Dinslaken Novermber 1938

Schilderung Dr. Salomon Herz

Im Rheinland wie im ganzen Reich wurden jüdische Altersheime, Kranken- und Waisenhäuser so wenig verschont wie Synagogen, Geschäfte und Wohnungen. Dr. Salomon Herz, der nach Australien auswanderte und 1940 von der Universität Harvard einen Preis für die Schilderung seines Leben in Deutschland erhielt, erinnert sich an die Tage, die er im November 1938 als stellvertretender Leiter des jüdischen Waisenhauses in Dinslaken, erlebte. Alle polnischen Jugendlichen über fünfzehn Jahre waren bereits im Oktober nach Polen abgeschoben worden. Die anderen Insassen sollten am 10. November der Zerstörung ihres Heims beiwohnen.

Morgens 5.45 Uhr. Das energische Läuten zur frühen Morgenstunde brachte mich schnell aus dem Schlaf. Rasch warf ich mir einen Mantel um und öffnete – nichts Gutes ahnend – die Haustür. Drei Männer (zwei Gestapovertreter und ein Polizeibeamter) traten ein und erklärten sogleich, wie in allen jüdischen Wohnungen so auch im Waisenhaus eine Durchsuchung nach Waffen vornehmen zu müssen. Die Beamten gingen sofort an ihre Aufgabe. Im Büro wurde die Telefonleitung durchschnitten, Kästen und Bücher kontrolliert und nach Bargeld geforscht. < Etwa eine Stunde später, um 7 Uhr, soll in der Haussynagoge die Morgenandacht beginnen. Dr. Herz, dem die drei Polizeibeamten vor ihrem Abgang befohlen haben, niemand vor 10 Uhr aus dem Haus zu lassen, will jede Panikstimmung vermeiden, aber trotzdem alle Insassen auf die herannahenden Ereignisse vorbereiten. So ruft er die 46 Anwesenden, darunter 32 Kinder von 6 bis 16 Jahren, im Speisesaal zusammen, und hält ihnen eine kleine Ansprache, die mit den Worten endet: >Bleibt stark! Vertrauet zu Gott! Wir werden auch diese schwere Zeit überstehen.<

Nach dem gemeinsamen Frühstück versucht der Hauslehrer alle Zöglinge irgendwie zu beschäftigen. ).30 Uhr: heftiges Schellen an der Haustür. Dr. Herz öffnet. Im selben Augenblick stürmt eine Kette von etwa fünfzig Mann in das Haus, begibt sich in den glücklicherweise leeren Speisesaal und beginnt mit einer fast wissenschaftlichen Gründlichkeit ihr Zerstörungswerk. Angstschreie der der Kinder hallen durch das Haus. Dr. Herz ruft mit überlauter Stimme: >Alle Kinder gehen mit mir auf die Straße! < - eine Anweisung, die dem Befehl der Gestapo widerspricht. Ohne Hut und ohne Mantel eilen die meisten Kinder trotz des nasskalten Wetters auf die Straße und folgen Dr. Herz zum Rathaus, wo er sie unter Polizeischutz stellen will.

Etwa zehn Polizisten waren hier stationiert, Anlaß genug für ein schaulustiges Publikum, auf etwa kommende Sensationen zu warten. Sie kamen auch gleich, indem mir der Hauptwachtmeister der Schutzpolizei F. entgegenschrie: >Die Juden bekommen von uns keinen Schutz. Machen Sie, daß Sie mit ihren Kindern weiterkommen!< >Schlagen Sie mich und die Kinder doch tot, dann ist der Fall schnell erledigt!<

Der Beamte nimmt diese Bemerkung von Dr. Herz mit einem zynischen Lächeln hin und schlägt dann das Schloß des Gartentores des Waisenhauses, wohin er sie zurückgeführt hat, mit blanker Waffe auf. Dann treibt er die Gruppe auf die nasse Wiese mit der Anweisung, die Stelle vorerst unter keinen Umständen zu verlassen. Von da aus wohnen sie der systematischen Zerstörung des Hauses bei, während das Publikum, das sich am Gartenzaun angesammelt hat, sich völlig passiv verhält.
Gegen 10.15 Uhr heulen die Sirenen. Eine riesige Rauchwolke verrät, daß die Synagoge in Brand gesteckt worden ist. Bald erscheinen kleinere Rauchwolken über jüdischen Häusern, die unter sachkundiger Leitung der Feuerwehr angezündet worden sind. Eine halbe Stunde später erscheint der Polizeikommissar, um mit Dr. Herz >die Lage zu besprechen.<
„Was gedenken Sie zu tun?“
„Ich will von der Behörde noch heute die Genehmigung, mit allen Kindern nach Belgien oder Holland auswandern zu dürfen.“
Während beide sich im Haus über Berge zerstörter Gegenstände fortbewegen – sogar das Gelände des Treppenhauses ist herausgerissen - steht plötzlich ein junger Bursche in Zivil vor ihnen und ruft dem Polizeikommissar mit lauter Stimme zu: „Was will denn dieser Jude bei Ihnen!“
„Machen Sie schnellstens, daß Sie zu Ihren Rassengenossen kommen,“ schreit daraufhin der plötzlich verwandelte Polizeikommissar. Inzwischen haben sich einige Polizeibeamte eingefunden, die Dr. Herz auffordern, sich mit allen Insassen des Waisenhauses in Reih und Glied aufzustellen. So werden sie von zwei Polizisten durch ein Spalier neugieriger Zuschauer bis zum Schulhof, der neben der Synagoge liegt, geführt, wo noch andere schlecht oder leicht bekleidete Dinslakener Juden von SA-Leuten hingetrieben werden. Inzwischen sind neunzig Personen festgenommen worden, - sie werden im kleinen Schulsaal untergebracht. Die Männer unter fünfundsechzig Jahren werden bald aufgerufen und ins Gefängnis vor ihrem Abtransport nach Dachau gebracht.
Dr. Herz darf mit seinen Zöglingen bleiben, weil ihm der Aktionsleiter den Auftrag erteilt, für Ruhe und Ordnung zu sorgen und ihn zum Sprecher für alle anwesenden Juden ernennt, deren Personalien er aufnehmen muß. Eine ältere Frau fällt in Ohnmacht. Der einstige Stadtverordnete und Direktor der Handelsschule sitzt stöhnend in einer Ecke – man hat ihn derart auf den Kopf geschlagen, - daß die Wunde trotz des Verbandes noch blutet. Dr. Herz gelingt es, in einem Kuvert etwas Wasser für ihn an der Wasserleitung im Flur buchstäblich zu >stehlen. < Plötzlich herrscht völlige Ruhe. Der Parteivertreter in Zivil mit Schirmmütze ist eingetreten, und hält eine Ansprache:

„Leute, hört zu. Unbekannte Elemente haben die Zerstörung heute Vormittag angerichtet. Man kann das ja verstehen. Ihr müßt euch vorstellen, da trauern in Düsseldorf eine deutsche Mutter und ein deutscher Vater um den hoffnungsvollen Sohn, der von einem Juden ermordet wurde. Das müßt Ihr verstehen, Leute! Diese Frau (auf seine Begleiterin zeigend) ist eine deutsche Frau, und sie wird Ihnen aus diesem Grund Zeuge genug sein, daß keinem Juden hier ein Haar gekrümmt wurde. Sie brauchen keine Angst zu haben! Wir sind ja schließlich nicht in Rußland! – Der Arzt wird gleich kommen. – Falls Sie Hunger haben, müssen Sie Ihr Geld zusammenlegen – Ihr habt ja genug – und jemand kann dann in der Stadt etwas zu essen holen.“
Nach einer Pause fügt er hinzu: Ich möchte noch bekanntgeben, daß die dem Waisenhaus gehörende Kuh, die bei einem >deutschen< Bauern untergestellt wird, auf unsere Veranlassung hin weitergefüttert wird. Denn Tiere dürfen auch an diesem Tag nicht leiden.“

Gegen 18.30 Uhr erscheint der Parteivertreter wieder, diesmal in brauner Uniform, und befiehlt den Inhaftierten, sofort zu einem in der Stadt gelegen Gasthaus zu marschieren. Die Kinder sollen auf einem Leiterwagen Platz nehmen, alle anderen hinterherlaufen. Nach etwa zwanzig Minuten trifft der >Judenzug<, der sich wieder durch eine ein Spalier bildende Masse den Weg bahnen muß, am Ziel ein. Die Tanzfläche des Saales, in den man sie führt, ist mit Stroh und einigen Bettkissen bedeckt, die man aus dem Waisenhaus geholt hat. Über der Bühne hängt ein Bild Adolf Hitlers, das aber vor der Ankunft der Juden schnell mit einem Tuch verhängt worden ist. Ein SA-Führer teilt Dr. Herz mit, das es für alle Inhaftierten Nudeln mit Backobst geben wird >und kein Nationalsozialist habe etwas Unrechtes dazwischen gemengt! < Um 20 Uhr werden alle anwesenden Jungen über fünfzehn Jahre und alte Männer zur Übernachtung in einem Pferdestall abgeholt. Um 22 Uhr soll Bettruhe sein. Aber wie kann man die Kinder nach der ihnen gewohnten Weise zu Bett bringen in Anwesenheit von vierzig uniformierten und bewaffneten SA- und SS-Leuten? Dr. Herz ist der Ansicht, daß die religiös erzogenen Kinder gerade an diesem Abend nicht auf das Nachtgebet verzichten sollen. Daher fasst er Mut und betet es ihnen mit laut vernehmbarer Stimme vor, und die Kinder sprechen jedes Wort im Chor nach. Sichtbar erstaunt, ziehen sich alle Uniformierten – Mit Ausnahme eines Polizeibeamten und eines SA-Mannes, die zur Wache dablieben – aus dem Saal zurück. Um 3 Uhr morgens müssen drei Kranke ins Spital gefahren werden. Am nächsten Morgen kommt ein Beamter der Stadt mit der Mitteilung, er sei zum Verpflegungskommissar für die Juden bestimmt worden, und habe die Erlaubnis, für die im Waisenhaus gefundenen 132 Reichsmark Lebensmittel zu kaufen. Kochen dürfen sie im einstigen Internat, wo glücklicherweise Herd und Wasserleitung nicht zerstört worden sind. Die Einmachgläser mit Obst und Gemüse sind – wie man an den Spuren erkennen kann – als Wurfgeschosse gegen Fenster und Küchentür benutzt worden.
Als die Polizeibeamten mit ihnen allein sind, erklären sie, daß sie mit den Schandtaten des vorherigen Tages nichts zu tun haben. Einer sagt Dr. Herz, er sei in der Nacht zum 10. November etwa gegen 4 Uhr, aus dem Bett geholt worden mit dem Befehl, sofort ins Rathaus zu kommen, da eine Aktion durchgeführt werden müsse: >Wir hatten den Befehl erhalten, erst nachmittags um 4 Uhr (10. November) offiziell als Exekutive in Erscheinung zu treten und bis zu dieser Zeit die Straße den Nationalsozialisten freizuhalten. Bei meinen Kameraden herrschte wegen all dieser Dinge eine miserable Stimmung. Für einen solchen Unsinn soviel Dienst zu machen! Bis auf diesen F. sind wir alle gute Sozialdemokraten oder Demokraten. Aber was können wir in solchen Zeiten schon ausrichten?<
Am Nachmittag desselben Tages erscheint der stellvertretende Polizeikommissar im Gasthaussaal und fordert Dr. Herz auf, sofort zum Kreisleiter ins Waisenhaus zu kommen und alle Schlüssel des Hauses, die noch in seinem Besitz sind, mitzubringen. Er wird in den Speisesaal geführt, wo etwa vierzig Polizisten, SS- und SA-Männer Aufstellung genommen haben. Der Kreisleiter, ein ehemaliger >Hilfslehrer, < reißt ihm sofort die Schlüssel aus der Hand, und befiehlt ihm, in den Hof zu gehen. Vom Fenster des Saales aus schreit er ihn an: „Verbrecher, vortreten! Sie, Verbrecher, haben sich beschwert, man würde Sie schlecht behandeln.“ „Das muß ein Irrtum sein.“ „Ein Polizeibeamter erzählte mir das, und ein Beamter lügt nicht.“ „Der Beamte muß sich geirrt haben.“ „Verbrecher, Sie treten nach der Seite ab und warten, bis ich Sie wieder rufe.“ Junge Burschen in Zivil, die gerade mit dem Abtransport der Hausbibliothek in das Auto des Kreisleiters beschäftigt sind, rufen ihm zu: >Was willst du, Jude?< „Ich soll auf den Kreisleiter warten.“ „Kreisleiter, hier wartet ein Judd!“ „Hau ab, du Verbrecher,“ schreit der Kreisleiter Dr. Herz durch das Fenster zu. Abends wird Dr. Herz mehrmals ans Telefon gerufen, das sich im Vorraum der Gastwirtschaft befindet: Verwandte oder Bekannte, die um die Kinder besorgt sind, rufen aus Hamburg, Berlin, Brüssel, Amsterdam, Den Haag an. Ein Nationalsozialist, der die Gespräche durch Zwischenrufe stören will, wird von Gästen energisch zurechtgewiesen: >Die Juden sind Menschen wie wir auch. Das Ausland soll ruhig die volle Wahrheit erfahren. < Am 15. November müssen alle im Gasthaus inhaftierten Juden den Saal bis 16 Uhr räumen, weil abends ein Boxkampf dort stattfinden soll. Die meisten jüdischen Häuser sind infolge der Zerstörungen unbewohnbar, darum läßt Dr. Herz in einer abgelegen Villa zwei Zimmer für fünfzig Personen säubern und als Schlafstätten einrichten. Da die Kreisleitung alle Geschäftsleute verständigt hat, es dürfe den Juden weder etwas geliefert noch die geringste Gefälligkeit erwiesen werden, sind die Waisenkinder gezwungen, die letzten Habseligkeiten selbst auf einem Leiterwagen ins neue Domizil zu fahren. Dr. Herz kann jedoch eine zweite Nacht mit den Kindern in der Kälte, ohne Fenster und sanitäre Einrichtungen nicht verantworten. Er setzt sich mit der jüdischen Gemeinde in Köln telegrafisch in Verbindung, die die Kinder am 16. November aufnimmt.

Mit dem beschlagnahmten Geld des jüdischen Internats baut die NSDAP ein Kreisverwaltungsgebäude. Dr. Herz nimmt noch die Abmeldung bei den Behörden vor und sorgt für die Spedition der letzten Habseligkeiten. Er trifft einen Tag später in Köln ein. Seine Aufgabe besteht nun darin, gemeinsam mit den jüdischen Stellen die Auswanderung der Waisenkinder nach Belgien und Holland vorzubereiten. Ende Januar 1939 kann der >Transfer< erfolgen.

Was aber geschah mit den einstigen Zöglingen des Dinslakener Waisenhauses fünfzehn Monate später, als ihre Verfolger beide Aufnahmeländer unterjochen. Die Frage bleibt offen.