Dritter Teil E.

Die Freisprechung des Angeklagten H. von dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord

Von dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord an mehreren hunderttausend Menschen ist H. mangels eines sicheren Nachweises seiner Schuld freizusprechen.

Freilich hat auch H. den Tatbestand der Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord gemäß den 211, 47, 49 StGB an sich erfüllt, denn durch seine Arbeit im oberen Lager, auch wenn sie nur in der Beaufsichtigung der Leichenträger und der Arbeiter an und in der Leichengrube sowie der später an den Verbrennungsrosten tätigen Häftlinge bestand, hat er den von den Haupttätern befohlenen und organisierten Mord gefördert.

Wären die Leichen nicht schnell von den Gaskammern zu den Gruben und später zu den Verbrennungsrosten gebracht und dort verbrannt worden, so wäre eine erneute Füllung der Kammern nicht in der vorgesehenen kurzen Zeit möglich gewesen und die Massenvernichtung wäre ins Stocken geraten.

Dem Angeklagten H. waren auch alle Tatumstände genau bekannt, und er wusste auch, dass die Vernichtungsaktion von der obersten Staatsführung zur Erreichung rassepolitischer Ziele, also aus niedrigen Beweggründen, angeordnet worden war.
Da er sich trotz Kenntnis aller dieser Umstände im oberen Lager betätigte, handelte er vorsätzlich.

Weil er die Judenvernichtung für ungesetzlich hielt, hatte er auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens. Sein Verhalten wird schließlich durch keinen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt.

Da er die ihm erteilten Befehle für rechtswidrig hielt, wird er auch nicht nach 47 Absatz 1 des Militärstrafgesetzbuches entschuldigt.
Schließlich kann man ihm ebenso wenig wie den anderen Angeklagten einen unter die 54, 52 StGB fallenden Befehlsnotstand beziehungsweise Befehlsnötigungsnotstand zubilligen, da für einen SS-Mann, der in Treblinka die sich auf die Massentötung beziehenden Befehle verweigert oder sich ihnen auf irgendeine Weise zu entziehen versucht hätte, objektiv keine Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder eines seiner Angehörigen bestand, was im vorhergehenden Abschnitt 2.D. des Dritten Teiles der Grnde ausführlich geschildert worden ist.

Dagegen kann sich der Angeklagte H. als einziger der zehn Angeklagten mit Erfolg auf einen Putativnotstand
beziehungsweise Putativnötigungsnotstand berufen.

Er lässt sich nämlich wie folgt ein:
Er habe befürchtet, in ein Konzentrationslager gebracht zu werden, wenn er die ihm in Treblinka erteilten Befehle nicht ausgeführt hätte. Insbesondere habe er Angst vor dem Inspekteur Christian Wirth gehabt, der mehrfach davon gesprochen habe, er werde jeden, der die Aufgabe des Führers nicht erfülle, in ein Konzentrationslager bringen. Da er seinen Kameraden offen gesagt habe, er halte die Judenvernichtung für Mord, und da er bei ihnen kein Echo gefunden, sondern nur Ablehnung erfahren habe, sei seine seelische Verfassung immer schlechter geworden.
Er habe sich schließlich vor seinen eigenen Kameraden und insbesondere vor seinen unmittelbaren Vorgesetzten gefürchtet. Im Falle einer offenen Befehlsverweigerung wäre seine ablehnende Haltung gegenüber der Judenvernichtung sicherlich zur Sprache gekommen und hätte dann seine Position verschlechtert. Deshalb habe er nach anderen Wegen gesucht, um von Treblinka wegzukommen. Er habe nicht nur Wirth, sondern auch den SA-Standartenführer Blankenburg um seine Ablösung aus Treblinka und um seine Versetzung zu einer Fronttruppe gebeten. Wirth und Blankenburg hätten seine Bitten mit barschen Worten abgelehnt. Schließlich habe er gemeinsam mit seinem Freund Eisold erwogen, zu desertieren oder von einem Urlaub einfach nicht zurückzukehren.
Solange die Aktion noch in vollem Gange gewesen sei, habe er sich jedoch hierzu wegen des damit verbundenen großen Risikos nicht entschließen können.

Während des Aufstandes am 2.August 1943 sei er in Urlaub gewesen. Als er wieder nach Treblinka zurückgekehrt sei, habe er bemerkt, dass seine Aussichten zur Desertion infolge des Aufstandes gestiegen seien.
Da ihm noch ein Resturlaub zugestanden habe, habe er sich bereits Mitte September 1943 erneut beurlauben lassen.
In Arnsdorf habe er sich dann dazu entschlossen, eine Krankheit vorzutäuschen und nicht mehr nach Treblinka zurückzukehren. Er habe zur Dienststelle T4 nach Berlin geschrieben, er sei an Wolhynischem Fieber erkrankt, obwohl das in Wirklichkeit nicht der Fall gewesen sei. Da er gar nicht krank gewesen sei, habe er auch kein Lazarett aufgesucht, sondern sich zunächst bei seiner Frau in Arnsdorf aufgehalten. Um bei der Polizei in Arnsdorf keinen Argwohn zu wecken, sei er nach einigen Wochen zu seiner Mutter nach Obergrauschwitz gefahren und habe sich erst kurz vor Weihnachten bei der Dienststelle T4 gemeldet, die inzwischen von Berlin nach Schönfliess bei Königsberg in der Neumark verlegt worden sei. Wegen der Verlegung der Dienststelle sei dort vieles drunter und drüber gegangen, so dass man seinen Angaben über seine angebliche Erkrankung nicht näher nachgegangen sei und sie auch nicht überprüft habe.
Auf diese Weise sei es ihm, wenn auch recht spät, gelungen, dem Bannkreis des Lagers Treblinka zu entkommen.

Für die Richtigkeit eines großen Teiles dieser Einlassung des Angeklagten spricht sein Gesamtverhalten in Treblinka, und zwar sowohl sein anständiges Betragen gegenüber den jüdischen Häftlingen wie auch sein Auftreten gegenüber den anderen deutschen SS-Männern, denen er offen erklärt hat, es handele sich bei der Judenvernichtung um Mord.

Allerdings lassen sich seine Angaben darüber, dass er eine nicht vorhandene Krankheit vorgetäuscht habe und dass er mehrere Monate dem Lager Treblinka ferngeblieben sei, nicht überprüfen, da es hierzu keine sicheren Beweismittel gibt.
Andererseits lässt sich seine Einlassung zu diesem Punkt mit Rücksicht auf sein sonstiges Verhalten auch nicht widerlegen.

Das Schwurgericht muss deshalb zu seinen Gunsten davon ausgehen, dass er in Treblinka nur widerwillig sowie aus Angst um seine Freiheit und sein Leben mitgemacht hat und dass er laufend überlegt hat, wie er seiner Tätigkeit im Lager ein Ende setzen könne, bis er dann im September 1943 die Möglichkeit gesehen hat, unter Vortäuschung einer Krankheit mehrere Monate von Treblinka fernzubleiben.
Bei verständiger Würdigung aller dieser Umstände, die sich aus der nicht zu widerlegenden Einlassung des Angeklagten H. ergeben, spricht sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass lediglich die objektiv unbegründete Angst des Angeklagten H. vor einer schweren Bestrafung durch Wirth, also eine von ihm irrig angenommene Zwangslage der Beweggrund dafür gewesen ist, dass er in Treblinka bis Mitte September 1943 Befehlsgemäß mitgemacht hat.

In einem solchen Fall, in dem die vermeintliche Zwangslage das Motiv für eine Tat oder Beihilfehandlung bildet, ist die Annahme eines Schuldausschließenden Putativnotstandes oder Putativnötigungsnotstandes gerechtfertigt (vergleiche dazu die Urteile des Bundesgerichtshofes vom 22.Januar 1963 - 1 StR 457/62 -, Seite 4 f., und vom 2.Oktober 1963 - 2 StR 269/63 -, Seite 14 sowie Schnke-Schröder, 12.Auflage, Anmerkung 16 zu 52 StGB und Anmerkung 17 zu 54 StGB). Das hat hier zur Folge, dass H. mangels Verschuldens freizusprechen ist.

Allerdings kann dieser Freispruch H's nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern nur mangels Beweises erfolgen, da die Schuldausschließenden Tatumstände durch die Hauptverhandlung nicht eindeutig bewiesen sind.