Clara Greulich, eine Heldin aus Borken (Westf.)

Sie war da, als er sie brauchte

Draußen schneite es. Wind wehte von den Feldern herüber und trieb die Flocken schräg vor sich her. Es war Ostwind, der kälteres Wetter ankündigte. Wer nicht dringend in der Stadt zu tun hatte, machte, dass er nach Hause kam.
Der Abend war schnell über den kleinen Ort gekommen. Mit ihm kam diese Finsternis, die "Verdunkelung" an die man sich nie gewöhnen konnte, obwohl es schon das sechste Kriegsjahr war. Clara Greulich ließ am Fenster ihres Wohnzimmers die Verdunkelungsrolle herunter, nachdem sie noch einen Blick auf die Straße geworfen hatte. Der Bürgersteig war leer. Schnee lag wieder dort, wo sie noch vor einer Stunde gefegt hatte.
Sie wandte sich um, ging zum Tisch hinüber, wo die Hefte ihrer Schulkinder lagen. Einige der Aufsätze strotzten wieder von Fehlern. Aber wie sollten die Kinder auch in dieser Zeit etwas lernen? Es war ein Wunder, dass man den Schulbetrieb überhaupt noch aufrechterhalten konnte bei den Luftangriffen, bei der Kinderlandverschickung, bei der Verpflichtung der Größeren zur Heimatflak, bei den vormilitärischen Übungen der Hitlerjugend.
Dieser Krieg hatte auch das stille westfälische Städtchen Borken nicht verschont. Jeden Morgen fürchtete man sich, die Zeitungen aufzuschlagen, weil wieder eine Todesanzeige darin stehen konnte, wieder ein schwarzumrandeter Nachruf auf einen jungen Menschen, der geopfert worden war, weil Deutschland leben musste, wie es so schön hieß. Wie lange würde es noch dauern? Es war der Winter des Jahres 1944, täglich flogen Amerikaner und Engländer ihre Luftangriffe gegen deutsche Städte, vielerorts war das Schienennetz der Bahn schon so zerstört, dass der Verkehr zusammenzubrechen drohte. Die Versorgung stockte, die Produktion kam langsam zum Stillstand. Und immer noch starben Menschen. Wie lange noch?

Clara Greulich schlug das erste Heft auf, tauchte den Federhalter in rote Tinte. In diesem Augenblick klingelte es. Es war ein kurzer, flüchtiger Laut, als habe nur ein Kind im Vorübergehen auf die Klingel gedrückt, aber er ließ sie so zusammenschrecken, dass ihr Herz laut zu schlagen begann. Sie ging zögernd hinaus, tastete sich durch den dunklen Flur, knipste das Licht an. Dann öffnete sie die Tür.
In der ersten Reaktion wollte Clara sie wieder zuschlagen, denn dieser Mensch, der da draußen stand, konnte unmöglich zu Ihr wollen.
Bitte, stieß der Fremde hervor. Seine Stimme klang heiser und gehetzt. Wer sind Sie? Fragte Clara. Ihre Augen hatten sich jetzt an das trübe Zwielicht der Verdunkelungsbeleuchtung gewöhnt. Das Gesicht des alten Mannes, der da vor ihr stand, war von tiefen Falten durchzogen und schmutzverkrustet. Das Haar stand wirr auf seinem Kopf. Es war kaum länger als das Haar eines frisch geschorenen Rekruten. Sein Oberkörper steckte in einer viel zu weiten Strickjacke, deren Ärmel ihm über die Hände hingen. Um seine Beine schlotterte eine helle, dünne Khakihose, die an den Knien zerrissen war.
Die Augen des Fremden flackerten. In ihnen lag eine Mischung von Angst und Hoffnung. Erkennst du mich denn nicht? flüsterte die Erscheinung. Ich bin es – Erich, dein Neffe Erich aus Amsterdam.
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie überhaupt begriff, was er gesagt hatte. Ich bin auf der Flucht, stieß er hervor. Ich komme-. Aber da begriff sie. Sie packte ihn am Arm, zog ihn in die Wohnung. Mein Gott, flüsterte sie und sah den Menschen an, diesmal mit anderen Augen. Erich – aber das ist ja fürchterlich!
Dieser Greis sollte ihr zwanzigjähriger Neffe sein, Erich Blomberg aus Amsterdam, Sohn ihrer Schwester, die einen holländischen Juden geheiratet hatte. Wo, kommst du her? Fragte sie flüsternd. Im gleichen Verschwörerton antwortete er: Aus Auschwitz. Auschwitz – wo liegt das? In Polen. Und von dort bist du? Er nickte nur. Bitte, darf ich mich irgendwo setzen, nur einmal ausruhen, bat er erschöpft. Natürlich! Sie biß sich auf sich auf die Lippen. Ich bin geflohen, murmelte er, ich bin müde. Seine Augen flackerten wieder. Bist du allein? Ja, ich bin allein, erwiderte Clara. Und plötzlich erwachte sie zu fieberhaftem Leben. Komm, drängte sie und schob Erich in die Küche. Sie lief zum Herd, setzte Wasser auf, lief zum Schrank, holte Teller und Tassen heraus. Erich ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er sah die Kaffeekanne, griff nach der Tasse, hob sie hoch. Ich mach dir sofort frischen Kaffee, sagte sie. Der ist ja kalt. Bitte, flüsterte er, bitte nur einmal trinken. Er goß sich mit zitternden Händen ein, trank in hastigen Zügen. Der Kaffee lief ihm über das Kinn.

Clara lief zur Vorratskammer, holte Brot heraus, stellte eine Schale mit Butterschmalz auf den Tisch, schnitt Scheiben ab, wortlos, und so, wie sie sie abschnitt und mit Butterschmalz bestrich, so verschwanden sie in dem gierig kauenden Mund. Der Ausgehungerte schlang in sich hinein, was sie brachte. Es war ein schrecklicher Anblick. Clara spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Da stahl sich seine Hand über den Tisch und haschte nach ihrer Hand. Die Finger waren kalt und klamm. Sie konnte nicht anders: Sie ergriff mit beiden Händen diese geschundene Hand und drückte sie, rieb sie in ihren Händen, bis sie warm war. Ich kann nicht mehr weiter, flüsterte Erich, Ich kann nicht mehr. Ich bin durch ganz Deutschland geflüchtet, um zu dir zu kommen, bitte, schicke mich nicht weg.
Ich werde dich nicht wegschicken, versprach sie. Ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, diesen Jungen wieder hinauszuschicken in die Kälte, in die Nacht, seinen Peinigern in die Arme. Nein, ich schicke dich nicht weg! Sie stellte auf der Anrichte neben dem Spülbecken eine Waschschüssel zurecht, füllte sie mit heißem Wasser, legte zwei frische Handtücher und ein Stück Seife daneben, ging ins Schlafzimmer hinüber und holte eine frische Garnitur Winterunterwäsche ihres Mannes aus dem Schrank. Dann kramte sie einen alten Mantel hervor, den ihr Mann schon seit langem nicht mehr trug. Erich verfolgte ihr tun mit seinen wachsamen, braunen Augen, immer noch auf der Hut, immer noch in Angst.
So, sagte sie. Jetzt wäschst du dich zuerst einmal und legst diese Klamotten ab. Dies hier ziehst du an. Nimm vorläufig den Mantel, das ist das Wärmste, was ich dir geben kann. Und nachher? Du wirst dich vorerst auf dem Boden verstecken. Dort findet dich keiner. Mein Mann kommt nur übers Wochenende nach Hause. Erich stand auf. Er musste sich an der Stuhllehne festhalten. Danke, flüsterte er. Bedanke dich nicht, sagte sie, wer weiß, was uns noch alles bevorsteht. Aus der Wohnung der Familie Greulich führte eine Stiege zum Boden des Hauses hinauf. Wegen der Luftschutzbestimmungen war der Speicher leergeräumt, entrümpelt, wie es damals hieß. Niemand benutzte ihn. Seit Monaten war keiner der Hausbewohner mehr dort oben gewesen. Während Erich sich umzog, stieg Clara Greulich nach oben. Nur mit Mühe konnte sie die schwere Falltür aufstemmen. Die Kerze in ihrer Hand flackerte im Wind, der durch die Ritzen des Daches zog. Unheimlich war es hier oben in der Dunkelheit der Winternacht.
In einer weit entlegenen Ecke zwischen Kamin und schräger Dachfront war ein geeigneter Platz. Hier würde sie Erich für eine Weile verstecken können. Sie schleppte ein paar Hocker dorthin, verband sie mit Stricken, legte zwei Wolldecken darauf. Es war ein hartes Lager, aber es war eine Ruhestatt, die Erich paradiesisch vorkam nach seiner Flucht. Aus Kistenbrettern zimmerte Clara einen Verschlag, hinter dem sich Erich verbergen konnte. Sie arbeiteten beide die halbe Nacht hindurch, aber in den frühen Morgenstunden hatten sie es geschafft. Ein richtiges „Zimmer“ war entstanden, in dem Erich relativ sicher sein konnte. Bei einer flüchtigen Inspektion des Speichers war dieser Verschlag kaum zu entdecken, denn er lag, von der Falltür aus gesehen, direkt hinter der breiten Steinfront des Kamins.
Wirst du hier auch schlafen können? fragte Clara Erich. Zum ersten Mal sah sie ihn lächeln.
Ich werde so schlafen, wie ich seit einem Jahr nicht mehr geschlafen habe, sagte er. Niemand darf das Licht sehen, denk daran! Die Kerze stand auf einen Hocker neben dem Lager. Sie hatte sie mit einem Stück Blech abgeschirmt. Ich mach sie gleich aus, versprach Erich. Er begleitete Clara bis zu der Falltür. Danke, vielen Dank, Tante. Dank mir nicht Erich – noch wissen wir nicht, wie es ausgeht, erwiderte sie. Dieser Ort steckt voll von hundertfünfzigprozentigen Nazis. Wenn einer von denen etwas herausfindet!
Erich nickte nur. Ich verstehe, sagte er. Aber sein Gesicht blieb ruhig, dieses alte und doch so junge Gesicht. In den Stunden, seit er angekommen war, als Gehetzter an ihre Tür geklopft hatte, war eine Veränderung in ihm vorgegangen. Das, was am Abend zitternd vor ihrer gestanden hatte, war ein wildes Tier gewesen. Das, was jetzt vor ihr stand, in dem viel zu großen Mantel ihres Mannes, mit den alten, ausgetretenen Pantoffeln, war wieder ein Mensch.
Sie stieg schnell die Treppe hinab, schloß die Falltür hinter sich. Einen Augenblick lang horchte sie in die untere Etage des Hauses hinunter, aber nichts regte sich. Ihre Nachbarn, hatten offenbar nichts gemerkt. Sie ging in ihr eigenes Schlafzimmer, löschte das Licht, legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen. Ist es richtig, was ich tue? dachte sie. Bringe ich mich damit nicht in tödliche Gefahr? Jetzt, allein in ihrem Schlafzimmer, sah sie die Schrecken der Verhaftung, sah sich vor den Schranken des Gerichts, hörte das Urteil – Tod, Tod, Tod!
Angst ergriff sie. Mein Gott, ich bin nur eine schwache Frau, eine kleine Lehrerin, ein armseliges Geschöpf. Ich habe nicht so viel Kraft. Überall lauert Gefahr, selbst die Wände haben Ohren – und ich will einen Juden verstecken, einen Flüchtling aus dem KZ! Meinen Neffen. Er ist noch nicht einmal mein richtiger Neffe, nicht einmal das leibliche Kind meiner Schwester. Mein Gott, gib mir Kraft. Dieser Krieg, dieser furchtbarer Krieg. Morgen muß ich wieder in die Schule. Morgen ist es hell, morgen werden sie kommen und nach Erich fahnden.
Ich habe schreckliche Angst. Aber dann wurde sie ganz ruhig. Einmal im Leben muß man beweisen, dass man ein Mensch ist. Über diesem Gedanken schlief sie ein. Erich schlief sechzehn lang. Erst am nächsten Abend gegen sechs Uhr wurde er wach. Clara hörte seinen leichten Schritt über sich auf dem Boden. Sie lief sofort zur Stiege, kletterte zum Boden hinauf, öffnete die Falltür. Du darfst dein Versteck unter keinen Umständen verlassen, flüsterte sie. Der Mann, der unter uns wohnt, ist ein Erznazi. Wenn der etwas merkt. Ich werde daran denken, erwiderte Erich. Sie balancierte die Schüssel mit der dampfenden Suppe zu seinem Verschlag. Er fiel gierig darüber her. Er verschlang gierig Suppe und Brot in wenigen Minuten. Dann wischte er sich zufrieden den Mund mit seinem Handrücken ab. Erst, als er Claras Blick sah, versteckte er verlegen die Hand hinter seinem Rücken. Das – das habe ich mir im KZ angewöhnt, sagte er. Ich glaube, ich kann nie mehr mit Messer und Gabel essen. Das wirst du auch wieder können, sagte Clara. Er hörte die Aufmunterung in ihrer Stimme und sah sie dankbar an. Willst du mir erzählen, wie es war? Er nickte wieder. Aber vielleicht kann ich noch etwas zu essen bekommen? murmelte er. Nachher, als er noch zwei große Schnitten gegessen hatte, berichtete er.


Sie waren kurz nach dem Einmarsch der Deutschen in Holland festgenommen worden, sein Vater, seine Mutter, seine Brüder Kurt und Helmut und er selbst. Wahrscheinlich hatte man es seiner Mutter übelgenommen, daß sie einen holländischen Juden geheiratet hatte. Sie kamen nach Auschwitz. Schon bald wurden die Eltern von den Söhnen getrennt. 1942 wurden sie bei einer der berüchtigten Selektionen für die Gaskammer ausgewählt. Sie starben gemeinsam, am gleichen Tag. Die Söhne mußten arbeiten. Das Soll war so hoch angesetzt, daß es höchstens bei bester Ernährung und unter den großzügigsten Arbeits- und Lebensbedingungen hätte erfüllt werden können. Aber das lag natürlich nicht im Sinne der Nazis. Die jungen, kräftigen Juden wurden bei schwerster körperlicher Arbeit und wenig Kost so lange ausgebeutet, bis sie starben.

Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, schreibt in seinem Tagebuch: Nach dem Willen des Reichsführers SS waren die KZ zur Rüstungsfertigung eingesetzt. Ihr war alles unterzuordnen. Alle Rücksichten mußten fallen. Eindeutig hierüber sprach sein bewusstes Hinwegschreiten über die unhaltbar gewordenen allgemeinen Verhältnisse der Lager. Die Rüstung ging vor, was im Wege war, musste fallen. Noch härter, noch kälter, noch mitleidloser musste ich gegenüber der Not der Häftlinge werden. Auf diesem Weg Zusammenbrechendes durfte mich nicht aufhalten. Es musste gegenstandslos werden gegenüber dem Endziel: daß wir den Krieg gewinnen müssen.

1943 stirbt Kurt Blomberg in Auschwitz, Helmut Blomberg verschwand spurlos. Was aus ihm wurde, brachte Erich nie in Erfahrung. Er selbst war am Ende seiner Kraft, als er sich mit einem letzten Funken von Selbsterhaltungstrieb entschloß, zu fliehen. Es war aussichtslos. Das wusste er. Aber für ihn gab es nur noch die Wahl zwischen der Freiheit und dem Tod.
Es war am 29. Oktober. An diesem Tag wurden wir mit Lastwagen zu einem Außenkommando gebracht. Wir mußten in einem Steinbruch arbeiten. Gegen Mittag erschoß einer der Aufseher einen Kameraden, der nicht mehr arbeiten konnte und sich total erschöpft auf einem Felsbrocken ausgeruht hatte. Der Posten schoß ihm von vorne ins Gesicht, direkt zwischen die Augen. Es war furchtbar. Wir alle wussten, daß uns früher oder später das gleiche Ende erwarten würde. Ein Schuß aus einem Karabiner oder der Tod in der Gaskammer. Auf der Rückfahrt geriet unser Lastwagen in einen Wehrmachtskonvoi. Schwere Lkws mit Truppen fuhren vor uns. Unser Lastwagen versuchte zu überholen, wurde aber zwischen den Lkws der Wehrmacht eingekeilt. Hierdurch wurden die Posten, die mit schußbereiten Gewehren hinten auf dem Lkw standen, abgelenkt. Es war der Entschluß einer Sekunde. Die Posten starrten auf die Wehrmachtsfahrzeuge hinunter, sahen nicht zu uns hin.
Ich drängte mich vor, stieß einen der Wächter zur Seite und sprang. Ich stürzte auf die Straße, direkt vor den nächsten Lkw. Der Fahrer hatte keine Zeit mehr zu bremsen. Der wagen rollte über mich hinweg. Ich raffte mich auf, lief – war im Wald! Hinter mir hörte ich Geschrei, Bremsen kreischten, Hupen gellten. Ich rannte durch den Wald, Zweige schlugen mir ins Gesicht, Dornen ritzten meine Haust, Äste schrammten meine Hände auf. Ich stolperte über einen Wurzelstrunk und fiel. Dann raffte ich mich wieder auf und lief weiter. Ich sprang über einen Bach, und versank knöcheltief in weichem Lehm. Hinter mir wurde es still. Aber ich lief weiter. Meine Füße trugen mich kaum noch. Aber ich rannte um mein Leben. Es wurde jetzt schnell Abend. Unter den Bäumen war es dunkel. Ich musste mich vorwärtstasten, von einem Baum zum anderen. Schließlich stieß ich auf eine Schonung, die dicht mit jungen Tannen bepflanzt war. Ich bahnte mir einen Weg durch das Geäst, kroch auf allen vieren, bis ich schließlich eine kleine Lichtung erreichte, wo ich liegenblieb.
Ich wusste nicht, ob sie mich suchten. Ich wußte nur eins: Ich durfte ihnen nicht in die Hände fallen. Ich wußte, was man mit Ausbrechern machte, ehe man sie tötete. Einen habe ich gesehen, ehe man ihn zur Abschreckung aufknüpfte. Ich schlief bis zum Morgengrauen, immer wieder von Kälte und Hunger und von den Geräuschen der Tiere im Wald geweckt. Aber niemand kam. Im Morgengrauen marschierte ich weiter. Meine Häftlingskleidung war steif von Dreck und Kälte. Ich fühlte kaum noch meine Füße, aber ich lief weiter, immer in westlicher Richtung. Ich hatte nur ein Ziel, ich kannte nur einen Menschen, der mir helfen konnte – das warst du.
Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben, sagte sie. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Es ist Unrecht, was ich tue, sagte er mit leiser Stimme. Ich bringe dich mit in Gefahr. Laß daß meine Sorge sein, erwiderte Clara. Am Abend des zweiten Tages seiner Flucht erreichte Erich einen einsamen Bauernhof. Durch die offene Tür spähte er in den Stall. Dort standen nur die Kühe, die ihr Futter fraßen und sich nach ihm umdrehten, als er den Stall betrat. An einem Nagel in der Ecke des Stalls hingen eine Khakihose und eine Strickweste. Jenseits der Trennwand aus rohen Brettern hörte Erich einen Mann pfeifen. Er nahm Hose und Jacke vom Nagel und verschwand so lautlos wie er gekommen war. Im Wald entledigte er sich seiner Häftlingskleidung und zog die gestohlenen Sachen an. Auch in dieser Nacht schlief er im Wald. Am nächsten Tag erbettelte er sich in einem Dorf etwas zu essen. Der Hunger hatte ihn soweit gebracht, daß er sich ohne Rücksicht auf die Gefahr unter Menschen traute. Meistens lebte er von Wasser aus den Bächen oder von Rüben, die er aus den Nieten grub. Er wußte schließlich nicht mehr, wie lange er unterwegs gewesen war. Er wußte nicht mehr, durch wie viele Dörfer er gekommen war, des Nachts, wenn die Leute schliefen, an wie viele Posten er sich vorbeigeschlichen hatte, ohne bemerkt zu werden. An nichts mehr konnte er sich klar erinnern, es war wie ein furchtbarer Traum, er lief und lief und fand kein Ende. Einmal schlief er in einem leeren Schuppen auf einem Fabrikhof ein. Es war Fliegeralarm, und er wurde erst wieder wach, als die Leute draußen vorbeigingen, die aus dem Luftschutzkeller kamen. Ein anderes Mal stolperte er in ein leeres Bahnwärterhäuschen, warf sich, halb tot vor Erschöpfung, auf die Pritsche, die dort stand. Ihm war schließlich alles egal. Aber er gab nicht auf. Er hielt durch. Er durchquerte ganz Deutschland – und kam endlich dort an, wo er hinwollte, bei dem einzigen Menschen, den er in diesem Land außerhalb des Stacheldrahts kannte.

Es war schrecklich. Nachts wachte Clara von ihrem eigenen Stöhnen auf. Sie träumte von dem, was Erich ihr erzählt hatte. Sie träumte vom KZ. Sie träumte von den schrecklichen Dingen, die dort geschahen, sie träumte von seiner Flucht. Sie selbst war in diesem Traum die Verfolgte, ihre Füße versanken im Lehm, sie kamen nicht weiter, die Verfolger waren ihr dicht auf den Fersen. Dann schrie sie und darüber wachte sie auf, starrte schweißgebadet in die Dunkelheit und hörte dann in der Ferne das grässliche auf- und abschwellende Heulen einer Sirene.
Fliegeralarm.
Sie musste allein in den Keller, konnte Erich natürlich nicht mitnehmen. Er saß oben in seinem Verschlag, keiner der Hausbewohner ahnte etwas von seiner Anwesenheit. Clara betete still vor sich hin, betete für ihn. Sie wußte, welche Angst er ausstand, wenn die Flugzeuge über den Ort hinwegdröhnten, wenn die Flak schoß, und wenn die Explosionen die Nacht zerrissen. Sie versuchte, ihm das Leben in seinem dumpfen Versteck so bequem wie möglich zu machen. Sie bohrte von ihrer Wohnung aus ein Loch in die Decke zum Speicher, durch das sie eine elektrische Leitung zog, um Erich mit Licht zu versorgen. Er las stundenlang in seinem hebräischen Talmud, den er durch alle Fährnisse des Lagerlebens geschmuggelt und auch auf seiner Flucht mitgebracht hatte, ein kleines, engbedrucktes Buch von der Größe eines Taschenkalenders.
An den Wochenenden kam Claras Mann nach Hause. Vom Freitagabend an konnte sie Erich nicht mehr besuchen. Bis zum Montag zitterte sie, daß ihr Mann etwas entdecken könnte. Sie wußte, sie durfte das Geheimnis mit niemanden teilen, auch nicht mit ihrem Mann. An diesen Wochenenden wurde die elektrische Leitung entfernt. Erich wurde für zwei Tage mit kalter Verpflegung versorgt. Er durfte sich in dieser Zeit nicht von der Stelle rühren. Ohne daß sie es wollte, horchte Clara in diesen Tagen immer, ob vom Speicher her irgend etwas zu hören war. Ihr Mann warf ihr vor, nervös geworden zu sein. Sie war es.
Die Wochen vergingen. Erich erholte sich langsam. Die alte Furcht verließ vor den Verfolgern verließ ihn, aber die Angst vor der Entdeckung blieb, für ihn und Clara. Schwierigkeiten bereitete auch langsam die Versorgung Erichs. Es war das sechste Kriegsjahr. Clara Greulich musste von ihren Lebensmittelkarten leben, und das waren damals schon Hungerrationen. Jetzt musste sie das, was sie bekam, noch mit Erich teilen. Was für einen Menschen kaum reichte, mußte jetzt für zwei langen. Jeden Morgen sammelte sie nach dem Unterricht in der Schule die Brote, welche die Bauernkinder nicht gegessen hatten, und nahm sie heimlich in ihrer Tasche mit nach Hause. Erich verschlang sie mit dem Hunger eines Menschen, der Jahre hindurch nicht satt geworden ist.
Je länger Erich da war, desto mehr gewöhnten sich die beiden Menschen an das seltsame und gefährliche Versteckspiel, das ihnen auferlegt war. Aber desto größer wurde auch die Gefahr, das der Junge eines Tages entdeckt würde. Mit brennenden Augen las Clara die Wehrmachtsberichte, verfolgte den Siegeszug der Alliierten im Westen, hoffte, daß jeden Tag der Krieg zu Ende sein würde. Der Dezember kam und mit ihm die deutsche Gegenoffensive in den Ardennen. Es war ein furchtbarer Schlag. Würde der Krieg nun noch monatelang weitergehen, würde sich eventuell das Blatt noch wenden? Würde das Unrecht doch noch siegen, kam doch noch dieses große Wunder, das Goebbels so geheimnisvoll zweideutig ankündigte?
Ich hatte das Gefühl, als verlöre ich den Boden unter den Füßen, als müsse ich ertrinken, sagt Clara Greulich. Ich hörte schon das Klopfen an der Tür, den Ruf, Aufmachen, Polizei! Ich sah Erich schon, wie er in Handschellen abgeführt wurde, ich sah mich selbst schon, allein und verlassen vor unnachgiebigen Richtern. Können Sie sich vorstellen, was es hieß, damals in einem kleinen Ort, in einem Mietshaus, in dem der Hauswirt ein hundertprozentiger Nazi war und seine Augen und Ohren überall hatte, einen Juden versteckt zu halten, der aus dem Konzentrationslager geflohen war? Können Sie sich die schlaflosen Nächte vorstellen, die bangen Gedanken, können Sie es verstehen?

Der Reporter erwidert nichts. Er sitzt ihr gegenüber, auf dem alten, verschlissenen Sofa, in der engen Bauerstube des Hauses in Bronsfeld. Hinten im Garten liegt das neue Haus, noch im Rohbau. Die pensionierte Lehrerin hat es von ihren Ersparten gebaut. Nicht für sich, sondern für ihr Kind, einen Jungen. Sie hat nicht viel in ihrem Leben für sich selbst getan. Sie war Lehrerin, hat ein Leben lang versucht, störrischen Landkindern Bildung beizubringen, sie hat im Krieg ihr Leben für einen jungen Mann riskiert, den sie kaum kannte. Und nach dem Krieg mußte sie sich allein durchkämpfen, denn von ihrem Mann wurde sie geschieden.
Ach, Sie wissen, wie das ist, wenn man alt wird, und wenn die Männer sich nach jüngeren Frauen umsehen, nach jungen Mädchen. Sie lächelt resigniert. Aber das tut nichts zur Sache. Ich bin nur froh, daß ich damals mit niemanden über Erich gesprochen habe, auch mit meinem Mann nicht. Bronsfeld liegt in der Eifel, mitten in tiefen Tannenwäldern. Es liegt weitab hinter den Hügeln, und das Leben geht hier einen gemächlichen Gang. Hier lebt sie, mit Katze und einem Schäferhund, der Rolf heißt, und nicht von ihrer Seite weicht. Sie ist eine einfache Frau, sie ist verwundert darüber, daß ein Reporter sie besucht, sie will kein Aufsehen erregen. Sie weiß, daß es nicht selbstverständlich war, so zu handeln, wie sie es damals getan hat. Sie geht nicht leicht darüber hinweg. Sie tut nicht so, als sei es gar nichts gewesen. Es war furchtbar, sie lebte in ständiger Angst.
Weihnachten kam. Ich hatte für Erich heimlich einen Pullover gestrickt. In einer Stunde, als mein Mann, im Weihnachtsurlaub, nicht zu Hause war, schlich ich mich nach oben auf den Boden und beschenkte Erich mit dem Pullover und selbstgebackenen Kuchen. Er weinte wie ein Kind. Er war Jude, aber für ihn war Weihnachten genauso das Fest des Friedens wie für uns Christen. Aber der Frieden blieb aus. Ich versuchte ihm zuzureden, ihn zu trösten. Er sah mich an und sagte: Nächstes Jahr Weihnachten werde ich als freier Mann leben, nächstes Jahr brauche ich mich nicht mehr zu verstecken, oder ich bin schon längst tot. Es folgten furchtbare Tage. Mein Mann hielt sich die meiste Zeit im Hause auf. Manchmal schien es, als lausche er nach oben, zum Speicher hin. Seine Blicke verfolgten mich, seine Augen wanderten mit mir in der Wohnung umher, wenn ich meine Hausarbeit tat. Ahnte er etwas? Misstraute er mir? Die Angst machte mich halb wahnsinnig.
Kurz vor Ostern 1945 fluteten deutsche Truppen auf der Flucht vor den anrückenden Briten durch Borken. In der Nacht darauf schoß Artillerie in den Ort. Einige Häuser gerieten in Brand. Während die Männer zum Löschen eilten, schlich sich Clara in das Versteck von Erich und raunte ihm zu: Sie kommen! Erich schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte leise. Er flüsterte hebräische Worte vor sich hin, sie wußte, er betete. Noch eine qualvolle Nacht verging. Aber am nächsten Morgen dröhnten Kolbenschläge gegen die Haustür. Die Briten waren da.

Erich hat mich besucht, ein paar Jahre nach dem Krieg, sagt Clara Greulich. Er hat inzwischen geheiratet. Er hat Frau und Kinder. Er trug den Pullover, den ich ihm damals zu Weihnachten gestrickt hatte. Wir haben ein bißchen geweint, und wir haben uns von der Zeit damals erzählt. Seine Frau saß dabei und hörte zu. Sie wußte alles, aber von dem, was wir sprachen, verstand sie kein Wort. Niemand kann es verstehen, der nicht so gelebt hat. Ein solches Leben verändert den Menschen. Erich war anders geworden und Clara auch. Sie geht mit Erich nach draußen, und verabschiedet sich.
Als sie davonfahren, denkt sie an Erich, wie er durch den Wald floh, allein, gehetzt, in der Kälte des Winters.

Wir sind anders geworden, sagte Clara Greulich.

Sind wir es auch, die anderen, die dies nicht erlebt haben? Ist unsere Hand offener, unser Herz stärker, unser Mut unerschrockener, unsere Liebe größer geworden?

KÖNNTE NIE MEHR PASSIEREN WAS DAMALS GESCHAH?

Aus dem Englischen übersetzt 2008