Transport 07.08.1943 Alsterdorfer Anstalten

Eichberg

Transportliste

Am 07. August 1943 erscheinen am frühesten Morgen Busse der Gekrat auf dem Anstaltsgelände. Es werden 76 Personen davon 28 Kinder abtransportiert und in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg deportiert.

Pastor Lensch begleitete den für den Kalmenhof bestimmten Transport ein Stück weit bis zum Güterbahnhof Ochsenzoll, wo die Verladung stattfand. Am 9. September 1943 schreibt Pastor Lensch an Pastor von Bodelschwingh einen Brief, in dem er den Abtransport als Vorsorgemaßnahme darstellt. Durch den Abtransport habe vermieden werden sollen, daß bei einem späteren Schadensfall möglicherweise Transportmittel nicht zur Verfügung gestanden hätten. Die wohl auch von ihm erwartete Gegenfrage, warum er die Pfleglinge nicht in eine der befreundeten Anstalten geschickt habe, beantwortete er damit, daß das Telefon nicht gegangen sei. Wörtlich heißt es: Gern hätten wir unsere befreundeten Anstalten um Aufnahme gebeten, doch ist eine telefonische Verständigung bis heute unmöglich geblieben.
Eine andere Stelle des Briefes verrät in erschütternder Weise, wie Pastor Lensch versuchte, das Ungeheuerliche seines Vorgehens herunterzuspielen und sich mit christlichen Vokabeln von aller Schuld freizuwaschen: Bei dem Abtransport, den ich eine Strecke begleitete, sang ein kleines Dummerchen hinter mir während der halbstündigen Fahrt ununterbrochen Jesu geh voran. Das hat mich sehr getröstet und die Hoffnung gegeben, daß sie auch anderswo nicht von Gottes Liebe verlassen sind, möchte sie nur auch von uns Zurückgebliebenen nicht weichen. Es macht doch in aller Not und Gefahr dieser Zeit auch Freude, wenn man erleben darf, nicht vergeblich gearbeitet zu haben und in der vorbildlichen Bewährung aller lieben Mitarbeiter und Schwestern auch durch Tat bewiesen worden ist, daß nach dem alten Sengelmannschen Vermächtnis die Liebe Christi treibt uns mächtiger ist, als alle Sorgen um irdisches Gut.

Während der Transporte müssen sich erschreckende Szenen abgespielt haben. Vom Transport in die Tötungsanstalten
Kalmenhof und Eichberg existiert ein schriftlicher Bericht vom 11. August 1943 der von Pastor Lensch als Transportbegleiter eingeteilten Alsterdorfer Mitarbeiter. Der Sonderzug mit allen für den Kalmenhof und den Eichberg bestimmten Pfleglingen der Langenhorner und der Alsterdorfer Anstalten fuhr zunächst bis Limburg. Zum Begleitpersonal gehörten auch zwei Schwestern, ein Pfleger und ein Hilfsjunge der Alsterdorfer Anstalten. Zu erheblichen Unruhen unter den Pfleglingen kam es in der Nacht zum 8. August, in der die Wagen, die für die Anstalt Kalmenhof bestimmt waren, abgehängt wurden. Die Aufregung steigerte sich noch, als die beiden Alsterdorfer Schwestern aufgefordert wurden, den Transport zu verlassen und sofort nach Hamburg zurückzukehren. Diese weigerten sich jedoch und wurden für den weiteren Transport vom Transportleiter der Gekrat zur Beruhigung auch der Langenhorner Pfleglinge eingeteilt. Im Bericht des transportbegleitenden Personals heißt es weiter: Bald nach der Abfahrt stieg ein Pflegling aus dem Zug und lief auf dem Trittbrett mit dem Ruf Sieg heil unserem Führer schreiend hin und her. Der Zug wurde angehalten und der Pflegling durch den Hilfsjungen und durch den Angestellten W. wieder in den Wagen zurückgebracht. Dort begann nun eine allgemeine Prügelei. Der Hilfsjunge fesselte die Langenhorner Pfleglinge mit Pflegegurten, die für die Alsterdorfer Pfleglinge mitgenommen worden waren. Noch ein weiteres Mal mußte der Zug angehalten werden, als ein Pflegling vom fahrenden Zug abgesprungen war. Er wurde wieder eingefangen. Um 9.00 Uhr morgens kam der Zug auf der Bahnstation Hattenheim an. Dort wiederholten sich die Fluchtversuche. Die Pfleglinge wurden dieses Mal vom Personal der Anstalt Eichberg eingefangen.

Genaue Unterlagen über das Schicksal der aus Alsterdorf abtransportierten Bewohner fehlen oft. Viele Akten sind heute nicht mehr auffindbar. Lediglich die ärztlichen Akten der in Hadamar ermordeten Bewohner aus Alsterdorf sind aufgefunden worden. Aufgrund des Studiums der jeweiligen standesamtlichen Todeslisten und der wenigen aufgefundenen Akten kommt die Anklageschrift gegen Pastor Lensch und Dr. Struve zu folgenden erschütternden Ergebnissen:

Die Krankenakten der in Hadamar ermordeten Alsterdorfer sind, wie erwähnt, aufgefunden worden. Sie enthalten Eintragungen wie die folgenden:

28.10.1943 erkrankte an Darmgrippe mit Fieber, Herzschwäche. 29.10.1943 erholte sich nicht mehr, heute Exitus an Darmgrippe.
28.10.1943 erkrankt an Darmkatarrh.
29.10.1943 erholte sich nicht mehr, Exitus an Darmkatarrh.
26.10.1943 rapider Verfall, Herzschwäche.
27.10.1943 Exitus an Marasmus.
16.10.1943 lag für dauernd zu Bett, erkrankte an Grippe, erholte sich nicht mehr. Heute Exitus an Grippe.
26.10.1943 ganz abgebaut, unrein, rapider Verfall, Herzschwäche.
27.10.1943 erholte sich nicht mehr, heute Exitus an Marasmus.

Von den 28 Kindern, die am 08. August 1943 von den Alsterdorfer Anstalten auf dem Eichberg eintrafen, überlebten nur zwei den 15.10.1943.
Dabei handelt es sich um einen damals 21 Jahre alten Pflegling, der mit den anderen erwachsenen Alsterdorfer Patienten zusammen in Hadamar den Tod fand, und ein 14jähriges Mädchen, daß erst am 22.06.1944 auf dem Eichberg getötet wurde. Die Tötungen erfolgten entweder durch eine Injektion von 5 oder 10 ccm Morphium-Skopolamin oder durch in Zuckerwasser gelöste Überdosen von Schlaf- und Betäubungsmitteln, u.a. Luminal. Für den Tötungsvorgang wurde auf der sogenannten Kinderfachabteilung ein Tötungszimmer benutzt. Die Gehirne der getöteten Kinder wurden einer Forschungsabteilung der Psychiatrisch-Neurologischen-Klinik Heidelberg übersandt. Hierzu wurden meist die Köpfe der Kinder vom Leib getrennt und in eigens hierfür hergestellten Kisten vom Eichberg nach Heidelberg übersandt.
Von den 47 erwachsenen Alsterdorfer Patienten wurden in der Zeit vom 26. August 1943 bis zum 30. September 1943 sieben, sowie am 20. Januar 1944 ein achter Patient durch Injektion überdosierter Medikamente getötet. Zwei Patienten überlebten das Kriegsende. 37 erwachsene Patienten wurden am 12. 13. und 14. Oktober vom Eichberg weiterverlegt, zwei davon nach Herborn, 11 davon nach Weilmünster und 24 nach Hadamar. Alle nach Hadamar Verlegten fanden den Tod. Da nach dem offiziellen Stop der Tötungsaktion in Hadamar keine Tötungen mehr durch Vergasung stattfanden, fanden alle Alsterdorfer Patienten hier den Tod durch medikamentöse Überdosen. Meist bekamen die Opfer für die Nacht eine Überdosis von Luminal-Tabletten. Führte diese Menge Gift noch nicht zum Tod, so erhielt das meist schlafende Opfer am anderen Morgen eine Injektion mit Morphium-Skopolamin. Der ärztliche Leiter der Anstalt, Dr. Wahlmann, nahm dann am nächsten Morgen eine Leichenschau vor und bescheinigte den Tod unter Angabe falscher Ursachen und auch häufig falscher Sterbezeiten.


Landesheilanstalten nach 1945
Meldebögen
Nahrungsentzug
Parteiideologen und Bürokraten
Aufarbeitung nach 1945


Ursula Bohmann

Ein unruhiges Kind und seine besorgten Eltern

Ursula Bohmann wurde als jüngere von zwei Schwestern am 27. Dezember 1935 in eine Harburger Arbeiterfamilie hineingeboren.

Ihr Vater arbeitete bei den Harburger Eisen- und Bronzewerken (heute Harburg-Freudenberger Maschinenbau GmbH) in der Seevestraße 1. Er galt als Gelegenheitstrinker und wurde von den Behörden als asozial eingestuft. Zwei seiner Schwestern wurden in den Akten als ehemalige Dirnen bezeichnet, eine weitere sollte wegen Schwachsinns zwangssterilisiert werden und einem Bruder war die Heiratserlaubnis aus demselben Grund verweigert worden. Ursulas Mutter galt dagegen als ordentliche, rechtschaffene Frau.
Ursula litt seit ihrem sechsten Lebensmonat unter epileptischen Anfällen. Im Alter von zwei Jahren konnte sie zwar laufen, aber immer noch nicht sprechen. Vor allem aber war sie ein sehr unruhiges Kind, das viel Aufmerksamkeit verlangte. Das veranlasste die Eltern, beim Fürsorgeamt um Hilfe zu bitten.
Eine Harburger Fürsorgerin, die daraufhin die Familie besuchte, vermerkte anschließend.… Durch ihre unaufhörliche Bewegungsunruhe ist Ursula eine große Belastung für die Angehörigen, der die Eltern auf Dauer nicht gewachsen sind. … Die Eltern bitten um ärztliche Untersuchung und um evtl. Unterbringung in Alsterdorf.

Ursula Bohmann ein dringender Bewahrfall
Dieser Bitte kam das Jugendamt schon drei Tage später nach. In seiner Diagnose stellte der leitende Oberarzt für Psychiatrie und Neurologie fest, dass es sich bei Ursula Bohmmann um ein leicht mongolid stigmatisiertes Kind mit hochgradiger Bewegungsunruhe handelt … Aufnahme in eine Pflegeanstalt - Alsterdorf - ist daher unbedingt nötig, und zwar möglichst sofort.
Am 16. November 1939 wurde Ursula Bohmann in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Auf Drängen der Mutter, die sich darüber beklagte, dass ihre Tochter die ganze Zeit angeschnallt im Bett verbringen müsse, wurde sie vorübergehend wieder entlassen, aber zwei Jahre später nach einer erneuten Untersuchung als dringender Bewahrfall abermals in die Alsterdorfer Anstalten eingewiesen.

Endstation Eichberg
Im August 1943 nahm Pastor Friedrich Lensch, der Leiter der Alsterdorfer Anstalten, die schweren Bombenangriffe auf Hamburg zum Anlass, um 469 Patientinnen und Patienten seines Hauses in andere Einrichtungen verlegen zu lassen. Unter den 76 Männern und Kindern, die am 07. August 1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg im Rheingau deportiert wurden, befand sich auch Ursula Bohmann.
Die Alsterdorfer Patienten kamen, zusammengepfercht in einem Güterwagen, am 08. August 1943 in Hattenheim an und wurden dort wie Vieh auf LKWs verladen und zur Heil- und Pflegeanstalt Eichberg gebracht, die eng mit dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten verwoben war. Auch nach dem offiziellen Stopp dieser Tötungsaktion im August 1941 wurden in der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg jedoch weiterhin kranke Menschen ermordet. Die Patientinnen und Patienten starben an Hunger, an unterlassener ärztlicher Hilfeleistung oder an Injektionen von Morphium oder anderen Schlaf- und
Betäubungsmitteln auf Anordnung des leitenden Arztes.

Von den 28 Alsterdorfer Kindern waren 27 darunter auch Ursula Bohmann nach zwei Monaten nicht mehr am Leben. Sie starb am 23.09.1943.