Erster Teil C. III.

Die Zahl der Opfer im Vernichtungslager Treblinka

Im Vernichtungslager Treblinka wurden mindestens 700000 Personen, überwiegend Juden, aber auch in geringerem Umfange Zigeuner, getötet.

Diese Feststellungen beruhen auf dem Gutachten, das Dr. Kraus., der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, vor dem Schwurgericht erstattet hat.
Der Sachverständige hat bei seinem Gutachten alle für ihn in deutschen und ausländischen Archiven erreichbaren und in der historischen Wissenschaft üblichen Hilfsmittel benutzt, darunter den sogenannten Stroop-Bericht (einen aus drei Teilen, und zwar Einleitung, Sammlung von Tagesmeldungen und Fotosammlung bestehenden Bericht des SS-Brigadeführers Dieter Stroop über die Vernichtung des Warschauer Ghettos), die Protokolle des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und die nach dem Kriege unvollständig vorgefundenen amtlichen Eisenbahnunterlagen (Fahrpläne, Telegramme und Wagenzettel) über die Transporte nach Treblinka, die Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sind und die das Schwurgericht dem Sachverständigen zur Verfügung gestellt hat.

Der Sachverständige Dr. Kraus. hat unter anderem folgendes ausgeführt:
Nach dem Stroop-Bericht seien in der Zeit vom 22.07.1942 bis zum 03.10.1942 rund 310000 und in der Zeit von Januar bis Mitte Mai 1943 rund 19000 Juden aus dem Warschauer Ghetto in Güterzügen nach Treblinka gebracht worden.

Weitere Transporte mit Juden seien gleichfalls in Güterzügen aus verschiedenen anderen polnischen Städten, darunter aus
Kielce
Miedzyrzec
Lukow,
Wlosczowa
Sedziszow
Czenstochau
Szydlowiec
Lochow
Kozienice
Bialystok
Tomaschow
Grodno
Radom
in der Zeit vom 21.08.1942 bis 23.08.1943 im Vernichtungslager Treblinka angekommen.

Außerdem seien Juden, die in der Nähe von Treblinka wohnten und auch Zigeuner, unter diesen auch solche aus nichtpolnischen Ländern, mit Pferdewagen und Lastkraftwagen in Treblinka eingetroffen.
Schließlich seien Juden aus Deutschland und aus anderen europäischen Ländern, darunter aus Österreich, aus der Tschechoslowakei, aus Bulgarien, aus Jugoslawien und aus Griechenland, diese überwiegend in Personenzügen, nach Treblinka transportiert worden.

Eine genaue Anzahl der auf diese Art und Weise nach Treblinka geschafften Personen lasse sich freilich nicht bestimmen, da insbesondere hinsichtlich der Bahntransporte nur noch ein Teil der Bahnunterlagen greifbar sei.
Trotzdem könne man die Zahl der mit Güter- und Personenzügen nach Treblinka gebrachten Personen unter Außerachtlassung der rund 329000 Warschauer Juden auf rund 271000 schätzen, wenn man pro Zug von einer durchschnittlichen Waggonzahl von 60 und von einer durchschnittlichen Belegung eines Güterwaggons mit 100 und eines Personenwagens mit 50 Menschen ausgehe, so dass ein Güterzug etwa 6000 und ein Personenzug etwa 3000 Juden nach Treblinka befördert habe.
Da diese Zahlen aber in Wirklichkeit häufig viel höher gelegen hatten und da außerdem Tausende von Juden und auch Zigeunern mit Pferdefuhrwerken und Lastkraftwagen nach Treblinka gekommen seien, habe die Gesamtzahl der aus Warschau, aus dem übrigen Polen, aus Deutschland und anderen Europäischen Ländern nach Treblinka gebrachten Juden einschließlich von mindestens 1000 Zigeunern beträchtlich über 700000 gelegen, selbst wenn man berücksichtige, dass einige Tausend Menschen von Treblinka wieder nach anderen Lagern gekommen seien und dass einigen hundert Häftlingen die Flucht aus dem Lager, insbesondere beim Aufstand am 2.August 1943, gelungen sei. Aus allen diesen Gründen sei es wissenschaftlich zu vertreten, die Zahl der in Treblinka getöteten Personen auf mindestens 700000 Personen zu schätzen.

Das Schwurgericht hat keine Bedenken, dem wegen seiner Forschungen zur nationalsozialistischen Judenverfolgung wissenschaftlich bekannten Sachverständigen zu folgen, da sein Gutachten ausführlich, gründlich und damit überzeugend ist.
Das gilt umso mehr, als mehrere Angeklagte, darunter der mit einem besonders guten Gedächtnis begabte Angeklagte Suchomel, die Zahl der Opfer selbst mit weit über 500000 beziffern.

In welchen Größenordnungen in Treblinka gearbeitet wurde, ergibt zudem eine bezeichnende Schilderung des Angeklagten Suchomel über die Öffnung einer Leichengrube. Wie er glaubhaft angibt, befand er sich Anfang 1943 einmal im oberen Lager, als dort gerade eine der riesigen Leichengruben geöffnet wurde, weil die Leichen nunmehr verbrannt werden sollten. Bei dieser Gelegenheit, so führt Suchomel aus, habe ihm sein Kamerad Pützinger, der stellvertretende Chef des Totenlagers, erklärt, dass diese eine Leichengrube allein etwa 80000 Tote enthalte.

Da es mehrere Leichengruben gab und da die Vernichtungsaktion Anfang 1943 noch keineswegs beendet war, kann man in dieser Schilderung Suchomels nur eine Bestätigung des Gutachtens sehen, das eine Mindestzahl von 700000 getöteten Personen annimmt.
Wenn der Sachverständige die durchschnittliche Belegungszahl der mit Güterzügen eingetroffenen Juden mit 100 annimmt, so ist diese Zahl eher viel zu niedrig als zu hoch gewählt, denn zahlreiche jüdische Zeugen haben dem Schwurgericht glaubhaft erklärt, dass die Waggons, in denen sie nach Treblinka gebracht wurden, mit weit mehr als 100 Personen gefüllt gewesen sind.

Bei einigen Güterzügen, bei denen die im Verhältnis zu deutschen und polnischen Waggons größeren französischen Güterwaggons eingesetzt wurden, betrug die Belegungszahl pro Waggon nach den Bekundungen mehrerer glaubwürdiger jüdischer Zeugen sogar rund 200 Personen.
Das hat schließlich auch der als Zeuge vernommene Amtsrat der polnischen Eisenbahn Zab. glaubhaft bestätigt, der von 1941 bis 1945 Fahrdienstleiter im Bahnhof Treblinka gewesen ist. Er erinnert sich deutlich daran, dass die meisten Transportzüge 60 Güterwaggons umfassten, dass darunter auch französische Waggons waren, dass auf den Waggons mit Kreide die jeweilige Zahl der Insassen aufgeschrieben war und dass diese Zahlen zwischen 120 bis 200 schwankten.

Nach alledem bestehen keine Zweifel an der Richtigkeit des vom Sachverständigen Dr. Kraus. über die Zahl der Opfer in Treblinka erstatteten Gutachtens.