Zeitzeugenberichte

Sachsenhausen November 1938

>Stacheldraht – Stacheldraht lang und hoch, lückenlos – endlos – trostlos. Scheinwerfer – Maschinengewehrtürme – Mauern – Draht. Dann ein Tor: dann Stoßen – Schreien – Stöhnen – Schläge fallende Menschen.<

>Hierher! Wollt ihr laufen, ihr Judenlümmel, faules Gesindel, schneller – hierher! – Halt, stehen bleiben, Pack, verfluchtes elendes! Euch werden wir es zeigen! – Halt dein Maul da, dreckiger Synagogenhengst, sonst knall ich dir in deine Gebetsvisage! Laßt mir ja den Stinkjuden liegen da, keiner rührt sich, sage ich euch! Ist nicht weiter schade drum, wenn einer von euch Schweinen gleich verreckt. Ihr kommt ja doch alle dran! Immer abwarten. Wir haben für jeden was ausgedacht. Keine Angst, geschossen wird nicht auf euch, die Kugel ist viel zu schade für so ein altes Judenschwein. Wir haben unsere eigenen Methoden. - Haltet die Fresse da, ihr Lumpen, ihr hässlichen Rabbiner!<

Wir stehen nun hinter dem Draht. Dort, ganz nah eigentlich ist noch die andere Welt, ganz wenige Schritte. Das Hirn wird wieder leer, der Blick starr. Das ist wieder die Betäubung. Das Denken ist abgeschaltet, der Geist arbeitet nur noch unterbewußt. Wir stehen stundenlang. Dann Kniebeugen. >Runter, ihr Gesindel, noch tiefer, noch tiefer. < >Wollt ihr unten bleiben! Lies vor, du Sau, was hier auf der Tafel steht. < >Wir haben – wir haben. < >Wirst du wohl lauter lesen. Du Misthaufen! Jetzt alle im Chor: Wir haben den Diplomaten vom Rath ermordet!<

Mehrere tausend Stimmen wiederholen diese Worte im Chor, mitten in der Nacht, auf dem mit blutig geschlagenen Menschen überfüllten Platz.

Weit hinaus geht dieser Ruf. Die Sterne über uns, mein Gott, wie nahe sind Himmel und Hölle beieinander! Hier und da bricht ein Körper zusammen, man läßt ihn achtlos liegen, es ist ja nur ein dreckiger Jude, was kommt es darauf an.

Die in >Ordensburgen< ausgebildeten SS-Männer, die meistens nicht älter als 21 Jahre sind, stürzen sich besonders auf Greise, korpulente Männer, auf diejenigen die >jüdisch< aussehen oder deren Äußeres auf einen liberalen Beruf schließen läßt. Einem Rabbiner wird ein Schild umgehängt: >Ich bin ein Landesverräter und mitschuldig an vom Raths Tod.< Er muß das Schild zwölf Stunden lang im Lager herumführen. Junge, sportlich aussehende Leute werden verschont. Die SS-Leute scheinen sogar ein gewisses Vergnügen an ihnen zu finden.

Einer schneidet sich mit der Rasierklinge die Pulsadern auf. Das Blut rinnt ihm über die Hände, Judenblut. Ein SS-Mann kommt vorbei, lächelt, schlägt ihm mit dem umgedrehten Revolver in die Zähne. Nun rinnt auch das Blut aus dem Gesicht. Der Mann sackt zusammen – stöhnt – röchelt – fällt zu Boden.

Und doch glänzen die Sterne am Himmel, Himmel und Hölle sind nahe beieinander.


Sachsenhausen November 1938

Es mag gegen 10 Uhr Abends gewesen sein, als wir im inneren Lager eintrafen. In der ab und zu durch Scheinwerfer erhellten Dunkelheit mögen etwa 2 000 – 3 000 Mann in Gruppen zu Zehnerreihen aufgestellt gestanden haben, die, wie ich hörte, im Laufe des Tages oder bereits der vorherigen Nacht, eingetroffen waren. Mit nur kurzen Unterbrechungen standen wir auf dem Appellplatz bis gegen ½ 3 oder ½ 4 Uhr des nächsten Tages. Dann ging es zum Entkleiden, Baden, anschließend war Appell bis gegen ½ 6 Uhr, so daß wir im ganzen ungefähr 18 bis 19 Stunden hintereinander standen. Verpflegung wurde nicht gegeben. Wenn sich gerade die bewachenden SS-Mannschaften vorübergehend etwas entfernt hatten, gab die Aufsicht uns führenden politischen Gefangenen etwas Trinkwasser. Sonst wurde streng darauf geachtet, das wir in aufrechter Haltung und ausgerichtet standen. Die bewachenden SS-Schar- oder Blockführer belustigten sich damit, sich die Zeit mit den unflätigsten Beschimpfungen, Drohungen, Mißhandlungen zu verkürzen. Die Mißhandlungen bestanden insbesondere darin, daß sie mit ihren Stiefeln Stöße ins Gesäß versetzten oder einen ins Gesicht schlugen. Die Beschimpfungen wurden zumeist damit verbunden, daß sie die einzelnen Leute nach ihrem Beruf und Stand fragten und dann im Anschluß daran unflätige Schimpfworte gebrauchten. Von Anfang an hatte man das Gefühl, daß alles darauf ausging, uns durch möglichst erniedrigende und demütigende Behandlung mürbe zu machen. So zwang man verschiedene Leute, Brotkrummen, die sie von dem mitgebrachten Brot auf die Erde hatten fallen lassen, in den Mund zu nehmen und zu zerkauen. Dann wurden anderen Schilder in die Hand gedrückt, die mit erhobener Hand gehalten werden mußten und auf denen beschimpfende Inschriften standen wie: >Wir Juden sind die Zerstörer der deutschen Kultur!< Ab und zu wurden auch unter dem Druck von Mißhandlungen Sprechchöre gebildet, die ähnliche Sätze sprechen mußten. Besonders gefielen sich die SS-Leute darin, uns klarzumachen, daß wir nun für alle Zeit erledigt und zertrümmert seien, höhnische Hinweise darauf, daß die Juden für Lebenszeit festgehalten würden und daß >sie< nun das Recht und die Macht hatten. Einer der SS-Leute rühmte sich, daß er den Beinamen >der Satan von Oranienburg< führe und dementsprechend uns behandeln würde.

Symptomatisch dafür, wie die Bewachungsmannschaften bemüht waren, uns unter Druck zu setzen, scheint mir folgender Vorfall. In der vor mir stehenden Gruppe befanden sich besonders viele Akademiker: Ärzte, Richter, Rabbiner, unter anderem auch ein Oberstaatsanwalt. Als dieser seinen frühren Beruf und Namen nannte, wurde er wie auch andere nach seinem Einkommen, Größe seiner Wohnung, Höhe der Pension etc. gefragt. Nachdem ihm der fragende SS-Mann zunächst klargemacht hatte, daß er ja ein Zerschmetterter sei und alles für ihn verloren sei. Kam er plötzlich darauf, das der Oberstaatsanwalt ihn von früher her kennen müsse: „Sag mal, wir kennen uns doch, du bist doch der, der 1931 mich und noch fünf andere Kameraden für ein halbes Jahr in den Knast gebracht hat.“ Als der Angesprochene sagte, er könne sich nicht mehr erinnern, fuhr der SS-Mann fort:“ Wir haben uns immer schon gefragt hier, wo bleibt denn bloß der X, auf dich hatten wir ja schon lange hier gewartet, na, jetzt kannst du dir gratulieren, jetzt werden wir mit dir abrechnen.“


Sachsenhausen November 1938

Ankunft im Konzentrationslager Sachsenhausen

Wir wurden auf Lastkraftwagen geladen und abtransportiert. Niemand wußte, wohin. Nach langer Fahrt über die nördlichen Vororte Berlins landeten wir im Konzentrationslager Sachsenhausen. Als wir in der Dunkelheit vom Wagen springen mußten, wurden wir von SS-Leuten mit Ohrfeigen, Fußtritten und Kolbenstößen empfangen. Dann wurden wir
durch ein großes Tor auf den riesigen durch drei große Scheinwerfer erleuchteten Lagerplatz getrieben. Dort wurden wir geordnet und durch eine Ansprache des Lagerkommandanten begrüßt. Er sagte ungefähr folgendes: „Ihr seid hier als Sühne für die feige Mordtat eures polnischen Rassengenossen Grünspan. Ihr müßt als Geiseln hier bleiben, damit das Weltjudentum nicht weitere Morde unternimmt. Ihr seid hier nicht in einem Sanatorium, sondern in einem Krematorium.
Jedem Befehl der SS ist Folge zu leisten. Die SS hat das Recht, auf euch zu schießen, wann sie will. Unsere Jungens treffen verdammt gut. Weglaufen hat also keinen Zweck. Der Stacheldraht um das Lager ist mit Starkstrom geladen. Wer ihn berührt, ist sofort tot. Bei jedem Fluchtversuch wird geschossen. Eure Verpflegung müßt ihr abarbeiten. Wir werden dafür sorgen, daß eure dicken Bäuche verschwinden.“
Wir standen die ganze Nacht auf dem riesigen Appellplatz. Austreten war nicht erlaubt. Alle paar Minuten trafen neue Transporte ein. In den frühen Morgenstunden wurden wir in eine Baracke geführt und mußten uns dort vollkommen ausziehen. Geld und Wertsachen wurden uns gegen Quittungen abgenommen. Dann kamen wir nackt in einen Nebenraum, wo uns der Kopf geschoren wurde. In einem dritten Raum wurden wir dann mit leichter Unterwäsche versehen sowie einem blau-weiß gestreiften Drillichanzug. Schließlich wurden wir registriert und wieder zum Appellplatz zurückgeführt.
Wir erkannten uns gegenseitig nicht mehr in diesem Aufzug.
Während wir da standen, belustigten sich die SS-Leute damit, uns wahllos zu ohrfeigen oder zutreten. In meiner Nähe stand ein riesengroßer, starker Mann, ein Mathematikprofessor. Als diesem von einem SS-Mann ein Faustschlag versetzt wurde, schlug er zurück, daß der SS-Mann hinpurzelte. Dies sah der Lagerführer und ließ ihn festnehmen. Auf seinen Wink wurde ein Holzbock herangebracht, und der Professor wurde über diesen festgeschnallt. Vier Männer waren dazu nötig, um ihn zu bändigen. Dann mußten wir alle einen großen Kreis bilden, und der Lagerführer verkündete mit lauter Stimme, daß der Jude Itzig zu 25 Stockschlägen verurteilt sei. Und jetzt bot sich mir das Menschenunwürdigste Schauspiel, das ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Ein riesiger SS-Mann schlug mit einem Ochsenziemer nach Kommando 25mal auf den Gefesselten. Dieser schrie und brüllte vor Schmerz, und das Blut spritzte nur so umher. Bei den letzten Schlägen war er wohl schon Ohnmächtig, denn er schrie nicht mehr.
Dann wurde er abgeschnallt, es wurde Salz und Pfeffer in die Wunden gestreut, und der Bewusstlose wurde fortgeschleppt.
Wir haben ihn nie wiedergesehen.
Nun kamen wir endlich in eine Baracke, die für 75 Personen berechnet war und in welche 300 Personen hineingepresst wurden. Das war unsere Schlaf- und Speisestätte. Wir mußten nachts auf dem Fußboden schlafen, so eng aneinandergepreßt, daß wir nur seitlich liegen konnten. Viele Kranke waren unter uns, die genauso hart Arbeiten mußten wie alle anderen.
Kein Arzt konnte geholt werden, keiner durfte nachts die Baracke verlassen. In den ersten drei Wochen starben etwa 25 Personen unseres Blockes. Wie oft kam es vor, daß nachts der Nachbar röchelte und im Todeskampf lag. Keiner konnte ihm helfen, und am Morgen lag man neben der Leiche.
Wenn wir Morgens um 5 Uhr, noch in völliger Dunkelheit, zur Arbeit zogen, sahen wir jedes Mal einige tote Männer im Drillichanzug im Stacheldraht hängen. Sie hatten aus Verzweifelung ihrem leben selbst ein Ende gesetzt und zogen einen schnellen Tod dem langsamen, qualvollen Verenden im Lager vor. Man mußte 12 bis 15 Stunden arbeiten (Straßenbau, in der Fabrik oder im Walde) und bekam erst am Abend einen Teller warmes Essen. Am schlimmsten war die Kälte, gegen die man in der dünnen Unterwäsche und den Drillichanzügen nicht geschützt war. Es war ein strenger Winter, und wir hatten bis zu 20 Grad Kälte. Erfrierungen von Gliedern waren an der Tagesordnung. Die meisten aber starben an Lungenendzündung.
Für die kleinste Kleinigkeit wurden grausame Strafen verhängt. Die beliebteste war das „Torstehen“. Man mußte eine halbe Stunde völlig Nackt mit erhobenen Armen vor dem Tor im Schnee stehen. Wer die Arme sinken ließ oder umfiel, wurde solange geprügelt, bis er wieder aufstand oder verendetete. Wer es jedoch überstand, hatte mindestens schwere Erfrierungen, meist aber eine tödlich verlaufende Lungenendzündung davongetragen.


Sachsenhausen November 1938

In der Frühe gegen 8 Uhr erschien der Kommandant mit Lagerführer persönlich, ging die Front ab, tat eine beschimpfende Äußerung über die Strolche, denen seiner Meinung nach Ordnung erst noch beigebracht werden müsste, fragte, wie lange wir hier ständen, ohne aber auch nur das geringste sonst zur schnellen Unterbringung etwa zu veranlassen. In der Nacht gegen 1 Uhr wurden ebenfalls unter Stößen und Mißhandlungen die Personalien aufgenommen. Nachmittags gegen 3 ½ Uhr ging es dann zum Umkleiden und zum Duschen.

Vor dem Baderaum ist mir ein Vorfall noch im Gedächtnis. Mein Nebenmann hatte es ganz vorübergehend gewagt, da er zum Ankleiden beide Hände gebrauchte, den Hut, da er sich unbeobachtet glaubte, für einen Augenblick aufzusetzen. Ein doch in der Nähe anwesender SS-Mann schlug ihm den Hut ohne weiters vom Kopf, versetzte ihm noch ein paar Faustschläge ins Gesicht und brüllte: „Du Scheißjude, gibst du zu, daß du ein Scheißjude bist!“ Mein Nebenmann bewahrte trotz des Vorangegangen die Haltung und sagte mit betonter Festigkeit: „Ich bin Jude!“ Darauf erneute Schläge und wieder die gleiche drohende Frage. Der Gefragte bewahrte trotz drei bis viermaliger Wiederholung derselben Szene seine feste Haltung und wiederholte immer nur: „Ich bin ein Jude!“ Der SS-Mann forderte ihn dann auf, sich noch besonders bei ihm während des Duschens zu melden. Es ging unter eine kalte und warme Dusche, statt der abgegebenen Unter- und Oberkleidung wurde Häftlingskleidung, die in dünner Unterwäsche, Hose und Rock aus dünngestreiftem Stoff oder alten Soldatenröcken aus der Kriegszeit bestand, ausgeteilt.
Im vollkommenen Gegensatz zu dem überaus brutalen und rohen Verhalten der bewachenden SS-Mannschaften stand die Haltung der Häftlinge, denen neben den SS-Männern die Aufsicht übertragen war. Wie sie nur irgendwie konnten, suchten sie die Lage zu erleichtern und wiesen uns immer wieder darauf hin, daß die ersten Tage im Lager immer besonders scharf seien, daß man sich dann aber, was uns wenig aussichtsvoll erschien, daran gewöhne.
Bezeichnend ist auch, daß offenbar absichtlich nach den Frontkämpfereigenschaften oder nach der militärischen Vergangenheit weder bei der Aufnahme der Personalien noch sonst gefragt wurde. Von vornherein wurde bekanntgegeben, daß alle Orden und Ehrenzeichen abzulegen seien. Als bei der Abgabe der Wertsachen ein Bekannter von mir neben dem eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse das Verwundetenabzeichen abgab, sagte der die Sachen in Empfang nehmende SS-Mann: >Dir werden wir hier ein zweites Verwundetenabzeichen besorgen!<


Bericht von Karl Polak

Die Frauen, die Kinder und die gebrechlichen alten Männer ließ man im Laufe des 10. November nach Hause gehen. Die übrigen 56 Männer wurden im Viehhof in den Schweinestall gesperrt und am nächsten Tag, dem 11. 11. 1938, zusammen mit den Männern der übrigen jüdischen Gemeinden aus der Umgebung in das Konzentrationslager Sachsenhausen transportiert. Unter ihnen waren auch Alfred und Bernhard Weinberg und ihre Grünberg-Schwagern.

Karl Polak, der den Holocaust überlebt hat und im Herbst 1945 nach Leer zurückkehrte, berichtete später darüber:

Am Nachmittag kamen Viehwaggons. Wir wurden wie Vieh mit Schlägen hineingetrieben, und dann setzte sich der Zug in Richtung Oldenburg, etwa 60 km entfernt, in Bewegung. Dort durchfuhren wir den Bahnhof und hielten irgendwo auf den Geleisen. Von ferne sahen wir ein großes Gebäude, das aussah wie eine Schule oder eine Kaserne, und auf dem Hof davor sehr viele Menschen, offenbar zusammengetrieben aus dem ganzen Bezirk. Ihr Anblick war jammervoll. Niemand von uns wußte den Grund für diese Massenverhaftungen, noch was man mit uns vorhatte. Wir waren in absoluter Unkenntnis und Hoffnungslosigkeit. Aber ich erblickte unter den vielen Gesichtern das meines Onkels Jakob aus Oldersum, er war ein Bruder meines Vaters.

Unablässig trafen neue Wachmannschaften ein, an den Zug wurden immer neue Waggons gekoppelt, zwischendurch erhielten wir etwas Kommißbrot. Dann brüllten unsere Wächter Befehle, so daß unsere Leute immer unruhiger wurden. Besonders die Älteren litten unter dieser Behandlung und fielen beinahe um. Einer von ihnen war mein Onkel Jakob, Schwerbeschädigter aus dem ersten Weltkrieg. Er hatte noch Granatsplitter im Körper, die nicht hatten entfernt werden können und die machten ihm immer noch Beschwerden.

In der folgenden Nacht setzte sich der endlose Zug in Bewegung, immer noch unter strenger Bewachung. Stundenlang rollten wir, nach unserer Meinung in östliche Richtung, mit langen Aufenthalten auf Ausweichgeleisen. Flucht war unmöglich; denn unsere Bewacher waren bewaffnet, außerdem hätten nur wenige von uns dazu noch die Kraft gehabt.Endlich, nach vielen Aufenthalten und Rangierereien, hielt der Zug. Ich dachte, wir wären in der Umgebung von Berlin, und das erwies sich dann auch als richtig. Die Türen der Waggons wurden brutal aufgerissen, und wir sahen eine große Anzahl von SS-Leuten auf uns zukommen, sie waren mit Reitpeitschen bewaffnet und hatten Hunde bei sich. Einige brüllten: Kommt raus, ihr dreckigen Judenschweine, los, lauft! Beeilung! Wir glaubten, die Welt ginge unter. Die Älteren von uns stolperten beim Sprung aus dem Waggon, und dann wurden sie heftig angeschnauzt. Die SS-Leute schlugen auf sie ein, hetzten ihre Hunde auf sie und ließen diese zubeißen. Ein alter Mann, Herr Sally Löwenstein, fiel tot um. Wir anderen liefen, immer von den SS-Leuten getrieben, in ein Barackenlager, das von einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun umgeben war, es war das Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg. Über dem Eingangstor standen die Worte zu lesen: Arbeit macht frei!

Wir mußten auf einem großen Platz in Fünferreihen antreten, und dort haben wir zwanzig Stunden lang gestanden. Viele brachen zusammen und blieben leblos am Boden liegen. Während dieser Zeit fragte die SS jeden nach seinem Beruf. Diejenigen, die einen freien Beruf angaben, der womöglich noch ein langes Studium erfordert, etwa Ingenieur oder Rechtsanwalt, erhielten einen besonderen Denkzettel in Form von Fuß
tritten und Faustschlägen. Einen von uns fragte ein SS-Mann: Bist du Rabbiner? Nein, ich bin Lehrer. Ein stinkiger Jude bist du! brüllte der zurück. Der Unglückliche mußte unter den Schlägen des SS-Mannes mit lauter Stimme mehrmals wiederholen: Ich bin ein stinkiger Jude.

Ein alter Mann fiel ohnmächtig um. Ein SS-Mann trat herzu, versetzte ihm einige Stiefeltritte und sagte: Steh' auf, du bist hier nicht im Sanatorium! Aber der Mann blieb leblos, trotz der Tritte. Nach einer Stunde wurde er auf einer Bahre fortgetragen; er war schon lange tot. - Ich berichte hier nur über Vorfälle, die ich selbst aus der Nähe beobachten konnte; aber man könnte ein ganzes Buch nur über unseren Empfang und unseren Aufenthalt in Sachsenhausen schreiben.

Bevor wir in die Baracken eintreten durften, wurden uns die Haare geschoren; unsere persönlichen Sachen wurden uns abgenommen und in einem namentlich gezeichneten Säckchen verschlossen. Dann erhielten wir Gefangenenkleider mit einer aufgenähten Zahl. Während der drei Monate, die ich in Sachsenhausen verbrachte, habe ich viel Leid gesehen. Morgens wurden - nach endlosen Zählappellen - die Arbeitsfähigen an den Arbeitsplatz gebracht. Es war Winter und bitterkalt. Die Älteren erstarrten bei dem Frost und wurden krank. Ich mußte mit einer Gruppe von Leidensgefährten in einer Hafenanlage arbeiten. Dort waren Kähne zu entladen, die mit Steinen, Zementsäcken und Ziegelsteinen beladen waren. Wer sich ungeschickt anstellte oder zu schwach war, wurde von der SS-Wache in den Kanal geworfen und mußte anschließend den ganzen Tag in den nassen Kleidern arbeiten. Das löste vielerlei Erkrankungen aus, die oft tödlich ausgingen. Auch innerhalb des Lagers waren gewerbliche Werkstätten, in denen Häftlinge von uns eingesetzt wurden. Dort war die Arbeit etwas leichter, doch auch nicht ohne Schikanen.

Nach ungefähr zwei Wochen wurden die ersten Gefangenen, die zusammen mit mir angekommen waren, entlassen. Bis Ende Dezember erhielten die Älteren, besonders die ehemaligen Weltkriegsteilnehmer, eine gewisse Freiheit zurück. Zu diesen gehörten auch mein Vater und mein Onkel; beide hatten sehr unter der Haft gelitten. Mein Vater hatte Erfrierungen an Händen und Füßen; auch mein Onkel war von den Mißhandlungen gezeichnet. Für mich war es eine Erleichterung zu wissen, daß ich als Einziger von meiner Familie in diesem Lager blieb. Wer das Lager verließ, mußte sich bei der politischen Abteilung durch Unterschrift verpflichten,nichts von dem zu enthüllen,was er gesehen, gehört oder erlitten hatte. Mir persönlich wurde bei der Entlassung bedeutet, daß ein Bruch dieses Verbots eine mehrjährige Haftstrafe zur Folge haben würde. - Man kann sich vorstellen, mit welcher Vorsicht wir uns bewegen mußten, als wir wieder zu Hause waren."

Soweit der Bericht von Karl Polak.

Die meisten Gefangenen kamen nach und nach frei. Etliche ältere und gesundheitlich angeschlagene Männer überlebten diese Zeit nicht. Karl Polak wurde am 9. Februar 1939 entlassen. Die letzten Leeraner Juden kamen erst Ende Februar wieder nach Hause, unter ihnen auch Alfred Weinberg