das Ghetto anschließt, wurde mit einem Holzzaun und später mit einer Mauer vom übrigen Bahnhof abgetrennt. Verschiedene Bahnsteige, Bahngebäude, das ehemalige Obdachlosenasyl, ein Krankenhaus und andere Gebäude wurden zu einem Durchgangsbereich für die Gefangenen umfunktioniert. Hier fanden auch Selektionen unter den Gefangenen des Ghettos statt) einfinden, da sie jedoch noch weitgehend arbeitsfähig war, wurde sie zunächst weiterhin zum Arbeiten dort belassen. Inzwischen hatte man zu Hause ihre ganzen Sachen gestohlen. Mit welchem Transport Lilo nach
Trawniki deportiert wurde, ist nicht bekannt, aus Unterlagen der Firma Schultz bei der sie beschäftigt war, geht aber hervor, Vom 16. Februar 1942 bis zum 2. Mai 1942 liefen die Transporte der Belegschaft der Firma Schultz & Co. GmbH aus dem Ghetto Miedzyrzec Podlaski von Warschau nach Trawniki. Das Zwangsarbeitslager für Juden wurde im Rahmen der "Aktion Erntefest" Durch Erschießen der Insassen am 03./04.11.1943 liquidiert. Nach dem Protokoll der Aussage von Franz Skubinn wurde das Arbeitslager am 3. November 1943 früh morgens von einer herantransportierten SS- und SD-Einheit umstellt. Nach einer Untersuchung wurden die Inhaftierten in das Ausbildungslager getrieben, wo sie sich ausziehen mussten. Dann wurden sie zu den Exekutionsgräben geführt und dort erschossen. Da die Gräben nicht alle Opfer fassen konnten, fanden auch in einer ehemaligen Kiesgrube Erschießungen statt. Insgesamt wurden etwa 6.000 Juden an diesem Tag erschossen. Nach 14 Tagen wurde begonnen, die Leichen zu verbrennen; dies dauerte etwa drei Wochen. Die Verbrennung wurde von Ukrainern des SS-Ausbildungslagers überwacht. Das jüdische Verbrennungskommando wurde anschließend ebenfalls erschossen. Da es seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihr gibt, dürfte Lilo zu diesen Ermordeten gehören.


Warschau, den 27. April 1943

Geliebte Mutter, lieber Kurt und liebe Hilde.

Wenn Euch dieser Brief erreicht, weiss ich nicht, ob ich noch leben werde und so sollen Euch diese Zeilen noch einmal einen Überblick geben über dieses letzte Jahr, das mir so viel Schweres gebracht hat. Ihr habt so lange nichts von mir gehört, dass Ihr gar nichts mehr von mir wisst. Von Bennos Tod habt Ihr ja durch den Rote Kreuz Brief erfahren. Er ist bei einer Benzinexplosion ums Leben gekommen und ich habe damals viel Kummer gehabt. In diesen schweren Tagen hat mir Martin Heine sehr viel beigestanden und sich rührend um mich gekümmert und so sind wir befreundet und waren von da an immer zusammen. Wir wohnten im selben Haus und dadurch war ich schon immer viel mit meinen jetzigen Schwiegereltern zusammen. Im September 1941 mussten wir dann plötzlich unsere Wohnungen innerhalb 36 Stunden räumen und ich zog ganz mit Heines zusammen. Wir verstanden uns alle vier sehr gut und wir haben trotz Schweren, das wir auch dort schon erlebten, noch manche schöne Stunde zusammen verlebt. Inzwischen ging im Dezember ein Transport von Hannover nach Riga. Da sowohl ich wie auch mein jetziger Schwiegervater bei der Reichsvereinigung beschäftigt waren, brauchten wir noch nicht mit. Wir mussten jedoch wieder umziehen und lebten nun in ständiger Sorge, dass der nächste Transport ginge. Am 25 März war es dann soweit. Wir hatten im Büro immer sehr viel Arbeit mit den Transporten, da wir die Organisation von der Gestapo übertragen bekommen hatten. Ich saß die ganze Woche bis nachts um 4 Uhr und schrieb Listen, immer mit der dunklen Ahnung, dass ich doch noch mitginge. Wenn ich selbst auch gesichert war, so war doch für Martin die Situation sehr schwer. Er hatte zwar auch noch keine Aufforderung bekommen, aber durch meine Arbeit im Büro wusste ich, wie knapp die Zahl war und 1000 Menschen mussten zusammenkommen für einen Transport, also wurde alles zusammengekratzt und ich zitterte für ihn. Wir hatten uns versprochen, wenn einer gehen muss, geht der andere freiwillig mit, denn wir wollten zusammen bleiben. Es band uns eine tiefe aufrichtige Freundschaft. Martin ist zwar jünger als ich und das war auch ein Grund, warum ich mich nicht binden wollte. da ich fürchtete, später eine Enttäuschung zu erleben. Aber wir sind durch so viele dunkle Stunden gemeinsam gegangen, dass uns dieses Band immer fester zusammenknüpfte.

Also um weiter den Gang der Ereignisse zu schildern: Am Mittwoch kamen die Leute alle ins Sammellager und ich hatte dort Dienst, um noch mal allen zu helfen und es gab viel Arbeit. Ich hatte sowohl meiner Chefin wie auch dem Vorsteher der Gemeinde gesagt, falls Martin mitmüsste, ginge ich freiwillig mit. Sie wollten mich jedoch nicht gehen lassen, da sie mich wirklich alle sehr lieb hatten. Am Sonntagnachmittag um 5 Uhr kam Frl. Ascher zu mir und sagte mir, dass Martin nun doch noch mitmüsste. Ich sollte zum Kommissar kommen, möchte Ihr aber den Gefallen tun und doch bleiben. Mit dem Kommissar hatte ich dann eine Aussprache von 2 Stunden, denn nachdem meine Chefin und auch der Vorstand behaupteten mich nicht entbehren zu können, wollte er mich nicht weglassen und ich musste ihn sehr drum bitten. Schließlich hatte ich also auch die Genehmigung der Gestapo. Ich kann Euch diese Szenen nicht so schildern, es war herzzerreißend, dass ich schon nicht mehr konnte. Auf der einen Seite meine weinende Chefin und unser Vorstand, der ganz verzweifelt war, auf der anderen Seite mein Wort und meine Liebe zu Martin. Ich ging und ich sage auch heute, wo ich noch nicht weiss, ob ich Martin jemals lebend wiedersehe, ob ich nicht in den nächsten Wochen selbst schon irgendwo gestorben oder erschossen bin, ich ginge noch mal mit ihm, denn ich habe ihn so gern, dass ich es nicht sagen will.

Am Dienstag ging der Zug, von dem man nicht wusste, wohin er uns führen würde. Wir warteten 5 Stunden im strömenden Regen auf dem Güterbahnhof und dann fuhren wir 2 Tage in dem nassen Zeug und eines Morgens standen wir in Warschau auf dem Umschlagbahnhof. Und dann begann das Jahr unseres Leidens. Wie glücklich waren wir trotz allem, denn wir waren ja zusammen und einer konnte dem anderen ein Halt sein. Martin sorgte für mich, denn ich war sehr erkältet und wir waren zufrieden im Bewusstsein, dass da ein Mensch ist, der einen liebt. Ich vergaß hinzuzufügen, dass wir uns inzwischen öffentlich verlobt hatten, aber das hat ja mit der innerlichen Bindung nichts zu tun. Als wir gerade 8 Tage da waren, hieß es, dass 160 Männer zwischen 16 bis 37 Jahren von unserem Transport fort müssten nach Treblinka. Wir wussten damals noch nicht, was Treblinka ist, trotzdem war es uns schrecklich, denn es hieß Trennung. Wir beschlossen, trotzdem wir noch nicht genau wussten, ob Martin zu diesen 160 Männern gehören würde, uns trauen zu lassen und da eine gesetzliche standesamtliche Trauung nicht mehr möglich war, doch wenigstens eine kirchliche. Auch das brachte schon Schwierigkeiten genug mit sich, denn das Lager, in dem wir untergebracht waren, lag außerhalb des Ghettos und wir hatten keinerlei Verbindung und konnten auch nicht raus, da es arisches Viertel war. Abends um 10 Uhr wurden wir dann von Herrn Kantor Spier aus Hildesheim, einem Teilnehmer unseres Transportes, der mich schon von der Reichsvereinigung her kannte, getraut. Es war so primitiv, wie nur möglich. Der Becher, aus dem wir zusammen tranken, war von einer Thermosflasche und statt des Weines gab es Wasser. Aber um uns standen die Menschen und sahen, dass wir uns einander gelobten bis in den Tod. Dann gingen wir in unser „Brautgemach“, dass wir mit 57 Menschen zusammen teilten und unser Hochzeitsbett war eine Holzpritsche mit einer Wolldecke darüber zum Zudecken. Da es April war, war es noch sehr kalt und wir mussten uns mit unseren Mänteln zudecken um nicht zu sehr zu frieren. Ach, Ihr Lieben, wie anders habe ich mir einmal den Tag meiner Hochzeit gedacht und das erste Jahr meiner Ehe! Am anderen Morgen um 9 Uhr, es war der 10. April, zog Martin mit all den anderen fort und ich glaubte, dass ich ihn in 2 bis 3 Monaten wiedersehen würde. Damals glaubten wir noch alles, was man uns sagte. Das haben wir freilich in diesem einen Jahr gründlich verlernt. Er ging und ich habe bis heute nichts mehr von ihm gehört. All das Schwere, das uns hier erwartete, musste ich allein tragen und dazu immer der trüben Gedanken, lebt er noch oder ist auch er schon tot.

Am 16. April bekam ich eine Stellung im Büro bei der deutschen Firma Schultz & Co., die fast nur Juden beschäftigte. Die ersten Monate waren noch verhältnismäßig leicht. Ich lebte zwar 4 Wochen gänzlich ohne einen Pfennig Geld und nur von der Suppe und dem Achtel Brot, das man im Shop bekam, aber ich hatte noch immer die Hoffnung, dass eines Tages Martin bei mir war. Ich hatte noch Lebensmut.
Und dann kam der Juli! Es fing damit an, dass wir aus unserem Lager fortmussten ins Ghetto und dort hatten wir noch nicht einmal eine Pritsche, sondern schliefen auf der Erde, in unsere Decken gewickelt. Inzwischen hatte sich meine Erkältung, mit der ich angekommen war, auf die Blase gelegt und ich hatte einen Blasenkatarrh bekommen, der, da er nicht behandelt wurde, zu einer Nierenbeckenentzündung führte. Diese war im Juli so schlimm geworden, dass ich fast jeden Abend 39 bis 40 Grad Fieber hatte, d.h. zuerst bekam ich einen Schüttelfrost und dann ging' s los. Dabei hatte ich einen sehr weiten Weg vom Büro bis ins Lager und die Strassen waren sehr unruhig. Es wurde fast jeden Abend geschossen, oder Leute gefangen, sodass ich immer ziemlich außer Atem ankam. Dann begannen die Blockaden und eines Tages, als ich wieder in unser Lager kam, waren schon keine Leute mehr da. Man hatte alle, die nicht zur Arbeit waren, weggeholt, so wie sie standen oder lagen. Auch die Mutter von Benno, mit der ich viel zusammen war und neben der ich schlief, war weg. Von da an schlief ich 3 Wochen lang im Büro auf dem Tisch. Das Fieber blieb und da die Zeiten sehr unruhig waren, konnte man auch nichts dagegen machen.
Der August war noch schlimmer. Am 14. August war ich auch auf dem Umschlagplatz, wurde aber noch mal gerettet. Inzwischen hatte man zu Hause meine ganzen Sachen gestohlen.
So ging das Leben weiter. Mit einem Fuß stand man immer um Rand des Grabes und doch lebte man weiter, wenn auch viele auf der Strecke blieben. Die letzte schwere Blockade war im Januar. Fast alle Leute kamen damals nach Treblinka und man proppte da 120 Leute in einen Waggon. Was Blockade und Treblinka heißt, brauche ich Euch wohl nicht zu erzählen, vielleicht hat man das sogar schon so bei Euch erfahren. Nun, noch lebe ich, wer weiss, wie lange. In den nächsten Tagen müssen wir hier alle fort und kommen in ein Arbeitslager nach Trawniki. Gesundheitlich geht es mir sehr schlecht, deshalb habe ich auch nicht viel Hoffnung, dass ich Euch alle noch mal wiedersehe. Ich habe jemanden gebeten, Euch nach dem Krieg dieses Schreiben zuzustellen, gleich ob ich lebe oder nicht. Ich habe sehr viel Schmerzen, da ich jetzt Blasen- und Nierensteine habe und man infolge der Verhältnisse nichts dagegen tun kann. Ich wünsche sehr, ich würde wieder gesund und könnte Euch alle noch mal wiedersehen und Ihr würdet Martin kennenlernen.
Aber die Zeiten sind so, dass man nicht weiss, ob man den morgigen Tag erleben wird. Wie kann man da so weit in die Zukunft denken.

Die lieben Tanten sind voriges Jahr im Juli nach Theresienstadt in der Tschechoslowakei gekommen. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihnen gehört. Ich glaube nicht, dass sie noch leben, denn sie waren doch beide sehr leidend. Dorthin sind fast alle alten und kranken Leute gekommen. Auch meine frühere Chefin von der Reichsvereinigung in Hannover ist mit einem Transport nach dort gekommen. Sie hatte mir durch meine Schwiegereltern versprochen, sich dort nach den Tanten umzusehen. Aber leider habe ich auch von Ihr nichts mehr gehört. Meine Schwiegereltern sind am 2. März dieses Jahres auch fortgekommen. Ich weiß nicht wohin. Man nahm an, dass es in Arbeitslager nach Oberschlesien ginge. Jedenfalls sind auch sie für mich verschwunden. Sie waren rührend zu mir und ich bin ihnen vielen Dank schuldig. Meine Schwiegermutter hat sehr für mich gesorgt, auch schon, als wir noch nicht verlobt waren. Wenn ich krank war, hat sie mich gepflegt und ich gehörte immer ganz mit zur Familie. Sie haben mich nie empfinden lassen, dass ich in der Fremde war. Das soll Euch auch eine Beruhigung sein. Auch nach hier haben sie, solange es ging, Päckchen geschickt und mich ganz als Ihre Tochter behandelt, trotzdem mein lieber Martin doch vor dem Gesetz noch nicht mein Mann war. Ich führe hier zwar seinen Namen, doch müssten wir, wenn wir uns noch mal wiedersehen sollten und das alles überleben würden, uns noch mal standesamtlich trauen lassen. Übrigens ist es gut möglich, dass Ihr meine Schwiegereltern kennt, denn sie stammen aus Gronau bei Hannover und der Bruder von meinem Schwiegervater war bis ziemlich zuletzt in Gronau und hatte dort früher eine Schlachterei. So bin ich doch nicht einmal in eine fremde Familie hineingekommen. Mutter wird sich sicher daran erinnern.

Nun sind alle Verwandten fort und auch von unseren Bekannten aus Deutschland ist niemand mehr da. Aber das soll Dir ein Trost sein, liebes Muttchen, ich habe immer wieder Menschen gefunden, die mich gern haben und besonders nett zu mir sind, sodass ich doch nicht von aller Welt verlassen bin, auch (nicht) in der Fremde. Daran musst Du immer denken. Was nun das Schicksal bringt, das weiß ich nicht und muss es nehmen, wie es kommt. Sollte ich Euch nicht mehr wiedersehen, so behaltet mich doch immer lieb und seid gewiss, dass auch ich Euch alle Drei herzlich geliebt habe.
Dass Deine lieben Eltern auch nach Riga gekommen sind, liebe Hilde, weißt du wohl schon. Dein Vater war Transportleiter und es geht ihm dadurch sicher etwas besser. Gehört habe ich leider nichts von ihnen, da die Rigaer nicht schreiben durften. Auch wir dürfen in dem neuen Lager nicht mehr schreiben. Deshalb benutze ich jetzt noch vorher schnell die Gelegenheit, um Euch später dieses Lebenszeichen übermitteln zu lassen. Wenn Euch der Brief erreichen sollte, versucht bitte alles, um zu erfahren, was aus mir geworden ist. Sollte ich noch leben, kann ich sicher Eure Hilfe gut gebrauchen, denn ich besitze nichts mehr, da ich meine ganzen Kleider und Wäsche verkaufen musste, um etwas zum Essen zu kaufen. Auch im anderen Falle hätte ich gern, wenn Ihr wüsstet, wo meine Überreste verblieben sind.

Wie glücklich bin ich, dass Mutter noch rechtzeitig gefahren ist, und all dem Schrecklichen entgehen konnte. Eventuell könnt Ihr später mal Nachforschungen nach mir halten. Dann wendet Euch an die Firma, bei der ich jetzt arbeite und zwar schon ein Jahr: Schultz & Co., Danzig Dominikswall 11. Dort ist die Nebenstelle. Hier aus Warschau wird der Betrieb ja jetzt verlegt, doch wird die Danziger Stelle wohl immer noch da sein. Ich habe hier im Büro gearbeitet.

Nun will ich schließen. In großen Zügen habe ich Euch jetzt von meinem letzten Jahr berichtet. Einzelheiten lassen sich nicht schildern, doch könnt Ihr Euch vielleicht doch ein Bild machen. Vergesst mich nicht und behaltet mich immer lieb, so wie auch ich immer in großer Liebe an Euch gedacht habe. Lasst Euch noch einmal in Gedanken herzlich umarmen und seid alle drei geküsst von

Euer Lilo

Das Original befindet sich im Besitz von Kurt Rosenbaum, Südafrika. Der Brief ist mit der Schreibmaschine geschrieben und im vollen Wortlaut hier wiedergegeben. Tippfehler wurden korrigiert. Hannover, Körnerstraße 24